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Interview

Sprayer-Hauptstadt? Das sagt der Gründer der Graffiti-Lobby

Die wenigsten dürften bei Graffiti in Berlin an die legale Street-Art im Mauerpark denken. Gängige Assoziationen dürften eher besprühte U-Bahn-Züge und Hauswände sein, die selten als kreative Ergüsse wahrgenommen werden. Doch wird die Berliner Graffiti-Szene wirklich in die Illegalität gezwungen, weil es zu wenige Freiflächen zum Sprayen gibt? Inwiefern können illegale Graffiti-Tags und beeindruckende Murals in einen Topf geschmissen werden? Und verdient Berlin wirklich seinen Ruf als Graffiti-Hauptstadt Europas? Wir haben mit dem Gründer der Graffiti Lobby Berlin, Jurij Paderin, gesprochen. Ein Gespräch über schöne und nicht so schöne Train-Writings, Freiheit, die lahme Berliner Verwaltung und hohe Preise für Spraydosen.

Graffiti Berlin Legales Graffiti an der Hall of Fame im Mauerpark: Berlin bietet nur eine Hand voll offizieller Graffiti-Flächen für eine Künstler-Szene, die aus rund 15.000 Menschen besteht.
Legales Graffiti an der Hall of Fame im Mauerpark: Berlin bietet nur eine Hand voll offizieller Graffiti-Flächen für eine Künstler-Szene, die aus rund 15.000 Menschen besteht. Foto: Imago/Zöllner

Graffiti in Berlin: „Sprayer:innen dürfen ihre Stadt nur begrenzt mitgestalten, Weltkonzerne hingegen riesig Werbung plakatieren“

tipBerlin Herr Paderin, so richtig ging es in Berlin nach der Wende los mit Graffitis. Die Stadt bot damals viele Freiräume und Sprayer- und Writer-Crews hinterließen überall ihre Spuren und bewegten sich – wie auch heute noch – oft jenseits der Legalität. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit?

Jurij Paderin Ich erinnere mich, wie wir damals im Tacheles oder an der Friedrichstraße abgehangen haben. Ich habe damals an der Oranienburger Straße gewohnt. Im Monbijoupark um die Ecke war immer was los. Damals gab es noch keine Handys und die meisten hatten auch kein Internet. Also hat man sich immer im Park zu einer gewissen Uhrzeit verabredet und ist dann losgezogen. Überall hatte man seine „Spielplätze“, wir haben Undergroundpartys in verlassenen Gebäuden gefeiert. Es war eine coole Zeit, aber alles noch sehr spartanisch. Ein Ghettoblaster und was zu trinken haben ausgereicht. Heute schauen alle nur auf ihre Handys und überall wo du dich hinsetzen willst, musst du eine Coca Cola kaufen. Damals haben sich die Leute unterhalten und waren halt auch sehr aktiv.

tipBerlin Heute ist in der Tat vieles anders. In den vergangenen 30 Jahren hätte man der Graffiti-Szene die Chance geben können, ihren schlechten Ruf abzustreifen. Wieso ist das nicht passiert?

Jurij Paderin Nichts passiert ist, weil die Politik das ganze Thema jahrelang eher stiefmütterlich behandelt hat. Die sogenannte „Nulltoleranzpolitik“ war die einzige Lösung der Politiker:innen. Das heißt, die Gesetze zu verschärfen und die legalen Wandflächen für Graffitis zu dezimieren. Wohin das geführt hat, sehen wir heute: Es gibt nur wenige Freiflächen für rund 15.000 Graffiti-Künstler:innen in der Stadt. Hier sollte man in Zukunft umdenken und nachsteuern. Im Übrigen betrachte ich Werbung, die im öffentlichen Raum zu sehen ist, beispielsweise Plakate, auch als visuelle Verschmutzung. Die Verwaltung sollte einige Werbeverträge kündigen oder nicht mehr verlängern und die Flächen lieber den Bürger:innen zur Verfügung stellen. Die Initiative „Berlin Werbefrei“ ist hier sehr aktiv.

tipBerlin Will Graffiti überhaupt als Kunstform gesehen werden? Oder existiert hierfür der abgrenzende Begriff Street-Art?

Jurij Paderin Kunst kommt von Können. Wenn ich zu einer legalen Wandfläche komme und einen qualitativ guten Style, heißt ein Graffiti oder Style Writing, sehe, dann ist dies für mich der Beweis, dass der/die Künstler:in es drauf hat. Wenn ich ein gut gemachtes Throw Up, eine Graffiti-Signatur, an einer guten Stelle sehe, sage ich mir: Der/die hat’s drauf, hat sich dabei etwas gedacht. Genauso ist es mit Rooftop-Graffitis oder mit dem Train-Writing. Wenn jemand viele Züge bemalt, dann ist das auch eine Art von Kunst, eine Art von Performance. Wenn jemand große Giebelwände bemalt, ist es auch Kunst, weil der/die Künstler:in die Dimension bewerkstelligen kann. Nicht jede:r hat für alles die Expertise, nicht jeder kann Züge bemalen, aber einige machen das sehr aktiv und qualitativ hochwertig. Über die Bedeutung von Kunst kann man sich nicht streiten. Für mich ist Graffiti Kunst und das sehen viele andere Menschen genauso. Street-Art beschreibt auch eine Kunstform im öffentlichen Raum. Graffiti, Street-Art und Muralismus kann man alles unter dem Begriff „Urban-Art“ zusammenfassen – also Kunst im urbanen Raum.

tipBerlin Wenn man sich Berlins Stadtbild anschaut, kommt die Frage auf: Was kann man eigentlich alles guten Gewissens als Graffiti bezeichnen? Fallen auch alle noch so unleserlichen Sprüche auf Stromkästen, an U-Bahn-Fenstern und auf Parkbänken unter den Begriff?

Jurij Paderin Gute Frage. Streng genommen sind auch die Wandmalereien in der Höhle von Lascaux in Frankreich, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählen, Graffitis, denn es handelt sich um Kunst im öffentlichen Raum. Der Begriff Graffiti wird von den Massenmedien allerdings oft undifferenziert verwendet und dadurch von den Menschen miss- oder nicht verstanden. Das erschwert den Dialog. Unter dem Begriff Graffiti lassen sich verschiedene Techniken zusammenfassen. Künstler:innen arbeiten auf verschiedensten Untergründen, zum Beispiel auf Holz, Glas, Beton oder auf einer Leinwand und nutzen verschiedenste Arbeitsmaterialien wie Spraydosen, Filzstifte oder Schleifsteine. Um Ihre Frage also zu beantworten: Ja, unleserlichen Sprüche auf Stromkästen, an U-Bahn-Fenstern und auf Parkbänken fallen auch darunter.

tipBerlin Verbreiten viele Sprayer:innen auch politische Botschaften?

Jurij Paderin Hier ist sich die Szene uneins, weil es sehr viel Diversität gibt. Einige interessieren sich auch als Urban-Art-Künstler:innen für politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Diese bilden manche dann in ihrer Kunst ab. Die meisten Style-Writer:innen aus Berlin, die mit der Spraydose draußen „bomben“ oder „stylen“, sprich ihre Signaturen und Pseudonyme verbreiten, sind meistens unpolitisch mit ihrer Kunst. Als politisches Statement kann aber die Aneignung des öffentlichen Raumes gelten. Nach dem Motto: Hier bin ich, das ist meine Stadt. Die meisten Style-Writer:innen aus Berlin, ich würde sagen rund 80 Prozent, äußern sich also nur indirekt politisch, nämlich indem sie eine Wand bemalen, auf der man eigentlich nicht malen dürfte.

Meine Meinung dazu ist: Warum sollen diese Künstler:innen ihre Stadt nicht mitgestalten dürfen, wenn ein Weltkonzern, wie zum Beispiel Coca Cola, der seinen Sitz in Amerika hat, die Stadt mit großflächiger Werbung zupflastert? Die Antwort ist: Weil wir im Kapitalismus leben. Hier darf nur derjenige die Gesellschaft mit transformieren und den öffentlichen Raum gestalten, der Geld hat. Ein Konzern wie Coca Cola zahlt einem Hausbesitzer eine Stange Geld und kann dann seine Werbung platzieren. Berliner Künstler:innen sprühen gezwungenermaßen illegal, denn die Stadt Berlin stellt den Berliner Künstler:innen nur sehr wenige legale Wandflächen zur Verfügung.

„Jede Spraydose kostet Geld – und nicht wenig. Wenn ich sie legal nutze, kann ich sie danach nicht mehr illegal einsetzen“

Graffiti Berlin Train-Writing an einer Berliner U-Bahn: "Wenn jemand viele Züge bemalt, dann ist das auch eine Art von Kunst, eine Art von Performance."
Train-Writing an einer Berliner U-Bahn: „Wenn jemand viele Züge bemalt, dann ist das auch eine Art von Kunst, eine Art von Performance.“ Foto: Imago/Müller-Stauffenberg

tipBerlin Berlin gilt als Graffitihauptstadt Europas. Verdient die Stadt diesen Ruf?

Jurij Paderin Absolut! Man nennt Berlin ja auch die „Stadt der 1000 Styles“, denn wir haben die meisten!
Jede:r Künstler:in hat seinen eigenen „Style“. Wenn ein:e Künstler:in zum Beispiel das Wort „Wassersuppe“ malen würde und nicht den eigenen Namen oder das Pseudonym, dann würde ich als Writer den Urheber trotzdem an seinem individuellen Style erkennen.

tipBerlin Was ist denn eine Wassersuppe?

Jurij Paderin Vor Kurzem habe ich einen Bericht über Afrika gesehen, da ging es um hungernde Mütter und ihre kleinen Kinder. Die Mütter kochten Wasser, damit die hungrigen Kinder nicht weinen, sich beruhigen und einschlafen. Die Kinder dachten, dass die Mutter eine Suppe kocht und es bald Essen gibt. Dabei war es nur das Wasser. Die Welt ist schon erschreckend.

tipBerlin Recherchiert man online, erhält man schnell den Eindruck, in Berlin gäbe es mindestens ein Dutzend legaler Spraywände, sogenannte „Halls of Fame“. Was angesichts der hiesigen Sprayerszene, die laut Ihnen aus rund 15.000 Menschen besteht, immer noch wenig wäre. Aber die Graffiti Lobby Berlin listet auf ihrer Webseite aktuell nur fünf legale Wände in Berlin auf. Wieso ist der Szene die Abgrenzung des Begriffs „Hall of Fame“ so wichtig?

Jurij Paderin Für die Graffiti Lobby Berlin ist eine sogenannte „Hall of Fame“ eine öffentliche Wandfläche, die rund um die Uhr der Allgemeinheit zugänglich ist und von dem Besitzer offiziell zum Zweck der legalen Bemalung freigegeben wurde. Das bedeutet, dass eine Art schriftlich festgehaltene Nutzungsvereinbarung existiert, und hier jeder ohne Anmeldung malen kann, was er möchte. In der Szene findet dann eine Art Selbstregulierung statt, es wird nicht festgelegt, welches Bild zum Beispiel länger erhalten bleibt. Die Halls of Fame dienen vor allem der Qualitätssteigerung. Mit der Freigabe solcher offiziell legalen Wandflächen sollen bestimmte Effekte erzielt werden.

Erstens steigt durch sie die Qualität der künstlerischen Arbeiten in der Stadt, auch das eigene Umfeld wird partizipativ mitgestaltet. Kunst und Kultur sind ja die Gründe, wieso Berlin so besonders ist und wieso Menschen die Stadt so interessant finden. Zweitens kommt es durch legale Wände zu einem Dialog zwischen Anwohner:innen und Künstler:innen und möglicherweise auch zu einer Vernetzung und dem gemeinsamen Erstellen von künstlerischen Werken vor Ort. Dadurch können Brücken zwischen verschiedenen Kulturen gebaut und neue Horizonte eröffnet werden.

Das Malen im öffentlichen Raum steht zudem für soziales Engagement und für den Austausch zwischen den Bewohner:innen, die sich an den Wandbildern erfreuen. An einer Hall of Fame entsteht Kreativität und dadurch ein positives Lebensgefühl bei den Menschen. Kreativität bedeutet Input und ohne Input keine Weiterentwicklung. Insofern wird dem Bedürfnis nach Teilhabe im eigenen Lebensumfeld nachgegangen.

tipBerlin Stellen wir uns eine perfekte Welt vor: Wie viele Graffiti-Freiflächen hätte Berlin dann?

Jurij Paderin Unser Ziel sind mindestens drei große Wandflächen in jedem Bezirk.

tipBerlin Hätten Sie selber Vorschläge für Orte in Berlin, die sich für legales Graffiti eignen würden?

Jurij Paderin Ja, sehr viele sogar. Persönlich habe ich Wandkataloge für mindestens vier Bezirke erstellt und diese an die zuständigen Stellen in den Bezirksverwaltungen weitergeleitet. Hier existieren bereits erste Beschlüsse. Aber die Verwaltungen arbeiten meiner Meinung nach viel zu langsam oder blockieren. Die „Erledigungsfrist“ wird von den Berliner Verwaltungen nicht ernst genommen. Manchmal werden wir aber auch positiv überrascht.

Legale Graffiti-Flächen: „Die Verwaltungen arbeiten meiner Meinung nach viel zu langsam oder blockieren“

tipBerlin Wann zum Beispiel?

Jurij Paderin Die Senatsverwaltung für Kultur und Europa, die selber keine Flächen verwaltet, hat uns an ein Landesunternehmen verwiesen. Die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) hat uns daraufhin eingeladen und so haben wir dann die ersten Freiflächen bekommen.

tipBerlin Denken Sie wirklich, dass ein Großteil der Szene auf die legalen Wände ausweichen würde, selbst wenn es mehr von ihnen gäbe? Liegt der Reiz beim Sprayen für viele nicht auch im „erwischt werden“ oder ist das ein Vorurteil von Menschen, die keine Ahnung haben?

Jurij Paderin Für mich und viele andere aus der Graffiti-Szene liegt der Reiz auch im legalen Malen, sprich Zeit zu haben, ein qualitativ hochwertiges „Piece“ zu erschaffen. Das wichtigste ist der „Fame“, also die Anerkennung innerhalb der Szene. Diesen kann man auf zwei Wegen steigern oder erreichen. Legal oder illegal, das ist eine persönliche Entscheidung.

tipBerlin Welche Strafe droht eigentlich, wenn man sich auf einer illegalen Fläche verewigt und erwischt wird?

Jurij Paderin Das kommt auf die Art der bemalten Fläche an und darauf, ob es das erste Mal war, dass man erwischt wurde. Ist es zum Beispiel ein Zug oder ist es einfach nur eine alte Mauer, ein saniertes Haus, eine Ruine oder ein Stromkasten. Ich gebe übrigens auch Graffiti-Workshops im Gefängnis, wo auch Leute einsitzen wegen illegalen Graffitis. Teuer wird es für Sprayer:innen auch schnell bei zivilrechtlichen Ansprüchen, dem Schadensersatz.

tipBerlin Im Interview mit der „taz“ 2021 haben Sie gesagt, dass man den „Fame“, also Ruhm, beim Graffiti über Quantität oder Qualität bekommen könne. Glauben Sie, dass mehr Halls of Fame das Problem illegaler Graffitis in Berlin wirklich relevant eindämmen würden oder gäbe es nicht immer noch viel zu viele Sprayer:innen, die einfach überall mutwillig ihr Logo draufsprühen wollen?

Jurij Paderin Ich sage mal so: Wenn ich in die Glaskugel schauen könnte, dann wäre ich jetzt künstlerisch wahrscheinlich schon wo ganz anders. Jede „Can“, also Spraydose, kostet Geld. Und zwar nicht wenig. Jede Can, die du legal eingesetzt hast, kannst du nicht mehr illegal einsetzen. Wenn die leer ist, ist die leer, und du musst dir eine neue kaufen. Nur mal so als Denkanregung.

tipBerlin Sie haben die Berliner Graffiti Lobby gegründet. Wann war das und was haben Sie seit der Gründung erreicht?

Jurij Paderin Gründer der Graffiti Lobby Berlin hört sich super an. Ich würde mich selber eher als Initiator der Lobby bezeichnen. Die Lobby existiert seit 2012. Was wir erreicht haben, kann man auf unsere Webseite nachlesen. Was ich aber sagen kann und will: Wir von der Graffiti Lobby Berlin arbeiten politisch, weil wir es wollen und müssen, weil wir eine Veränderung herbeiführen wollen. Wir fordern legale Flächen von der Stadt. Für unsere Arbeit werden wir von niemandem bezahlt, wir arbeiten ausschließlich ehrenamtlich neben unserer eigentlichen Arbeit. Wir sind in Kontakt mit der Politik und der Verwaltung, mit Landesbetrieben, aber auch mit privaten Eigentümer:innen.

Graffiti in Berlin: „Berlin hat zu wenige Freiflächen. Lieber werden Steuergelder in die Entfernung von Graffitis investiert“

Graffiti Berlin Ein illegales Graffiti wird von einem Zug der Berliner S-Bahn entfernt: Die Beseitigung von Graffitis kostet die Stadt Berlin jährlich rund 2 Millionen Euro.
Ein illegales Graffiti wird von einem Zug der Berliner S-Bahn entfernt: Die Beseitigung von Graffitis kostet die Stadt Berlin jährlich rund zwei Millionen Euro. Foto: Imago/Wagner

tipBerlin Haben Sie den Eindruck, dass Graffiti als Kunstform für die Öffentlichkeit schon greifbarer geworden ist oder der Ruf der Szene immer noch gleich undurchsichtig?

Jurij Paderin Ich glaube, dass immer noch sehr oft undifferenziert über diese Kunstform berichtet wird. Das macht es wohl schwer, Graffiti zu verstehen. Aber ja, ich habe das Gefühl, dass mehr und mehr Bürger:innen uns zuhören und uns Urban-Art-Künstler:innen auch verstehen. An der Hall of Fame am Rosenthaler Weg in Pankow und anderen Flächen sehen wir diese Entwicklung auch.

tipBerlin Mal abgesehen von den Freiflächen: Wo gibt es Ihrer Meinung nach in Sachen Graffiti in Berlin noch dringenden Handlungsbedarf?

Jurij Paderin Die Berliner Verwaltung muss reformiert werden. Sie sollte bürgernäher sein. Beim Berufsverband Bildender Künstler:innen Berlin findet man nur einen einzigen professionell arbeitenden Graffitikünstler. Warum? Das erscheint mir nicht besonders repräsentativ. Wir wünschen uns mehr Verständnis bei der Verwaltung, besonders beim Straßen- und Grünflächenamt und Landesdenkmalamt, genauso wie bei der Verwaltung der öffentlichen Immobilien.

Die Kulturverwaltung Berlin sollte nicht nur die prestigeträchtigen, großen Mural-Projekte oder Urban-Art-Museen „hypen“, sondern sich auch für mehr Halls of Fame einsetzen. Die Politik verschläft das Thema legale Wandflächen leider seit Jahren. Ihr Lösungsansatz ist der gleiche wie noch vor 30 Jahren: Es werden Steuergelder für das Entfernen von Graffitis ausgeben. Unsere Empfehlung wäre es, einen politischen Verantwortlichen und eine öffentliche Finanzierung zur Schaffung legaler Wandflächen zu schaffen.

Die Deutsche Bahn und die Autobahn GmbH des Bundes bauen riesige, graue Betonflächen in die Stadt. Logisch, dass die Künstler:innen diese Betonflächen nutzen. Daran ist auch nichts verwerflich. Beton bunt, Seele gesund. Wir wollen die Stadt einfach hübscher machen. Aber wenn wir das Land Berlin, die Bezirke oder die Eigenbetriebe fragen, ob wir die Flächen, die eh schon seit Jahren wild bespielt sind, auch legal nutzen dürfen, bekommen wir meist eine Absage. Warum, bleibt die Frage. Wir wollen doch Qualität erzeugen.

Aber man meckert lieber über wildes Graffiti und die Hardliner denken über mehr Videokameras nach. Um die Bevölkerung zu überwachen und Sicherheit zu suggerieren. Erinnert mich irgendwie alles an China oder die Sowjetunion, aus der ich komme. Für mich persönlich ist Graffiti Freiheit und die Künstler:innen sehe ich als die letzten urbanen Freiheitskämpfer:innen.

tipBerlin Gibt es Graffitis in Berlin, über die Sie sich selber manchmal ärgern? Zum Beispiel, weil man direkt sieht, hier wurde mutwillig Sachbeschädigung betrieben. Oder können Sie die Sprayer immer verstehen?

Jurij Paderin Ja, ich ärgere mich über manche Auftragsarbeiten und Fassadengestaltungen. Hier gibt es keine Moral und keine Ethik.

tipBerlin Was genau meinen Sie damit?

Jurij Paderin In der Vergangenheit gab es zweifelhafte Projekte mit „Deutsche Wohnen“.

tipBerlin Sie sagen, Graffiti bedeute für Sie Freiheit. Ist die Beschränkung auf legale Flächen da nicht ein Widerspruch?

Jurij Paderin Ich sehe den Begriff „Freiheit“ persönlich etwas weiter gefasst. Ich würde mich dabei nicht nur auf die Diskussion über legales oder illegales Graffiti versteifen. Überlegen Sie doch mal: Wo gibt es keine Graffiti-Writings? Richtig, in Nordkorea. Und dort regiert eine Diktatur. Wieso eigentlich war die Ostseite der Berliner Mauer nicht bemalt? Die Bewohner:innen einer Stadt sollten den öffentlichen Raum auch nutzen dürfen. So wie es Flächen für Sport, Spiel und Erholung gibt, braucht es auch Flächen für Kunst im öffentlichen Raum.

Jurij Paderin ist in der Sowjetunion geboren, kam kurz vor der Wende nach Berlin und fing in den 90er-Jahren illegal an zu sprühen. Heute lebt der 41-jährige von legalen Graffiti-Aufträgen. 2012 gründete Paderin zudem die Graffiti Lobby Berlin, die Graffiti-Kunst fördern und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verbessern will.


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