Für Liebesleidende
Anne Weber verwirrt raffiniert
Zweifellos hat das Leben in der Stadt der Liebe, in der die 46-jährige Autorin seit fast 20 Jahren als Übersetzerin arbeitet, ihre eigenen Prosatexte beflügelt. Mit leichter Hand inszeniert sie auch in ihrem sechsten Buch, für das die 1964 in Offenbach geborene Autorin von dem Frankfurt untreu gewordenen Suhrkamp Verlag zu S. Fischer wechselte, eine Liebesgeschichte, die nicht gut ausgeht (wenn das nicht so wäre, würde es sich ja auch nicht lohnen, davon zu erzählen). Lйa also liebt Enguerrand, aber das nur in dem verworfenen Roman „Arme Ritter“. Weber probt hier den Aufstand des Romanciers gegenüber der Protagonistin und bringt mit diesem Kunstgriff die Schäfchen ihrer eigenen Befindlichkeit ins Trockene. Ein Verwirrspiel der raffinierten Art.
Text: Reinhard Helling
tip-Bewertung: Lesenswert
Anne Weber „Luft und Liebe“, S. Fischer, 190 Seiten, 17,95 Ђ
Für Versumpfer
Moritz Rinke bewältigt tragikomisch die Vergangenheit von Worpswede
Worpswede versinkt im braunen Sumpf. Nette Idee, die Moritz Rinke da hatte. Zumal die Herren Mackensen und Modersohn wirklich keine reine Weste, sondern ein Parteibuch der NSDAP hatten. Paul Wendland ist „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. Die Galerie in Berlin lässt er zurück, weil sein Familienerbe im Moor zu versinken droht, und macht sich auf nach Worpswede, um sein Geburtshaus neu zu gründen. Beim Ausheben der Entwässerungsgräben aber tritt immer mehr dunkle Vergangenheit zutage. Rinkes humoristisches Romandebüt ist im doppelten Sinn Vergangenheitsbewältigung: Es erzählt die Geschichte der Künstlerkolonie während des Dritten Reiches. Außerdem die seines fiktiven Helden, der es allmählich schafft, sich von der Familie abzunabeln. Eine positive Überraschung ist, dass Rinkes Kolumnen-Erzählton einen ganzen Roman trägt.
Text: Welf Grombacher
tip-Bewertung: Lesenswert
Moritz Rinke „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, Kiepenheuer & Witsch, 490 Seiten, 19,95 Ђ
Für Hammer-Ozzys
Ein berühmter Musikant der härteren Sorte erleichtert sein Gedächtnis
Die Außenseiterrolle in der Schule macht John Michael Osbourne zu Ozzy. Es folgt ein Knochenjob im Schlachthof. Schließlich die Beatles als Initiationserlebnis. Bald darauf läuft er einem gewissen Tony Iommi über den Weg, und sie gründen eine Band wider den „süßlichen Hippie-Scheiß, der die ganze Zeit im Radio lief“, die zu einer der einflussreichsten des harten Genres wird. Obwohl Ozzy den Leser warnt, sein Gedächtnis sei aus den bekannten Gründen „nicht unbedingt mit der Encyclopaedia Britannica zu vergleichen“, erinnert er sich eigentlich ganz gut – oder sein Koautor Chris Ayers hat ganze Arbeit geleistet. Eine erfreulich unverwirrte, schön anekdotische, durchaus witzige Autobiografie.
Text: Frank Schäfer
tip-Bewertung: Lesenswert
Ozzy Osbourne (mit Chris Ayers) „Ozzy. Die Autobiografie“, aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Heike Schlatterer und Violetta Topalova, Heyne, 480 Seiten, 19,95 Ђ
Für Wunderheiler
Alissa Walser geht dem Arzt Mesmer nach
Franz Anton Mesmer gilt als Begründer des Mesmerismus. Vom Arzt wurde er zum Heiler, vom Heiler zum Wunderdoktor. Seinen vielen Konkurrenten, auch Wissenschaftlern, galt er als Scharlatan. Heilen mit Magneten und Energiefeldern, wer glaubt denn daran? Bis heute sehr viele. Schon E. T. A. Hoffmann hatte sich der Sache in „Der Magnetiseur“ literarisch angenommen. Jetzt ist es Martin Walsers Tochter Alissa. Ihr Roman beleuchtet eine entscheidende Phase Mesmers. 1777 versucht er in Wien, die blinde Pianistin Maria Theresia Paradis zu therapieren, und muss schließlich, obwohl es der Patientin besser zu gehen scheint, als Betrüger abgestempelt die Stadt verlassen. Ein hochinteressanter Stoff, ein Kapitel dunkler Materie, von Alissa Walser leidenschaftlich verdichtet.
Text: Andreas Burkhardt
tip-Bewertung: Lesenswert
Alissa Walser „Am Anfang war die Nacht Musik“, Piper, 256 Seiten, 19,95 Ђ
Für Schuldner
Kristof Magnusson löst Krisenszenarien auf
Bereits mit seinem Erstling „Zuhause“ bewies Kristof Magnusson, Jahrgang 1976, Sohn eines Isländers und einer Deutschen, ein Händchen für das feine, lakonisch pointierte Gesellschaftsporträt. Nun verfolgt er drei verwobene Schicksalswege in Chicago: Henry LaMerck, Autor mit Schreibblockade, ist von seiner eigenen Geburtstagsparty verschwunden. Die Übersetzerin Maike will mit dem Honorar für das nächste ins Deutsche zu übertragende LaMerck-Werk einen Kredit abzahlen. Und der junge Banker Jasper Lüdemann wird vom Börsencrash überrascht. Kunstvoll und überraschend erzählt Magnusson von privaten und globalen Krisen.
Text: Ralph Gerstenberg
tip-Bewertung: Lesenswert
Kristof Magnusson „Das war nicht ich“, Kunstmann, 288 Seiten, 19,90 Ђ