Mit 1?342 Gramm bringt dieses Potpourri aus Jugendstimmen zwar nur das halbe Gewicht eines gesunden Babys auf die Waage, aber ein gutes Kilo mehr als Kants „Kritik der Urteilskraft“ in der stw-Ausgabe. Auch inhaltlich wiegt die gründlich recherchierte Textcollage schwer: Sie bietet erstmals einen Querschnitt jugendlicher Befindlichkeit von 1900 bis heute – und zwar in den Worten der, wenn man so will, Betroffenen.
Zutage gefördert hat sie der Historiker, Journalist und Buchautor Fred Grimm („Shopping hilft die Welt verbessern“). Jedem der neun zeitlich gegliederten Kapitel hat der 47-Jährige einen persönlich gehaltenen Essay vorangestellt. Darin steckt er die Rahmenbedingungen ab, in denen die vielstimmigen Zitate fielen – von Dienstmädchen im wilhelminischen Reich über die „Halbstarken“ der 50er bis zur Handy-Jugend von heute. Von Poppern, Punkern und Pazifisten. Von Zwangsmitgliedern des BDM, der HJ und FDJ.
Grimm, dem kein Brief oder Tagebuch zu privat, kein Flugblatt zu vergilbt war, hat in den entlegensten Stollen der Archive geschürft: ein gewaltiges Materialgebirge von Tausenden bedruckten Seiten. Dabei entdeckte er markante Sätze wie die aus dem Leserbrief von J. L. vom 2. Oktober 1956 an die „Bremer Nachrichten“: „Warum droht ihr immer gleich mit der Polizei und den Gefängnissen und wollt neue Gesetze gegen uns schaffen? Warum kommt ihr nicht einmal zu uns und sprecht mit uns?“
Im Gegensatz zu der berühmten Shell Jugendstudie, die empirische Erhebungen in Auftrag gibt – die Ergebnisse der 16. Auflage werden übrigens Mitte September in Berlin vorgestellt – kommen hier diejenigen zu Wort, die sich aus eigenem Antrieb geäußert haben. Die Zitate aus Briefen, Tagebüchern, Dokumenten und Blogs bindet Grimm in die demografischen und politischen Entwicklungen sowie die kulturellen und religiösen Strömungen der jeweiligen Zeit ein. Er erfasst dabei die ganze Spanne des Alltags: Mode und Musik, Arbeit und Freizeit, Fabriken und Universitäten, Stadt und Land.
So ist ein einmaliges, in verständlicher Sprache gehaltenes Geschichtsbuch entstanden, das weniger für Historiker bestimmt ist als vielmehr für diejenigen, von denen es berichtet: deutsche Jugendliche in den vergangenen elf Jahrzehnten, zugeschnitten auf die Jugend von heute.
Text: Reinhard Helling
(tip-Bewertung: Herausragend)
Fred Grimm: „Wir wollen eine andere Welt. Jugend in Deutschland 1900-2010“ , Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, 446 Seiten, 29,80 Ђ
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