Für Postmodernisten
Grit Kalies sucht Leben in einem Physiker
Schizophrenie ist blöd. Es sei denn, man ist Schriftsteller. Bei Grit Kalies ist der Ich-Erzähler ihres ersten Romans als Journalist mit „lächerlichem Kleinmist“ beschäftigt. Bis Lamort, ein Physiker, ihn fragt, ob er nicht dessen Autobiografie schreiben wolle. „Die Geschichte ist gut, es geht um einen Mord.“ Er reist mit Lamort um die Welt. Das Problem: Der Mann ist so langweilig, dass es unmöglich ist, eine Geschichte über ihn zu erzählen. Genau hier aber hakt der autobiografisch motivierte Roman. Postmoderne Erzählstrategien allein, die Kalies am Literaturinstitut in Leipzig büffelte, tragen einen Text nicht. Lamort und der Erzähler sind am Ende dieselbe Person. Eine blasse.
Text: Welf Grombacher
tip-Bewertung: Uninteressant
Grit Kalies „Lamort“, Mitteldeutscher Verlag, 221 Seiten, 20 Ђ
Für Dialektiker
Frank Schulz hat das perfekte Gehör
Wer sich bisher nicht rangetraut hat an Frank Schulz’ gewaltigen Trumm „Hagener Trilogie“, der darf sich jetzt auf der Kurz- und Mittelstrecke von den solitären Qualitäten dieses Prosaisten überzeugen lassen. Er kann einfach alles. Klassische Kurzgeschichte, Novelle, Milieuskizze. Schulz hat das perfekte Gehör für die gesprochene Sprache seiner Protagonisten, vor allem das Hamburger Missingsch, und grenzenloses Mitleid für ihre kleinen und großen Liebeskatastrophen. Und seine manischen, die Gegenwartssprache in ihrer ganzen Fülle noch einmal richtig hart rannehmenden und metaphorisch erweiternden Beschreibungskunststücke sind sowieso von ziemlich einsamer Güte.
Text: Frank Schäfer
tip-Bewertung: Lesenswert
Frank Schulz „Mehr Liebe. Heikle Geschichten“, Galiani, 292 Seiten, 19,95 Ђ
Für Dispo-Auftürmer
Andrй Pilz lotet die Täler des Lebens aus
Kai ist buchstäblich dort angekommen, wo Literatur – laut Jörg Fauser – zu sein hat: ganz unten. Als Dachdecker in die Tiefe gestürzt, steht er ohne Job da. Die einzige Jeans ist zerfetzt, der Dispo knietief im Minus und der ausstehende Lohn nicht in Sicht. Dafür verlangen die Brüder von Kumpel Shane ihren Kredit zurück. Bis zur Schuldenfreiheit soll Kai als Drogenkurier arbeiten. Aber er will einen anständigen Job, am besten auf einem Dach unter freiem Himmel. Nur führt der Weg dorthin offenbar durch den Sumpf der Kriminalität. Andrй Pilz, Jahrgang 1972, schreibt klar und kraftvoll wie kaum jemand in seiner Generation vom Kampf um Anstand und das nackte Überleben in der sogenannten Wohlstandsgesellschaft.
Text: Ralph Gerstenberg
tip-Bewertung: Lesenswert
Andrй Pilz „Man down“, Haymon Verlag, 276 Seiten, 19,90 Ђ
Für Einsame
Mimi Welldirty reicht einen Depresso
Allerspätestens mit Alison Bechdels Geschichte „Fun Home. Eine Geschichte von Gezeichneten“ (2006) war die Graphic Novel auch bei uns angekommen. Das jüngste Beispiel liefert die Kölner Illustratorin, Fotografin, Werbetexterin und Musikerin Mimi Welldirty mit ihrer Geschichte „Immy and the City“. Als ihre Großstadtheldin sich ganz mies und einsam fühlt, tankt sie Kraft für ihren Single-Alltag in Marcello’s Bar – mit einem doppelten Depresso. Mit ihren plakativen Zeichnungen hat die 34-Jährige auch eine Hommage an den US-Musiker Elliott Smith geschaffen, der sich mit 34 Jahren das Leben nahm. Der Untertitel „Die traurigste Geschichte der Welt“ ist keine Übertreibung.
Text: Reinhard Helling
tip-Bewertung: Lesenswert
Mimi Welldirty „Immy and the City. Depresso to go“, Atrium Verlag, Zürich, 124 Seiten, 14,90 Ђ
Für Kreuzträger
Lyrikerin Ulrike A. Sandig kann auch Prosa
Einem Tischler würde man durchaus zutrauen, dass er ein verstopftes Abflussrohr wieder freikriegt. Aber dass eine Lyrikerin auch packende Prosa schreiben kann? Doch, auch das funktioniert, bestens sogar. Die 2009 mit dem Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnete Ulrike Almut Sandig, Autorin der Gedichtbände „Zunder“ (2005) und „Streumen“ (2007), bringt in den elf Geschichten ihres Prosa-Debüts „Flamingos“ ihr Handwerkszeug auf ebenso überzeugende wie überraschende Weise zum Einsatz. So lässt die 30-Jährige in der Titelgeschichte überraschende Bilder aufeinandertreffen: Die Ich-Erzählerin ist erstmals Kreuzträgerin bei einer Beerdigung und assoziiert mit den Anforderungen eine Fahrschulstunde – abbiegen, Vorfahrt, toter Winkel, Schulterblick. Sehr gelungen.
Text: Reinhard Helling
tip-Bewertung: Herausragend
Ulrike Almut Sandig „Flamingos“, Schöffling & Co., 175 Seiten, 17,90 Ђ