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Immersiv: Die Performance „Everybody is gone“ führt in eine Umgebung der ständigen Unterdrückung und Kon­trolle

In der immersiven Performance „Everybody is gone“ macht die ­uigurische Künstlerin Mukaddas Mijit die Auswirkungen der chinesischen Überwachung und Unterdrückung ihres Volkes nachvollziehbar

Die multimediale Performance „Everybody is gone“ bringt die Lebensrealität der in China unterdrückten Uiguren nahe. Foto: Michael Weinberg

Anfang Mai sorgten geleakte Aufnahmen aus staatlichen Internierungslagern in der autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas für Aufsehen. Die „Xinjiang Police Files“ zeigen, wie brutal die Regierung in Peking gegen die Minderheit der Uiguren vorgeht und widerlegen die chinesische Staatspropaganda, dass es sich bei diesen „Weiterbildungseinrichtungen“ um „normale Schulen“ handele.

Die uigurische Künstlerin ­Mukaddas Mijit kämpft aktiv gegen den von China verordneten kulturellen Genozid ihres Volkes an

Mehr als eine Million Menschen sind in diesen Umerziehungslagern in Xinjiang eingesperrt, die meisten davon gehören der muslimischen Minderheit der Uiguren an. Die „Xinjiang Police Files“ dokumentieren in tausenden Fotos von Internierten, oft wegen Nichtigkeiten eingesperrt, Geheimdokumenten, Schulungsunterlagen und Belegen von Anweisungen hoher Funktionäre die Unterdrückung. Sie bestätigen die von Peking stets abgestrittenen Berichte von geflohenen ­Augenzeugen, die von schockierenden Verbrechen in den Lagern erzählten und strafen Chinas Propaganda Lügen, dass die Uiguren freiwillig in den als „Bildungseinrichtungen“ verharmlosten Lagern seien.

Die Tänzerin, Performancekünstlerin und Filmemacherin ­Mukaddas Mijit ist selbst Uigurin, sie stammt aus Urumchi, der Hauptstadt der Region Xinjiang. 2003 ging sie nach Paris, um Musikethnologie zu studieren. Ihr Ziel: die eigene uigurische Kultur zu fördern und sichtbarer zu machen. 2015 promovierte sie, seitdem organisiert und koordiniert sie zeitgenössische und traditionelle uigurische Tanz- und Musikprogramme, vermittelt Auftritte uigurischer Künstler:innen aus China und gibt uigurische Tanzworkshops, kurz: sie arbeitet aktiv gegen den von China verordneten kulturellen Genozid ihres Volkes an.

Mukaddas Mijit ist Tänzerin, Ethnomusikologin und Filmemacherin aus Urumchi, der Hauptstadt der uigurischen Autonomenregion Xinjiang in China. In ihren interdisziplinären Arbeiten kombiniert sie uigurische Musik- und Tanztraditionen mit anderen kulturellen und zeitgenössischen Einflüssen. Foto: Michael Weinberg

„In Xinjiang versucht China unsere Kultur auszulöschen und hat ein beispielloses Überwachungsregime aufgebaut“, sagt ­Mijit, „angeblich aus Sorge vor islamistischem Terror, doch terrorisiert werden tatsächlich wir Uiguren.“ Die Benutzung muslimischer Symbole wie Stern oder Halbmond sind den Uiguren verboten worden, Eltern dürfen ihren Kindern keine muslimischen Namen mehr geben. Dazu hat Peking ein System von Zwangspaten eingeführt: Han-Chinesische Nachbarn oder ­Staatsbeam­te gehen zu den Familien und kontrollieren, ob chinesisch gesprochen wird und welche Bücher und Bilder es in der Wohnung gibt. „Die Xinjiang Police Files“ dokumentieren auch Argu­mentationshilfen der Funktionäre für den Umgang mit Kindern, deren leibliche Eltern seit Jahren spurlos zur „Fortbildung“ verschwunden sind.

Totalitärer Albtraum: In der Performance wird das Publikum zum Teilnehmenden

Der chinesische Autor und Oppositionelle Zhang Lifan sieht Xinjiang als „ein Testfeld, in der Chinas Zentralregierung neue Technologien ausprobiert, um die Menschen zu überwachen und zu kontrollieren“. Kameras mit Gesichtserkennung erfassen jede ­Straße. Handydaten werden ständig nachverfolgt, DNA-Proben zwangsentnommen und katalogisiert. Ein tota­litärer Albtraum! Gegen diese digital unterfütterten Big-­Brother-Technologie­n wirkt die Überwachung der Stasi gegen Regimekritiker zu DDR-Zeiten geradezu hilflos.

Wie lebt es sich in so einer Umgebung der ständigen Unterdrückung und Kon­trolle? Das versucht Mukaddas Mijit nun in der immersiven Performance „Everybody is gone“ nachspürbar zu machen. Gemeinsam mit dem multidisziplinären New Yorker Kunstlabor The New Wild errichtet sie in der Alten Münze das Setting eines uigurischen Dorfes, in das das Publikum zusammen mit den Schauspielenden eintaucht. Es wird als Dorfbewohnende zu Mitspielenden.

Eine Dorfversammlung wird abgehalten. Durch Videoeinspielungen, Töne, Texte und Interventionen bekommen die ­Teilnehmenden unmittelbar einen sinnlichen Eindruck einer Lebensrealität, die von Überwachung und Zwangsmaßnahmen geprägt ist. Au­gen­zeugenberichte von Uigur:innen zur chinesischen Behördenwillkür ergänzen die immersive Bühnenerfahrung.

Gegen die staatliche Unterdrückung der Uiguren in China setzt die Produktion auf Empathie und auf Transparenz

Mijit und die Gruppe The New Wild entwickelten die teilnehmende Performance auf der Basis von unabhängigen journalistischen Recherchen über einen Zeitraum von drei Jahren, also bereits lange bevor die ­„Xinjiang Police Files“ dieses Jahr öffentlich geworden sind und die von China stets abgestrittenen Menschenrechtsverletzungen, die Themen Zwang, Inhaftierung und Überwachung mit „dramatischer Deutlichkeit“ bestätigt haben, wie der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer, der Vorsitzende der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zur Volksrepublik China, konstatierte. Er fordert neue Sanktionen gegen China, es wirkt hilflos. Deutsche Firmen wie VW sind in ­Xinjiang trotz der schweren Vorwürfe gegen die chinesische Staatsführung weiterhin aktiv.

Gegen die staatliche Unterdrückung eines tota­litären Regimes wie China und den anhaltenden Genozid an den Uiguren setzen Mijit und The New Wild auf Empathie und auf Transparenz: Alle in der Performance verwendeten Quellen und Belege sind online unter www.everybodyisgone.org zugänglich.

Alte Münze Molkenmarkt 2, Mitte, 27.7. – 2.8., 19.30 Uhr, 10 €

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