Die ehemalige „Tatort“-Kommissarin und Star der Komischen Oper Dagmar Manzel wagt sich an einen Opern-Klassiker: Mit Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ bringt die frisch gebackene Regisseurin reichlich Farbe und außerdem zahlreiche Kinderdarsteller auf die Bühne der Komischen Oper. tipBerlin-Kritikerin Paula Schöber findet: Dieser Musiktheaterabend bietet genau die richtige Portion Eskapismus.
Dagmar Manzel inszeniert mit dem Klassiker von Engelbert Humperdinck ihre erste richtige Oper
Die popkulturelle Referenz in Dagmar Manzels Inszenierung der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ kommt überraschend: Den ikonischen Hexenritt vollführt die böse Knusperhexe in der Neuinszenierung der Komischen Oper mit wallendem schwarzen Umhang und in knallig-grünem Outfit, mit Besen in der Luft schwebend. Die Opernbühne wird damit für einen Moment fast zur Musicalbühne, und Daniel Kirch fliegt als Hexe durch die Luft wie die „wicked witch of the West” in der gerade omnipräsenten Musical-Verfilmung „Wicked“.
Es ist einer von mehreren ungewöhnlichen Regie-Einfällen von Dagmar Manzel, die mit dem Klassiker von Engelbert Humperdinck ihre erste richtige Oper inszeniert. 2022 gab die Schauspielerin und Sängerin mit der Inszenierung der Kinderoper „Pippi Langstrumpf“ an der Komischen Oper ihr Regiedebüt, nun hat sie sich Größeres vorgenommen.
Neben dem US-amerikanischen Broadway-Musical hat Dagmar Manzel sich vor allem von den surreal-gruseligen Bildern eines Hieronymus Bosch sowie des unentschlüsselten mittelalterlichen Voynich-Manuskripts inspirieren lassen, aber auch von den sowjetischen Märchenfilmen ihrer Kindheit. So hüpft etwa das Hexenhaus auf den Hühnerbeinen eines Balletttänzers über die Bühne, eine klare Anlehnung an das vogelfüßige Haus der Baba Jaga. Die Inszenierung erhält damit einen ähnlichen Touch wie besagte Filme: Es wird gelegentlich ein bisschen gruselig (zumindest für Kinder), aber immer wird auch eine magische Atmosphäre beschworen. Wie es sich für ein Märchen eben gehört.
Ein Märchen ist diese vom Komponisten in Anlehnung an Wagners (ein Freund und unüberhörbar musikalisches Vorbild Humperdincks) „Parsifal“ ironisch als „Kinderstubenweihfestspiel“ bezeichnetes Stück Musiktheater durch und durch. Die Geschichte ist bekannt, die Brüder Grimm haben das Volksmärchen 1812 in ihre Hausmärchen-Sammlung aufgenommen. Ursprünglich von Engelbert Humperdincks Schwester Adelheid Wette als kurzes Singspiel angedacht – sie schrieb die Texte, wie das bekannte „Brüderchen, komm tanz mit mir“, und bat ihren Bruder um deren Vertonung – erweiterte Humperdinck das Stück um 1890 schrittweise zur abendfüllenden Oper. Viele darin enthaltenen Lieder wie „Suse, liebe Suse“ und „Ein Männlein steht im Walde“ stammen dabei gar nicht aus der Feder der Humperdinck-Geschwister, sondern waren vielmehr verbreitetes deutsches Volksliedgut, das Engelbert Humperdinck auf Reisen zusammensammelte.
Die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ gehört zu den meistgespielten Opern in Deutschland
Dagmar Manzel inszeniert die Oper, die neben Mozarts „Zauberflöte“ und Bizets „Carmen“ zu den meistgespielten in Deutschland gehört, insgesamt recht klassisch. Sie überträgt die Handlung nicht in modernere Zeiten und bemüht auch keine aktuell-politisierte Interpretation. Bühnenbild (Korbinian Schmidt) und Kostüm (Victoria Behr) sind eine ausgewogene Mischung aus altmodischem Grau-Braun und peppig-bunten Tüll- und Glitzerkreationen. Die Familie ist in abgewetzte Armen-Kleidung gehüllt, Sandmann und Taumann tragen wundervoll magisch-glitzernde Umhänge, und die 14 Engel muten ein bisschen an wie eine weiß gekleidete Zirkuskompanie: Ein Engel turnt sogar an einem Trapez über dem träumenden Geschwisterpaar. Der bedrohliche Wald, der in dieser Oper eine quasi omnipräsente Kulisse darstellt, wird von Tänzern in wandelbaren Baumkostümen dargestellt, denen deckenhohe neonfarbene Gazeblätter aus dem Rücken wachsen.
In der Besetzung der Hexe hat Dagmar Manzel sich für die männliche, also Tenor-Variante entschieden, die Humperdinck explizit ablehnte. Als pseudo-freundliche Oma mit Strickjäckchen und grauem Dutt scharwenzelt Daniel Kirch äußerst charmant über die Bühne und verleiht seiner Rolle mit rotzig-bösem Pathos genau das richtige Maß an kaum verhohlener Bösartigkeit. Auch die im Libretto gar nicht mal besonders subtil verhandelte Pädophilie der kannibalistischen Hexe leuchtet auf der Bühne durch, etwa wenn die Alte ihre beiden minderjährigen Gefangenen mit dem „Hokus Pokus, Hexenschuss“ verhext und dafür einen Zauberstab in die Hand nimmt, der anmutet wie ein pinker Dildo.
Auch gesanglich kann der Tenor überzeugen, ebenso wie das ganz und gar großartige Hänsel-und-Gretel-Duo aus Susan Zarrabi und Alma Sadé. Ulrike Helzel als Mutter findet nicht immer die richtige Balance aus leisen und lauten Tönen, die bei ihr entweder hinter der bombastisch-romantischen Musik verschwinden oder in zu schrillen Spitzen daraus hervorstechen. Günter Papendell ist ein spielfreudiger Vater, könnte aber an manch besonders ausladenden Stellen noch etwas weiter ausholen. Julia Schaffenrath singt ein bezauberndes Sandmännchen, trägt als Taumännchen aber ein bisschen zu dick auf. Allen, inklusive dem sehr klar klingenden Kinderchor der Komischen Oper, sieht man ihre enorme Spielfreude in dieser Produktion an. Das Orchester unter der Leitung von Yi-Chen Lin bleibt leider immer ein kleines bisschen hinter seinen Möglichkeiten zurück und kann den magischen Klang von Humperdincks Musik nicht ganz entfalten.
Zwei künstlerische Freiheiten erlaubt sich die Regisseurin dann noch: Um das ohnehin meistens explizit als Kinderoper gespielte Werk noch kinderfreundlicher zu machen, holt Manzel mehrere junge Leute in surreal-fantastischen Kostümen auf die Bühne, die dort zwar keinen spielerischen Zweck erfüllen, aber auch nicht stören. Zusätzlich führt ein Mädchen im weißen Nachthemd, das „himmlische Kind“ zusammen mit einem „Komödianten“ durch die Szenen; dieser Einfall ist allerdings eher überflüssig. Was ganz zum Schluss beim Publikum für Überraschung, um nicht zu sagen Verwirrung sorgt, ist der von Humperdinck eigens für Cosima Wagner komponierte, aber extrem selten zu hörende „Dessauer Schluss“, den die Regisseurin aus dem Musikarchiv in den Orchestergraben holt. Der mit Kinderinstrumenten gespielte Schlussmarsch erklingt ungewöhnlicherweise noch nach dem bombastischen „Wenn die Not aufs Höchste steigt“-Finale.
Auch wenn Dagmar Manzel mit ihrer farbenfrohen, kinderfreundlichen Inszenierung diesem Klassiker nicht viel Neues abgewinnen kann, machen ihre Einfälle diese ohnehin kurzweilige Oper noch kurzweiliger und schaut man sich, egal in welchem Alter, das Geschehen auf der Bühne einfach sehr gerne an. Üblicherweise vor allem in der Weihnachtszeit aufgeführt, kann diese fantasiereiche Inszenierung auch ihren erwachsenen Zuschauern ein wenig Trost und Eskapismus bieten.
- Komische Oper im Schillertheater Bismarckstr. 110, Charlottenburg, Sa 1.2., 19.30 Uhr, So 2.2., 16 Uhr, Fr 21.2., 19 Uhr, So 9.3. 16 Uhr, Di 18.3. 11 Uhr, Do 20.3. 19 Uhr, Mo 24.3. 11 Uhr, So 13.4. 16 Uhr, Mo 21.4. 18 Uhr, 29–99 €, Karten und mehr Infos gibt es hier
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