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Künstler Joseph Marr über Zucker fürs Berghain und die Suche nach Identität

Jede Woche sehen Hunderte Techno-Fans im Berghain seine Kunst. Joseph Marr arbeitet in Neukölln unter anderem mit einem gleichermaßen alltäglichen wie besonderen Material: Zucker. Wir haben mit ihm über das Werk gesprochen, sein neues Projekt „Identity“ – und über den Grund dafür, dass er immer wieder die Kunstform wechselt.

Kunst im Berghain: Die Installation „Together“ handelt von Lust und Liebe und schmückt die Klo-Bar im legendären Techno-Club. Foto: Ulf Saupe

Berghain fragte Marr nach Installation für die „Klo-Bar“

Es war 2013, als die Berghain-Chefs Joseph Marr beauftragten, eine Skulptur für die „Klo-Bar“ zu gestalten – so wird der Bereich zwischen Tanzfläche und Toiletten gern genannt. Marr, der aus Australien nach Berlin gekommen war, sagte sofort zu. Er kannte den Club schon lange, bevor dieser zur überregionalen Legende wurde. „Ich bin 2006 das erste Mal ins Berghain gegangen und bin seitdem ein Fan; es ist ein besonderer Ort.“ Das Gefühl von Freiheit sehr hier sehr stark und allgegenwärtig.

 Joseph Marr bei der Ausstellung „Sticky Business“ in den Niederlanden. Foto: Screenshot/Marr

Entsprechend besonders sollte auch das Kunstwerk werden. Marr hatte sich schon zuvor mit Zucker als Stoff für die Umsetzung seiner Ideen beschäftigt. So entstand fürs Berghain die Installation „Together“, für das der 43-Jährige neun Männer im Berghain auf dem Boden drapierte, sie ineinandergreifen und -rutschen ließ – alles Stammgäste oder Mitarbeitende. In dieser Position mussten sie verharren, bis ein 3D-Scanner sie erfasst hatte, um Positive zu fertigen, in deren Negativen der flüssige Zucker dann wiederum aushärtete. Neun Meter misst die fertige Installation, die eine Reise von Lust zu Liebe darstellen soll – konserviert mit mehreren Schichten Polyurethan und übrigens in der Geschmacksrichtung „Ahoj-Brause Cola“.

Zucker als Material im Berghain logisch!?

Dabei hatte Marr in seiner Heimat Australien vorrangig gemalt, bis es ihn 2005 nach Spanien verschlug, wo er eine Deutsche kennenlernte, die ihn wiederum nach Berlin führte. „Ich habe in Sidney für zehn Jahre Vollzeit als DJ gearbeitet, aber nach meinem Umzug nach Berlin musste ich mich entscheiden zwischen Kunst und DJing – der Wettbewerb in beiden Feldern ist wie bei der Champions League.“ Halbe Sachen bringen nichts. Er entschied sich für die Kunst. Und erweiterte sein Arbeitsfeld um neue Materialien – die Marr auch immer als Metaphern begreift. Zucker etwa sei sehr verbreitet, „jeder hat Erfahrung damit, allein dadurch hat man einen Zugang zu einem Kunstwerk, man fühlt sich automatisch verbunden“.

Neun Männer wurden für „Together“ im Berghain mit dem 3D-Scanner vermessen, dann zu Zuckerfiguren wurden. Foto: Yusuf Etiman

Gestählte, blanke Körper, stakkatoartige Bewegungen, stundenlang auf der oft extrem dunklen Tanzfläche im Takt der harten Basslines – in dieser harten Atmosphäre wirkt Zucker fast deplatziert, vielleicht aber auch genau richtig. Dekadent, ungesund, auch in seiner gehärteten Form bleibt er köstlich, es lässt sich viel ableiten.

2020 hatten erstmals jene die Chance, „Together“ zu sehen, die sonst nicht ins Berghain kommen oder wollen. In der Corona-Schließzeit wurde der Club umfunktioniert zum „Studio.Berlin“ in Kooperation mit der Boros Collection, die Tresenkunst ließ sich genau wie Werke weiterer Top-Künstler:innen einfach mit Ticket betrachten, anstatt dem erlesenen Kreis der Berghain-Gemeinde vorenthalten zu sein. Dauerhaft ausgestellte Kunstwerke von Namen wie Wolfgang Tillmans und Norbert Bisky wurden mit temporären Werken ergänzt, inzwischen ist wieder Normalbetrieb.

Aktuelle Ausstellungen: Wenn Gäste plötzlich lecken wollen

Deutlich zugänglicher zeigten sich spätere Ausstellungen und Arbeiten, etwa 2017 in den Niederlanden im Stedelijk Museum Schiedam bei der Ausstellung „Sticky Business“ und 2020 in Madrid in der Galerie Kreisler. Dort begannen die Besucher:innen, die Skulptur aus Zucker abzulecken, ein ungewöhnliches, aber gebilligtes Verhalten. „Das war zu Beginn der Pandemie, eventuell hätten die Menschen da auch etwas vorsichtiger sein sollen, aber letztlich war es auch eine spannende Erfahrung.“

Sticky Business in den Niederlanden: Ausnahmsweise ist Ablecken der Kunst hier erlaubt gewesen. Foto: Screenshot/Marr

Noch immer spielt Marr auch gedanklich mit einem Plan, bei dem ihm der Abriss der Griessmühle zuvorkam: Bei „Cocktail D’amore“ hätte Marr auf einer Fläche von 25 mal 15 Metern auf das Dach des Wintergartens projiziert. Es hätte gewirkt, als würde die Hitze im Innern den Zucker zum schmelzen bringen und langsam an den Wänden und Fenstern hinablaufen lassen – eine klebrige, sinnliche Masse, die gut zur bekanntermaßen sexpositiven Reihe gepasst hätte.

Identitäten: Was unterscheidet den Erwachsenen vom Kind

Marrs Werk beschäftigt sich im Allgemeinen mit Bewusstseinsfallen, derzeit hat sich der Schwerpunkt von der Sehnsucht auf die Identität verlagert. Marr malt mehr, während er gleichzeitig seine neuen Projekte vorantreibt, eine Reihe von Arbeiten, in denen er Menschen in Videoform porträtiert. „Kunst ist geheimnisvoll, sie ist wie eine Motte, die ins Feuer fliegt. Wenn man eine gute Idee hat, muss man ihr folgen.“

Joseph Marr bei der Arbeit mit geschmolzenen Zucker. Foto: Pascal Hoffmann

Die Identity-Serie entstand aus einer Vision, die er bei einem Spaziergang entlang des Neuköllner Teils des Landwehrkanals hatte. Plötzlich sah er vor seinem inneren Auge ein beunruhigendes, völlig ausgefülltes Selbstporträt, das ihn jahrelang zum Nachdenken brachte: Er sah sich selbst als rote, harztransparente Skulptur, teils als Kind, teils als Erwachsener.

Für ihn war diese Vision eine Variante der Frage, was ihn neben den erwachsenen Bedürfnissen und Wünschen eigentlich von dem Kind unterscheidet, das er einmal war, welche Sorgen und Ängste, aber auch Motivationen er hatte. „Ich sah plötzlich verschiedene Elemente von mir als eins. Das war sehr wertvoll für mich, weil es ein neuer Kontext war, in dem ich in eine Person hineinsehen konnte. Es war ein echter Augenöffner für die Identity-Serie mit dem Titel ‚I am therefore I think‘, die zu meinem Hauptwerk geworden ist.“

Arbeiten aus der Serie Identity. Fotos: Marr

Gleichzeitig kämpfte er weiter mit seiner Identität. „Wir wachen morgens auf und sind auf Automatik geschaltet, wir denken überhaupt nicht über unsere Rolle nach, wir werden von einem Gedanken zum nächsten getragen, ohne Luft zu holen. In dem Moment, in dem wir uns unserer selbst bewusst werden, sind wir frei. Gleichzeitig schrecken viele davor zurück. Identität ist etwas sehr Zerbrechliches“, sagt er. „Wenn wir uns so akzeptieren, wie wir sind, nicht zulassen, sondern akzeptieren, können wir wunderschöne Orte erreichen.“

Über die Identität sprechen: Die Realitäten eines Menschen

Für seine Serie arbeitet er mit Schauspielern, Künstlern, Sammlern und DJs zusammen, um über Erfahrungen zu berichten, über besondere Erlebnisse, bei denen sie das Gefühl hatten, sich selbst anders oder auf eine neue Art und Weise zu sehen oder zu verstehen. „Wenn man genug von sich preisgibt, öffnet sich auch der andere.“ In der Vergangenheit habe er sich gegen die Idee gesträubt, mit jemandem zusammenzuarbeiten, aber in letzter Zeit hätten ihm Kollaborationen gezeigt, dass es kein Verzicht, sondern eine Bereicherung sein kann, den künstlerischen Prozess manchmal um eine zweite Meinung zu erweitern.

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Diese Identity-Arbeiten sind eine fortlaufende Serie, die darauf abzielt, möglichst viele verschiedene Arten von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Altersgruppen, Geschlechtern und Wirtschaftssystemen zu porträtieren, mit dem letztendlichen Ziel, unsere Gemeinsamkeiten auf einer tieferen Ebene zu zeigen. Kürzlich hat Marr mit der Schauspielerin Rose Byrne und Tom Wlaschiha zusammengearbeitet, und bald plant er eine Zusammenarbeit mit dem Berghain-DJ Boris, womit sich der Kreis zu seiner Arbeit im Club schließt.

Erst kürzlich hat Marr zudem „Core“ auf den Markt gebracht, eine Mischung aus digitaler und physischer Kunst: NFT, Skulpturen und Bilder gehören zusammen und erzählen die Geschichte von Meteoriten, die auf das Tempelhofer Feld gefallen sind. Die Arbeit basiert auf einem Nachrichtenbericht, den der 43-Jährige gelesen hatte: Ein internationales Nasa-Team hatte in einem Meteoriten Zucker gefunden, der für die Entstehung von Leben essentiell ist und somit ein Puzzlestück für den Ursprung allen Lebens sein könnte.

Einer der Core-NFT vomn Joseph Marr, die Collection findet sich bei OpenSea.

Das passt gut zu „Together“: Einige Berghain-Fans behaupten, in ebenjenem Club zum ersten Mal die ganze Bandbreite des Lebens gespürt zu haben – oder das gesamte Universum auf einmal verstanden zu haben. Obwohl es sein könnte, dass sie etwas Ungewöhnlicheres als Marrs Zucker im Club probiert haben.


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