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Schriftstellerin Ulrike Draesner: „Ich existiere nur wegen Hitler“

Ulrike Draesner erzählt in ihrem neuen Roman „Die Verwandelten“ grandios von Krieg, Flucht und Vertreibung. Wir sprachen mit der in Berlin lebenden Schriftstellerin über Frauen, Körper, Krieg, Schweigen, bayerische Diaspora, Hitler, europäisches Erzählen und ein Land voller Schatten.

Ulrike Draesner lebt in Berlin und lehrt in Leipzig. Foto: Dominik Butzmann

Ulrike Draesners „Die Verwandelten“: Roman über Krieg, Flucht und Vertreibung

tipBerlin Frau Draesner, Ihr neuer Roman „Die Verwandelten“ ist Ihr dritter Roman über Krieg, Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Es begann 2014 mit dem von Ihrer eigenen Familiengeschichte geprägten Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. 2019 kam der Roman „Schwitters“ hinzu. Schließen Sie mit dem neuen Buch jetzt dieses große Thema ab?

Ulrike Draesner Ich weiß es nicht. Es ist ein Lebensthema. Meine Vaterfamilie ist nach dem Krieg aus Polen geflüchtet. Ich weiß, was gemeint ist, wenn man von intergenerationellem Gedächtnis spricht, weil ich von Kindheit an  Ängste und Albträume hatte, die etwas Fremdes und gleichzeitig Eigenes waren. So einem Thema entwächst man nicht.

tipBerlin Im neuen Roman verschränken Sie grandios Mutter-Töchter-Schicksale, die sich von 1900 aus über das ganze 20. Jahrhundert durchziehen. Er beginnt mit der alleinerziehenden, in Berlin lebenden Anwältin Kinga Schücking, wie Sie selbst in den 1960er-Jahren in München geboren, die nach dem Tod ihrer Mutter Ali erfährt, dass diese einen Familienzweig im polnischen Wrocław hatte und als Alicja in einem bayerischen Lebensborn-Heim der SS geboren wurde. Unversehens bekommt Kinga eine polnische Halbschwester aus Hamburg, deren Mutter Walla auch ein Nachkriegsgeheimnis hütet.

Ulrike Draesner Kinga hat ein Adoptivkind aus einem nichteuropäischen Land und erfährt mit einem Mal von diesem polnischen Familienteil. Zuerst erschrickt sie. Aber mit der Zeit wird ihr klar, wie großartig das ist: Sie erhält für ihr Kind eine europäische Verwandtschaft.

Ulrike Draesner über Narrative der Vertreibung: „Kein nur deutsches Thema“

tipBerlin In der BRD wurde der Exodus der Deutschen aus Schlesien durch die Vertriebenenverbände als Narrativ geprägt.

Ulrike Draesner Für mich war immer deutlich: Es ist kein nur deutsches Thema. Mir geht es in keiner Weise darum, einen Opferstatus der Deutschen zu befestigen. Diese Bücher spielen in Mittelosteuropa, einem gemeinsamen Kulturraum, der durch den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg zerschlagen wurde.  Da ist so viel Potenzial für Nachbarschaftlichkeit, die nicht gelebt wird. Ich erzähle eine polnisch-ukrainisch-deutsche Parallelgeschichte. Es sind Mischungsgeschichten von Identitäten. Ein europäisches Erzählen.

tipBerlin Sie wurden 1962 in München geboren, ein „Nebelkind“ wie Kinga, mit Eltern und Großeltern, die vieles beschwiegen. Wie muss ich mir dieses Gefühl vorstellen?

Ulrike Draesner Man wächst abgeschnitten von der Vergangenheit auf, mit einer Herkunft, die viel zu kurz ist. Es gibt keine Tiefenlinien, keine Verwurzelung. Ein diffuses Wattegefühl begleitete meine Kindheit und Jugend. Es fehlten Menschen, Dinge, Landschaften, Sicherheit – schwer zu Benennendes. Meine Großeltern und Eltern setzten an, etwas zu erzählen, verstummten, hatten keine Sprache dafür. Vielleicht schämten sie sich auch.

tipBerlin Was war Ihr prägendstes Kindheitsgefühl?

Ulrike Draesner Dass ich nirgendwo reinpasste. Aufgrund der schlesischen Herkunft meines Vaters waren meine Schwester und ich protestantisch getauft, sprich: in der Diaspora.

tipBerlin Schlimme Vorstellung in Bayern.

Ulrike Draesner Wir wurden auf der Straße von  den katholischen Kinder gejagt. Meine Schwester und ich hatten aber auch irrationale Ängste bei den regelmäßigen Sirenenproben in den 70ern. Mir war klar: Das hatte mit der Flucht meiner Vaterfamilie zu tun. Mein Onkel, unter großen Anstrengungen vor dem Euthanisiezugriff der Nazis gerettet, kam bei einem Bombenangriff ums Leben. Darüber wurde nie deutlich gesprochen, dennoch war es präsent.

Ulrike Draesner: „Deutschland war voller Schatten“

tipBerlin Wann verstanden Sie diese Traumata?

Ulrike Draesner Irgendwann, ich war etwa 15, da wurden mir zwei Dinge klar. Zum einen, dass meine Großeltern väterlicherseits  immer dachten, dass mein Vater die falsche Frau geheiratet hatte. Ohne Flucht hätte er meine Mutter nie kennengelernt. Das hieß aber auch: Meine Schwester und  waren die Enkelinnen, die es ohne den Heimatverlust gar nicht gegeben hätte. Wir waren falsch.

tipBerlin Und was wurde Ihnen dabei noch klar?

Ulrike Draesner Ich verdanke meine Existenz Hitler! Diese Erkenntnis hat mich sehr  erschreckt. Auch wenn es kausal zu knapp gedacht ist. Ich glaube, damals begriff ich, wie sehr der Zweite Weltkrieg auch meine Gegenwart prägte.  So viele Menschen fehlten in unserer Gesellschaft. So viele waren nie geboren worden. Deutschland war voller Schatten.

tipBerlin Wie Sie ja auch im Roman resümieren: „Das nachhängend Gewaltsame der Gewalt war, dass sie nicht erlaubte, Geschichten zu Ende zu erzählen.“

Ulrike Draesner Das ist eine der Erkenntnisse aus meiner langen Beschäftigung mit dem Thema und den dazugehörigen Recherchen.

„Dann erzählten die Frauen in Polen mir ihre Körpergeschichte“

tipBerlin In Ihrem Roman von 2014 verarbeiteten Sie die Flucht Ihrer Familie väterlicherseits aus Männersicht. War in „Siebe Sprünge“ implizit das Gegenstück im neuen Roman, die Frauenperspektive, angelegt?

Ulrike Draesner 2012 habe ich in Polen recherchiert. Es war gelungen, Zeitzeuginnen zu finden, die als nicht mehr so junge Kinder von der Sowjetunion aus der Ukraine zwangsweise nach Westpolen, ehemals Schlesien, umgesiedelt wurden. Da gab es stets einen Punkt bei den Gesprächen, an dem  die Männer rausgeschickt wurden. Dann erzählten die Frauen mir ihre Körpergeschichte. Teilweise wussten sogar ihre Kinder nichts davon. In „Sieben Sprünge” hatte das aber noch keinen Platz.

tipBerlin Aber dann wurden Sie bei einer Lesung in Hamburg von einer Frau angesprochen.

Ulrike Draesner Halina Simon schenkte mir ihre Familiengeschichte aus Breslau/Wrocław. Ich fuhr dann  mit ihr 2015 noch einmal nach Polen. Durch ihre Familie haben sich mir ganz andere Räume eröffnet.

Im Buch heißt es: „Was ist das Unsichtbarste an einer Frau? Ihre Kraft“

tipBerlin Das Erlebte bleibt im Körper gespeichert, egal, wie sehr man es beschweigt. In einer eindrücklichen Passage schreiben Sie über Vergewaltigungen durch Rotarmisten.

Ulrike Draesner Eines der Probleme beim Erzählen von Gewalt ist, diese Gewalt nicht zu reproduzieren. In den „Verwandelten“ gibt es keine direkt geartete Darstellung von gewaltsamen Übergriffen. Man sieht nur die Folgen. Die Ringe auf dem Wasser, nachdem ein Stein hineingeworfen wurde. Über die Zeit hin breiten die Wellen sich aus, in andere Figuren hinein, in die Kinder.

tipBerlin Die Vergangenheit ist nie vorbei?

Ulrike Draesner Die Frage, die mich bei diesem Großunternehmen begleitet hat: Was zeigt mir die Vergangenheit, was erscheint in ihrem Spiegel? Vergangenheit ist nichts „Festes“. Ihre Bedeutung hängt davon ab, welche Fragen wir ihr stellen und wen wir sprechen lassen. Ihr Spiegel zeigt mir, wer ich sein möchte, wer ich sein kann, wie ich verstehen kann, was  Verletzung und Heilung bedeuten. Gerade die Recherche zu „Die Verwandelten” hat mich mit Erkenntnissen belohnt, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

tipBerlin Welche Erkenntnis war die wichtigste?

Ulrike Draesner Im Buch heißt es: „Was ist das Unsichtbarste an einer Frau? Ihre Kraft.“ Keine meiner Figuren ist nur gut oder böse. Sie sind Töchter und Mütter, sie lieben sich und haben Schwierigkeiten miteinander. Jede muss einen eigenen Weg zu einem Neuanfang finden. Es war ein großes Abenteuer, diesen Weg der Verwandlungen mit ihnen zu gehen.

  • Die Verwandelten  von Ulrike Draesner, Penguin Verlag, 608 S., 26 €
  • Buchpremiere Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Wannsee, Do 9.2., 19.30 Uhr

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