• Kultur
  • Warum die Leipziger Straße Berlins neue Kunstmeile ist

Kunst und Stadt

Warum die Leipziger Straße Berlins neue Kunstmeile ist

Weitgehend unbeachtet, obwohl im Herzen Berlins, entwickelt sich die Leipziger Straße zu einem Boulevard der Kunst. Offen ist, ob das junge Glück Zukunft hat. Denn auch die Stadtentwicklung ist mit im Spiel.

Leipziger Straße in Berlin. Dass die von Hochhäusern und Autos geprägte Meile ein Ort für Kunst geworden ist, haben nur wenige im Blick. Foto: Jana Vollmer

Leipziger Straße: Der zweite Blick lohnt sich

Wer aufmerksam die Leipziger Straße entlang flaniert, wird zwischen Spittelmarkt und Charlottenstraße Einiges an Kunst entdecken. Nur, wer flaniert da schon? Mit ihren sechs Fahrspuren lädt die Ost-West-Achse im Zentrum der Stadt trotz ihrer ausladenden Bürgersteige kaum zum Spazieren ein. Die bis zu 25 Geschosse hoch in den Himmel ragenden Stahlbeton-Skelettbauten der DDR-Moderne locken trotz Denkmalschutz weniger Tourist:innen an als Schinkels Prachtbauten auf dem nahen Boulevard Unter den Linden. Cafés, Restaurants, Läden? Eher wenige.

Dafür Kunst. Denn der sogenannte Komplex Leipziger Straße zwischen Charlottenstraße und Spree hat sich zu einer Kunstmeile gewandelt. Zu Ankern wie der Julia Stoschek Foundation, der Galerie Thomas Schulte und dem Kunstverein Ost (KVOST) sind weitere Ausstellungsorte hinzugekommen, viel ist in Planung und viel bereits geschehen. Zum Europäischen Monat der Fotografie im März zeigten mehrere Fotoschulen Aufnahmen angehender Fotograf:innen im ehemaligen Vietnamesischen Handelszentrum Ecke Niederwallstraße. Und im Sommer 2022 stellte die Künstlerin Farkhondeh Shahroudi in der Grünanlage am Spittelmarkt einen Wohnwagen mit Volksküche auf. Wird die Leipziger Straße also der nächste place to be?

Scherben: Projektraum an der Leipziger Straße

Fangen wir bei der Galerie Sweetwater an. Im Erdgeschoss der Häuser Nummer 56–58 auf der Nordseite der Straße ist junge Konzeptkunst zu sehen, von Jesse Stecklow aus den USA und der Britin Rhea Dillon, deren Ausstellung zum Gallery Weekend Ende April eröffnet und bis Juni läuft. Lucas Casso ließ vor fünf Jahren seinen Job als Investmentbanker hinter sich, zog nach Berlin und gründete eine Galerie in einem Kreuzberger Altbau. Im April 2021 bezog der Anfang 30-Jährige den minimalistischen Raum mit Beton und meterhohen Decken im Komplex Leipziger Straße. Diese hatte er vorher nicht unbedingt auf dem Schirm, aber hier will er bleiben. Die Julia Stoschek Foundation zwei Häuser weiter, das Restaurant China-City gegenüber, das sei schon eine spezielle Mischung, sagt Casso.

Machen wir bei Scherben weiter, in der Nummer 61. Kein Schild, kein Schriftzug am Fenster. Nur wer etwas länger durch die Glasfront blickt, sieht gerahmte Zeichnungen an den Wänden und Lautsprecher auf dem Boden sowie einen jungen Mann mit schwarzem Käppi sitzend auf einem Stuhl: Lorenz Liebig, Anfang 30 und Künstler, hat den Projektraum Scherben mit seinem Freund Tarik Kentouche im Sommer 2021 eröffnet. Neben junger Kunst zeigen sie auch historische Positionen wie bis Ende April in einer Gruppenausstellung mit Arbeiten von Adrienne Herr und der 1974 verstorbenen belgischen Dichterin Sophie Podolski.

Leipziger Straße, das ist künstlerische Avantgarde im Wohnblock

Diese Straße sei ein besonderer Ort und sie wollten unbedingt hierher, sagt Liebig, „weil sich hier etwas sammelt, auch mit den anderen Kunstorten, und gleichzeitig wirkt es noch nicht festgeschrieben“. Leipziger Straße, das ist künstlerische Avantgarde im Wohnblock. Scherben teilen sich die Räume mit dem Architekturbüro „something fantastic“, das seine Arbeiten in internationalen Museen zeigt. Und diejenigen, die oben drüber wohnen, kommen die auch vorbei? Wenn alteingesessene Anwohner:innen reinschauen, entstehe immer ein Gespräch, sagt Liebig. Die Nachbarschaft mische sich, der Kontakt baut sich langsam auf. Im Zuge der Platten-Renaissance ist die Leipziger Straße bei Künstler:innen und Kreativen zu einer beliebten Wohnadresse geworden.

Schlechte und gute Nachrichten auf der Leipziger Straße

Liebig wünscht sich, dass Scherben bleiben darf. Denn die Zukunft ist ungewiss: Ihr Mietvertrag mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) läuft Ende des Jahres aus. Die BImA untersteht dem Bundesministerium für Finanzen und verwaltet Immobilien und Grundstücke des Bundes, zu denen die nördlich gelegenen Gebäude zwischen Charlottenstraße und Jerusalemer Straße gehören. Die Bundesanstalt will sie sanieren, doch wann und wie, darüber hält sie sich bedeckt, verlängert die Mietverträge nur von Jahr zu Jahr.

Man könnte glatt daran vorbeilaufen: Kunstraum Scherben. Foto: Jana Vollmer
Man könnte glatt daran vorbeilaufen: Kunstraum Scherben. Foto: Jana Vollmer

Zwei Häuser weiter gibt es bereits schlechte Nachrichten. Jonas Wendelin, der in der Nummer 63 den freien Kunstraum Fragile betreibt, hat wenige Stunden vor unserem Telefongespräch einen Brief von der BImA erhalten. Sein Mietvertrag endet im Dezember und wird nicht mehr verlängert. Der Ausstellungsraum und die Ateliers im ersten Geschoss werden Beamtenwohnungen weichen. Für Wendelin, Mitte 30, bedeutet das eine Zäsur: Der Künstler zog mit Kolleg:innen bereits 2012 ein.

Als Fragile 2018 eröffnete, mit einer Ausstellung der 2021 tödlich verunglückten Sängerin und Künstlerin Sophie, standen die Menschen bis auf die Straße. Seitdem ist hier die junge, hippe Kunstszene zusammengekommen. Jetzt stehen die vorerst letzten zwei Ausstellungen an. „Fragile muss trotzdem weitergehen. Aber diese Architektur hat auch sehr definiert, was wir gemacht haben und wir möchten in dieser Straße bleiben“, sagt Wendelin. Es sei schließlich ihr künstlerisches Zuhause.

Zuhause, ja! Das ist der Komplex Leipziger für rund 6.500 Menschen. Nicht wenige von ihnen leben hier seit Tag Eins, in einem der acht Hochhäuser auf der südlichen oder den langgezogenen Wohnscheiben auf der Nordseite, errichtet zwischen 1969 und 1982. Die Leipziger war ein Vorzeigeprojekt der DDR, an der Grenze zum Westen aus dem kriegszerpflügten Boden gestampft: die manifestierte Vision eines autogerechten Stadtzentrums, das urbanes Flair mit Wohnen, Delikatessen-Geschäften mit gemeinschaftlichen Fitnessräumen verband. Funktionär:innen und Diplomat:innen wohnten hier, viele Wohnungen sollen verwanzt gewesen sein.

Die Leipziger Straße hat das Potenzial für eine Flaniermeile. Foto: Jana Vollmer
Die Leipziger Straße hat das Potenzial für eine Flaniermeile. Foto: Jana Vollmer

Eine ganz andere Vision haben Hendrik Blaukat, Verena Unbehaun und Florian Geddert, das Trio gehört zum Vorstand der knapp 60 Mitglieder starken Interessengemeinschaft Leipziger Straße. Der rund 600 Meter lange Straßenabschnitt soll von einem langgezogenen Park mit Fahrradwegen dominiert, die Autospuren auf zwei eingedampft und die vom Senat geplante Straßenbahnlinie ohne ein zusätzliches Rangiergleis gebaut werden. Seit November hat die IG einen Begegnungsort, den Kieztreff in der Nummer 56–58, von dem aus sie die Lebensqualität in der Gegend heben wollen.

Und was hat Kunst damit zu tun? Verkehr ist in Berlin bekanntlich ein Thema, das spaltet, Kultur eines, das verbindet. Neben dem Park könne vor allem die Kunst Menschen zusammenbringen, denn darum ginge es letztendlich. Auch darum, „das Image der Straße aufzubauen, und das geht nur über Schönheit“, sagt Hendrik Blaukat. An Ideen mangelt es nicht. Die IG plant eine Open-Air-Galerie mit Leuchtkästen, in der sich Anwohner:innen mit Fotos von persönlichen Gegenständen und Texten vorstellen. Außerdem soll die Leipziger Straße 24/25 mit dem Projekt „Kunst im Stadtraum“ des Bezirks Mitte bespielt werden. Auch hier möchte die IG mitmischen. Und sie zählt zu den drei Gewinnenden des Wettbewerbs „Mittendrin Berlin!“, mit dem die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung verödete Berliner Viertel beleben will. 

Zwei Immobiliengiganten entscheiden die Zukunft der Leipziger Straße

Kunst als Motor einer Quartiersentwicklung. Nur abheben soll die Wohnmaschine nicht. Geddert spricht von einer gesteuerten Gentrifizierung, bloß keine Entwicklung zur überteuerten Touristenmeile. Vermeiden möchte man auch leerstehende Erdgeschossflächen während der Sanierungsmaßnahmen. Daher bemüht sich die IG für kulturelle Zwischennutzungen wie zuletzt mit der Pop-up-Ausstellungen in Nr. 55 während des Europäischen Monats der Fotografie. Ob temporäre oder langfristige Kulturorte, nichts geht ohne die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM), dem anderen großen Mitspieler bei den Immobilien. Der WBM gehören ein Großteil der Blocks Richtung Spittelmarkt und zwei Türme zur Charlottenstraße hin.

Kultur, gerne! Die WBM kann sich das gut vorstellen, lässt sie auf Anfrage von tipBerlin wissen: Im zweiten Halbjahr 2023 soll die Gesamtfläche der Häuser Nr. 54 bis 58 auf der nördlichen Seite zwischen Spittelmarkt und Jerusalemer Straße in einzelne Flächen aufgeteilt werden, um einen Nutzungsmix aus Büros, Geschäften und Kulturorten zu ermöglichen. Vor dem Gallery Weekend hat sich die WBM erneut kooperativ gezeigt: Am Eröffnungsabend führte Sanna Helena Berger in der Nummer 55 Performances auf.

Und wie sieht es bei der BImA aus? Die sieht sich in der Pflicht, kulturelle Begegnungen möglich zu machen, heißt es im Antwortschreiben. Sie sei momentan mit Künstlergruppen im Gespräch, weiteren Raum in der Leipziger Straße kurzfristig für eine geringe Miete zur Verfügung zu stellen. Auch bei zukünftigen Mietkonditionen für Interessent:innen aus Kultur und Kunst sei man bereit, entgegenzukommen. Oberste Priorität hat jedoch Wohnraum und daher wird voraussichtlich ab Frühjahr 2024 mit dem Umbau der Obergeschosse in Wohnungen begonnen. Dafür müssen die Erdgeschosse leergeräumt werden.

Medienkunst in der ehemaligen Tschechischen Botschaft

Direktor Robert Schule vor der Julia Stoschek Collection. Foto: Jana Vollmer
Direktor Robert Schulte vor der Julia Stoschek Collection. Foto: Jana Vollmer

Bis die Sanierungswelle die Medienkunst-Sammlung von Julia Stoschek in der Nr. 60 erwischt, wird es wohl etwas dauern, denn ihr Mietvertrag wurde für weitere fünf Jahre verlängert. „Das ist erstmal eine gute Nachricht. Wer weiß schon, was in fünf Jahren sein wird“, sagt Robert Schulte, Direktor der Julia Stoschek Foundation bei einem Rundgang durch die Räume. Hier werkeln gerade noch Bauarbeiter in Vorbereitung auf die kommende Ausstellung des französischen Tanzkunst-Kollektivs „La Horde“. Der Eröffnungsabend mit Performances am 26. April dürfte, wie immer, sehr voll werden. 

Nach 2016 haben die Düsseldorfer Sammlerin und ihr Team hier aus dem ehemaligen Tschechischen Kulturzentrum einen renommierten Ausstellungsort für Videokunst geschaffen. Zweifellos ist die Stiftung ein Leuchtturm auf der Straße, von dessen Strahlen die benachbarten Kunstorte profitieren, wie in den Gesprächen immer wieder deutlich wird. Man kennt sich, man besucht sich, man hilft sich. Für Schulte sind die freundschaftlichen Verbindung wichtig. Wenn Scherben und Fragile gehen müssten, sagt er, wäre das ein herber Verlust.

KVOST verbindet Gegenwart und Vergangenheit auf der Leipziger Straße

Stephan Koal, Direktor des KVOST, fördert junge Kunst aus Osteuropa und erinnert an Kunst aus der DDR. Foto: Jana Vollmer

Verbunden mit der Leipziger Straße wie kein anderer Ausstellungsort hier ist der Kunstverein Ost (KVOST), etwas abseits gelegen auf der gegenüberliegenden Seite im Haus Nummer 47 mit dem Eingang in der Jerusalemer Straße. Obwohl sich das „Ost“ im Namen auf Kunst aus Osteuropa bezieht, zeigt Mitbegründer und Leiter Stephan Koal jährlich eine Ausstellung, die auch die älteren Nachbar:innen ansprechen und deutsch-deutsche Geschichte reflektieren soll. „Wir möchten, dass die Leute aus der Umgebung vorbeischauen und mit uns sprechen. Und das funktioniert ganz gut“, sagt Koal.

Seit 2018 hat das Programm von KVOST mit jungen Künstler:innen aus Bulgarien, Estland und Rumänien an Relevanz gewonnen. Mit der Wiederentdeckung des Grafikers Jürgen Wittdorf und einer digitalen Tour zu architekturbezogener Kunst der DDR entlang der Leipziger Straße hat der Verein in Berlin entscheidend dazu beigetragen, dass Kunst aus der DDR ins Licht geholt wird. Mit der aktuelle Schau über die fünfköpfige Künstlergruppe Clara Mosch, die mit Aktionen im Wald 120 Stasi-Spitzel auf Trab hielt, trifft der Verein heutigen Zeitgeist.

Ob die Leipziger Straße eine Renaissance erleben und den Charakter einer besonderen, generationen- und schichtübergreifenden Wohngegend behalten wird, wie in jedem Gespräch erträumt? Das hängt von einer gelungenen Kommunikation aller Akteur:innen ab und die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Eins ist jedoch schon jetzt klar: Die Leipziger Straße ist einen aufmerksamen Streifzug wert.

  • Shahin Zarinbal Leipziger Str. 55 Mitte, bis 27.5.
  • Sweetwater Leipziger Str. 56–58, Di–Sa 11–18 Uhr, bis 10.6.
  • Scherben Leipziger Str. 61, Mitte, Fr–So 16–18 Uhr
  • KVOSt Leipziger Str. 47, Mitte, Mi–So 14–18 Uhr, bis 30.7.
  • Julia Stoschek Foundation Leipziger Str. 60, Mitte, Sa+So 12–18 Uhr, bis 30.7.

Mehr zum Thema

Schafft der Plattenbau das Comeback? Und löst das serielle Bauen Berlins Wohnungsprobleme? Was es sonst Neues an Ausstellungen gibt, was sich lohnt und was endet, gibt es immer hier zu lesen. In unserer Ausstellungs-Rubrik findet ihr immer gute Tipps. Von klein bis groß: Wichtige Kunstorte in Berlin stellen wir hier vor. Was das heutige Berlin unter zukunftsweisender Architektur versteht, zeigen diese futuristischen Bauprojekte aus Glas und Beton in der Hauptstadt. Eine kleine Zeitreise: Hier zeigen wir Fotos von K. Krause aus den Jahren 1971 bis 1990.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad