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Interview

Ulrich Schreiber über ein Literaturfestival zwischen Corona-Planung und Cancel Culture

Ulrich Schreiber hat die Internationale Peter Weiss-Gesellschaft gegründet und in Berlin auch schon Thomas-Bernhard-Tage organisiert, aber das alles ist nichts gegen das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb). Schreiber hat es 2001 gegründet, Direktor ist er noch immer.

Vom 9. bis 19. September dreht sich in Berlin also alles um Bücher und (nicht nur literarische) Debatten. tipBerlin-Redakteur Erik Heier hat bei Ulrich Schreiber nachgefragt, wie Planung in Corona-Zeiten funktioniert, was Kunstfreiheit bedeutet – und wie der Festivaldirektor zur „Cancel Culture“ steht.

Ulrich Schreiber hat immer an die Durchführung des 20. ilb geglaubt. Foto: privat
Ulrich Schreiber hat immer an die Durchführung des 20. ilb geglaubt. Foto: privat

tipBerlin Herr Schreiber, Glückwunsch zum 20. ilb! Die Planung für die Jubiläumsauflage war in dieser Corona-Zeit sicher nicht einfach.

Ulrich Schreiber Gefühlt sind es eineinhalb Festivals, die wir geplant haben. Ein halbes Festival wurde wieder verworfen. Und auch in den nächsten Tagen wird es noch spannend (pustet durch). Gerade hat eine Autorin aus Norwegen abgesagt, vor paar Tagen Colum McCann. 

tipBerlin Es sei ein „kleines Wunder“, schreiben Sie im Programmheft, dass das ilb stattfindet. Wann haben Sie an das Wunder geglaubt?

Ulrich Schreiber Immer! Aber es ist heavy – immerhin hatten wir ja 19 Jahre Autor*innen aus aller Welt hier zu Gast. Zudem wird das Haus der Berliner Festspiele – auch 2021 – renoviert. Dieses Jahr gehen wir in den Kammermusiksaal und ins Silent Green Kulturquartier. Selbst in der Corona-Hochphase im April/Mai habe ich an die Durchführung des Festivals geglaubt. Aber dass zum Beispiel jetzt in Spanien tatsächlich eine zweite Welle hochfährt, das hätte ich nicht gedacht.

tipBerlin Das ehemalige Krematorium in Wedding war letztes Jahr schon ein Austragungsort.

Ulrich Schreiber Atmosphärisch ist der Ort einfach fantastisch! Es gibt dort zwei Hauptbühnen mit 400 und 250 Plätzen. Die Anzahl konnten wir wegen der Pandemie gleich mal vierteln.

tipBerlin Erstmals gibt es digitale Formate. Haben Sie sich angesehen, wie sich das Poesiefestival im Frühjahr komplett ins Netz verlegt hat?

Ulrich Schreiber Ja. Aber auch andere Auftritte im Netz wie die vom Hay-Festival in Wales und dem Festival in Jaipur. Sie zeigen – wie wir – Livestreams, Zuschaltungen und vorgefertigte Videos. Bei uns spricht zum Beispiel Joyce Carol Oates mit Robert Hass. US-West- und Ostküste treffen sich also auf unserem Kanal. Joe Sacco ist auch im Programm ilbDIGITAL. Ich vermute, diese Formate werden Bestand haben.

Ein Höhepunkt ist das „Plädoyer für Kunst und Kultur“ am 10. September mit Nora Bossong, Daniel Kehlmann, Pankaj Mishra, Sharon Dodua Otoo, Olga Tokarczuk und Mario Vargas Llosa im Kammermusiksaal.

Wir rennen in Deutschland damit offene Türen ein – gerade in Berlin. Aber in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern ist Kunst und Kultur ein fünftes Rad am Wagen. Auch in Deutschland und gerade in dieser Krise kann man ihre Wichtigkeit nicht oft genug betonen. 

tipBerlin Daniel Kehlmann gehört zu den 150 internationalen Unterzeichnern eines offenen Briefes gegen die so genannte „Cancel Culture“, der im Juli für einigen Wirbel sorgte. Ich weiß, der Begriff ist umstritten. Aber was denken Sie über die Debatte, die sich daran entzündet hat?

„Es geht darum, den moralischen Alleinvertretungsansprüchen entgegenzutreten“

Ulrich Schreiber Ich habe vor zehn Jahren Thilo Sarrazin zum ilb eingeladen. Damals war sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ noch nicht erschienen. Die Diskussion sollte im Haus der Kulturen der Welt stattfinden und musste in die Urania verlegt werden. Niall Ferguson hat über die Engstirnigkeit der linksliberalen amerikanischen Universitäten in „Zeit“ und „FAZ“ geschrieben.

Ich habe einen breiteren Begriff von dem politischen Raum, in dem wir diskutieren müssten, als einige meiner Kolleg*innen, denke ich. Es geht darum, der grassierenden Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, den Ausgrenzungsversuchen und moralischen Alleinvertretungsansprüchen entgegenzutreten. Den Aufruf von Salman Rushdie, Margaret Atwood oder auch Daniel Kehlmann unterstütze ich vollumfänglich.

tipBerlin Abgesehen von der Ausladung Lisa Eckharts neulich in Hamburg beim Harbour Front Festival: Ist das  Phänomen in Deutschland tatsächlich ein Thema?

Ulrich Schreiber Ja, ganz konkret: Vor zwei Jahren hatten wir die Veranstaltung „Decolonizing Wor:l:ds“ gestartet, die wir weiterführen. Einige Leute aus der postkolonialen Szene hatten Probleme damit, dass ich Hermann Parzinger und dann „strafverschärfend“ mit ihm noch einen „weißen Moderator“ als letzten Termin dafür  einlud. Ich wurde tatsächlich gefragt, wie ich dazu käme, Parzinger ausgerechnet ans Ende der Veranstaltungsreihe zu setzen.

Völlig absurd. Er konnte nur an diesem Tag! Immerhin repräsentiert er die Museen in Berlin und es ging mir darum, dass er nach der langen Diskussion um Restitution nun darstellt, wie die Berliner Museen und das Humboldt Forum damit in Zukunft umgehen.

Die „Cancel Culture“ ist ein ziemlich virulentes Thema – gerade auch im linken und grünen Spektrum. Ich denke, dass wir uns damit beim nächsten ilb genauer beschäftigen werden.

tipBerlin Als Festivalchef freuen Sie sich über alle 150 Gäste, klar. Auf welche aber freuen Sie sich besonders?

Ulrich Schreiber Auf den 84-jährigen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa natürlich, der schon 2005 und 2007 zu Gast des ilb war, auf Olga Tokarczuk, ebenso bereits Gast 2001 und 2010, auf Kamel Daoud, der ja in der Stadt wohnt, in der Albert Camus „Die Pest“ angesiedelt hat, auf den Pianisten Malakoff Kowalski, der bei der Eröffnung am Flügel spielen wird, und auf Pankaj Mishra.


Internationales Literaturfestival Berlin (ilb)

  • Silent Green (zentraler Festivalort) Gerichtstr. 35, Wedding, Mi 9.9.–Sa 19.9., Infos, Programm und Tickets: www.literaturfestival.com

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