Politik

„Deutsche Wohnen & Co enteignen“ greift wieder an

Die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ lässt ein Enteignungsgesetz schreiben, weil der Senat die Arbeit nicht macht. Läuft alles nach Plan, kommt 2026 die wirtschaftspolitische Zeitenwende.

Protestaktion vor dem Roten Rathaus. Foto: Deutsche Wohnen & Co enteignen

Die Häuser denen, die drin wohnen

Sieglinde Wagner und Karla Hildebrandt ziehen in den Kampf gegen einen übermächtigen Gegner: die Immobilienlobby. Bewaffnet sind sie mit einem frisch befüllten Klebefilmspender und einem Stapel bedrucktem Papier. Das Mehrgenerationen-Duo – Wagner ist 73, Hildebrandt 29 Jahre alt – geht von Geschäft zu Geschäft, um Plakate zu verteilen. Auf den DIN-A3-großen Drucken steht in lila Lettern auf gelbem Grund: „Mit einem Gesetzesvolksentscheid endlich zur Umsetzung! Deutsche Wohnen & Co enteignen“. 

Die Initiative, der Wagner und Hildebrandt angehören, bricht ein Tabu der aktuellen Wirtschaftsordnung. Sie stellt die Eigentumsfrage. Ganz klar und direkt. Sie will Berliner Bestände von marktführenden Wohnungskonzernen in Gemeineigentum überführen. 

2021 sah es so aus, als könnte sie sogar Erfolg haben. 59,1 Prozent der Wähler:innen stimmten beim Volksentscheid für ihr Anliegen, mehr als für die drei Parteien der parallel gewählten rot-grün-roten Landesregierung. Die setzte daraufhin eine Expertenkommission ein, die im Juni mit zwölf von 13 Stimmen bestätigte: Die Enteignung per Gesetz ist innerhalb bestimmter Grenzen machbar, wenn ein öffentliches Interesse besteht. Die Gegenstimme sagt, dafür müsse man erst die Landesverfassung ändern. In den zwölf Monaten, in denen die Kommission arbeitete, stiegen die Angebotsmieten in Berlin um 20 Prozent.

Und jetzt?

Wie geht es weiter mit Deutsche Wohnen & Co enteignen?

Der seit April amtierende schwarz-rote Senat will ein Enteignungsrahmengesetz erarbeiten, „um den rechtlichen Spielraum auszuleuchten“, so Finanzsenator Stefan Evers, CDU. „Verschleppungstaktik“, sagt Hildebrandt. „Was für eine Arroganz der Macht“, fügt Wagner hinzu.

Die beiden Aktivistinnen tragen über ihren Jacken lila Warnwesten mit gelber Aufschrift. Die in Berlin inzwischen ikonische Farbkombination wird künftig wieder öfter zu sehen sein. Deutsche Wohnen & Co enteignen rollt die zweite Kampagne aus. Die Initiative will Fachanwält:innen ein Enteignungsgesetz schreiben lassen und das dann den Berliner:innen zur Abstimmung vorlegen. Die sofortige Wirksamkeit könnte im Erfolgsfall nur das Bundesverfassungsgericht, aber keine Regierung, aufhalten.

Wagner und Hildebrandt gehen im Nieselregen über den Bürgersteig der Kreuzberger Oranienstraße. Heißes Pflaster der Gentrifizierung. Hoher Verwertungsdruck, aber auch viele Initiativen, die sich wehren.

Karla Hildebrandt und Sieglinde Wagner wollen mit Ihrer Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ nicht weniger als eine Revolution. Foto: Makar Artemev

Die Alt-Aktivistin Wagner – sie war mit den 68ern auf einigen wilden Berliner Demos und hat das Bonner Rathaus mitbesetzt – lebt bei einem Privatvermieter. Sie sagt: „Ich habe keinen persönlichen Konflikt mit den großen Immobilienkonzernen, aber ich habe einen mit diesen Eigentumsverhältnissen, mit der Privatisierung.“ Bis vor zweieinhalb Jahren, ins Alter von 71, hat sie als Ärztin gearbeitet, dann sich in die Arbeit für die Initiative gestürzt.

Karla Hildebrandt, beruflich in einer Umwelt-NGO tätig, mietet seit neuestem bei einer Aktiengesellschaft. Sie sagt: „Wir haben mal als Freundeskreis in der Nachbarschaft gewohnt und gerade sind wir froh, wenn wir überhaupt in Berlin bleiben können. Wir verlieren die Stadt, in der wir erwachsen geworden sind.“

„Da wird die Nachbarschaft zerstört“

In der Oranienstraße 32 residiert der Buchladen Kisch&Co. Hinter einem Schreibtisch, der als Tresen dient, sitzt Ulla Biermann. Die beiden Aktivistinnen zeigen ihr das Plakat, das sie aufhängen wollen. Biermann sagt: „Ja, das finde ich gut. Das ist eine super Idee. Was mit den Mieten passiert, ist keine schöne Entwicklung. Da wird die Nachbarschaft zerstört.“

Die Aktivistinnen fragen, wo das Plakat hinsoll. „An die Tür“, antwortet Biermann. Hildebrandt hält das Poster fest, Wagner zückt den Tesafilm und klebt. Derweil erzählt Biermann von ihrer Wohnsituation: „Alle drei Jahre wird die Miete um 15 Prozent erhöht, das sind über 50 Prozent Mietsteigerung in zehn Jahren. Die Mietpreisbremse ist doch ein Witz.“ 

Die Bremsleistung der Mietpreisbremse ist mäßig, der Mietendeckel vor Gericht verpufft, das Vorkaufsrecht ebendort vom schärfsten Schwert der Mietenpolitik zum Plastiklöffel degradiert. Der wenige Neubau geht laut der Expertenkommission vor allem ins hochpreisige Segment. So richtig viel Licht ist für Berliner Mieter:innen gerade nicht zu sehen. 

Karla Hildebrandt plakatiert das Anliegen von Deutsche Wohnen & Co enteignen. Foto: Makar Artemev

Die Privatisierung großer Wohnungsbestände in den 90er- und 00er-Jahren hat die Immobilien-Investoren in die Stadt gelockt, die Finanzkrise ab 2007 ließ den Markt freidrehen. Seitdem sortiert er Berliner:innen nach Einkommen entlang der Fliehkraftachse der Gentrifizierung um die Stadtmitte. Der Kapitalismus hat bei der Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums versagt.

Es scheint fast, als wäre die letzte Hoffnung auf eine Stadt, die auch Menschen ohne Vermögen ein Zuhause sein kann, die mietenpolitische Atombombe. Der Systemwechsel im Wohnungsbereich. Weg vom finanzmarktgetriebenen Turbokapitalismus hin zur kommunalen Selbstverwaltung in Rätestruktur. Sozialismus auf sachpolitischem Niveau.

Artikel 15 des Grundgesetzes macht es möglich. Bisher nie angewandt, lauert in ihm ein mächtiges Potenzial. Er erlaubt Enteignungen gegen recht frei festlegbaren finanziellen Ausgleich. Eine Revolution. Die Gründerväter der Bundesrepublik haben damit das Land als systemoffene Plattform angelegt, die man kapitalistisch, aber auch sozialistisch bespielen kann. Wirtschaftspolitisch neutral.

100.000 Euro für Anwält:innen

Nach einem weiteren Ausflug in den Nieselregen betreten Wagner und Hildebrandt O-Ton-Keramik am Oranienplatz, schräg gegenüber von Kisch&Co. Betreiberin Claudia Schöpping töpfert im rückwärtigen Teil des Ladens zwischen Regalen voller Schalen und Tassen und begrüßt Wagner, eine alte Bekannte. Schöpping, Hausbesetzerin der 80er-Jahre, ist langjährige Unterstützerin der Enteignungs-Initiative. 

Sie sagt: „Die Immobilienspekulanten holen raus, was rauszuholen ist. Was für Preise für Eigentumswohnungen hinter diesen Fassaden aufgerufen werden, ist absurd. Wenn ich aufhöre, wird der Laden für das vierfache oder sechsfache vermietet. Ich will nicht so eine Stadt des Kapitals. Ich würde gerne anders miteinander sein.“

Wagner erklärt Schöpping ihr Plakat: „Wir machen jetzt einen Gesetzesvolksentscheid und dazu brauchen wir Geld für juristische Expertise.“ Schöpping: „Da darf man nicht sparen, das muss wasserfest sein.“ Wagner: „Ja, das wird gründlich überprüft.“

Um das Gesetz so sauber wie möglich zu formulieren, bespricht sich die Initiative mit Teilnehmer:innen der Enteignungskommission und will zudem eine Anwaltskanzlei einschalten. Um die zu finanzieren, lief gerade eine Crowdfundingaktion. Über 100.000 Euro haben die Aktivist:innen gesammelt.

Wem gehört die Stadt?

Ein Problem bei der Ausgestaltung des Gesetzentwurfs hat der Bericht der staatlichen Enteignungskommission aufgeworfen: Die betroffenen Firmen und Grundstücke müssen durch das Gesetz abschließend bestimmt sein, es darf keinen Ermessensspielraum geben.

Angedacht ist, alle Eigentümer mit über 3.000 Wohnungen zu enteignen – mit Ausnahme von Genossenschaften, landeseigenen und gemeinnützigen Unternehmen. Möglich ist laut Kommission auch eine Enteignung aller finanzmarktbasierten Unternehmen. Aber welche gehören da jeweils dazu?

Mit Hilfe des Berliner Grundbuchs sei leicht feststellbar, welche Unternehmen mit ihren Tochterunternehmen welche – und wie viele – Wohnhäuser besitzen, sagt Christoph Trautvetter, Betreiber der Plattform „Wem gehört die Stadt“. Doch die Grundbuch-Daten der immobilienbesitzenden Unternehmen durften bisher weder Enteignungs-Initiative noch -Kommission einsehen. Geschäftsgeheimnis und Datenschutz stünden davor, hieß es aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. „Ich würde sagen, die Chance ist 50 Prozent, dass es noch unbekannte Player gibt“, sagt Trautvetter. Er plant, die firmenbezogenen Grundbucheinträge freizuklagen.

Redebeitrag auf einer Enteignungs-Demo. Foto: Deutsche Wohnen & Co enteignen

Der Weg der Aktivist:innen ist noch lang. Erst kommt die Arbeit am Gesetz. Danach sind zwei Unterschriftenkampagnen notwendig für die Zulassung von Volksbegehren und Volksentscheid, dazwischen drohen Verzögerungen durch Politik und Gerichte. Etwa 2026 soll die Abstimmung stattfinden.

Als Entschädigung soll der mit sozialverträglicher Miete erwirtschaftete Gewinn über 40 Jahre an die Enteigneten abgeführt werden, so die aktuell favorisierte Option. Bewirtschaftet würden die Berliner Wohnungen von einer Anstalt öffentlichen Rechts. Sie wird getragen von einer Struktur aus Haus- und Gebietsräten. Radikale Basisdemokratie soll ins Wohnungswesen einziehen. 

Die Keramikerin und Ex-Hausbesetzerin Schöpping sagt: „Ich habe in den 80ern gesehen, was passiert, wenn Menschen ihren Wohnraum selbst verantworten. Das ist eine Wahnsinnsaufgabe. Aber da werden Mieten gezahlt, die nur dazu da sind, das Haus zu erhalten. Es geht nicht um Renditen.“

Die Wohnungen der „Gemeinwohl Wohnen“ genannten Anstalt sollen hauptsächlich an Menschen vergeben werden, die bereits in Berlin leben und Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein haben. Verteilt wird im Losverfahren – so wie aktuell auch bei den öffentlichen Berliner Wohnungsgesellschaften.

Das sagt die Politik dazu

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen unter Senator Christian Gaebler,  SPD,  antwortet auf tipBerlin-Anfrage, dass sie im Fall eines Siegs der Initiative langjährige Gerichtsverfahren erwartet. Die daraus entstehende Unsicherheit wäre nicht förderlich für Investitionen privater Unternehmen in Bestand und Neubau. Und die Auswirkung einer Enteignung auf die Mieten in Berlin sei begrenzt. 

Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung von Januar dieses Jahres kommt zu dem Schluss, dass die Mieten der über 200.000 potenziell von einer Enteignung betroffenen Wohnungen um 16 Prozent sinken würden, wenn man dort Mieten wie im öffentlichen Sektor verlangen würde. 

„Die für eine Entspannung des Wohnungsmarkts notwendige schnelle Steigerung der Anzahl bezahlbarer Wohnungen wird durch eine Vergesellschaftung nicht unterstützt, sondern eher gefährdet“, so die Stadtentwicklungsverwaltung weiter. Auch Berlins Finanzsenator Stefan Evers, CDU, will Artikel 15 auf keinen Fall einsetzen. „Für die Enteignung großer Wohnungsbestände sehe ich angesichts der ohnehin schwierigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen aus haushaltspolitischer Sicht keine Spielräume. Aus volkswirtschaftlicher Sicht hätten Massen-Enteignungen absehbar fatale Wirkungen“, schreibt er tipBerlin.

Die Chance zur Enteignung

Entscheiden wird den Einsatz des Artikels 15 im Fall des Falles das Volk. Und das zeigt sich angetan von der Bande in Lila-Gelb. Die Bewegung greift auf ein breites, etabliertes Netzwerk aus Aktivist:innen zurück. Mit 14 Kiezteams und neun Arbeitsgruppen, Chor und Protest-Cheerleader:innen, alljährlichem Laternenumzug, reisenden Referent:innen. Die Aktivist:innen haben in der Zeit des Wartens seit 2021 andere Initiativen und Gruppen unterstützt und bekommen bei ihrer Kampagne sicher einigen Support zurück.

Grüne und Linke stehen in der Opposition ziemlich geschlossen hinter Deutsche Wohnen & Co enteignen. „Wir sind mit der Initiative in Kontakt und werden versuchen, durch Zuarbeit einen Beitrag zu leisten, dass möglichst bald ein gesetzeskonformer Gesetzesentwurf fertig ist“, sagt Katrin Schmidberger, mietenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Wenn die Unterschriftensammlung beginnt, will sie sich auch selbst mit auf die Straße stellen. „Die Initiative hat ein unglaubliches Mobilisierungspotential. Die Leute wollen raus aus der Ohnmacht“, sagt sie.

Auch bei Schöpping dürfen die Aktivistinnen – natürlich – ihr Poster aufhängen. Die Betreiber:innen zweier weiterer Geschäfte aus der Straße lassen sich zwar das Plakat an den Laden kleben, und haben auch einiges an der Entwicklung auf dem Immobilienmarkt auszusetzen, aber wollen nicht dazu zitiert werden. Sie fürchten um ihre Mietverträge beim größten der in Berlin agierenden Konzerne.


Mehr zum Thema

Wem gehört die Stadt? Hier findet ihr eine aktuelle Liste der Konzerne und ein Interview mit Christoph Trautvetter, der diese recherchiert hat. Enorme Sprengkraft: Ein Kommentar zum Ausgang des Enteignen-Volksentscheids. Hausboot, Kommune, Wagenburg: Hier ist die Geschichte der alternativen Lebensformen in Berlin. Mehr über Politik in Berlin findet ihr hier.

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