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Räume und Träume

Streifzug durch Oberschöneweide

In Oberschöneweide entsteht auf einem lange verwahrlosten Industrieareal gerade ein Quartier für Künstler und Gewerbetreibende – doch der Spaß könnte schnell vorbei sein, denn auch die Luxuswohnungsentwickler zieht es hierher

Lena Ganssmann

Die Wilhelminenhofstraße hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite Wohnhäuser, auf der anderen alte Hallen. Gründerzeithäuser mit Dönerläden, Nagel- und Sonnenstudios stoßen auf mehr oder weni­ger gut erhaltene Werkshallen aus der Hochzeit der Industrie. Und in der Mitte rasselt die Straßenbahn entlang.

Über Jahrzehnte war genau das Oberschöneweide: Auf der einen Seite wurde gearbeitet, auf der anderen gewohnt. Damals, als der jetzige Ortsteil von Treptow-Köpenick noch Standort von AEG und später, zu DDR-Zeiten, vom VEB Transformatorenwerk und Kabelwerk Oberspree war. Damals, als von hier aus die Hardware für die Elektrifizierung von Berlin und der ganzen Welt geliefert wurde.

Doch jetzt wecken die ­Spreegrundstücke neue Gelüste. Wo heute noch alte, zum Teil verfallene Werkshallen bis hinunter zum Ufer reichen, könnten schon bald Wohnhäuser stehen. Teure Wohnhäuser natürlich, denn die Lage am Wasser – am sonnigen Südufer – ist begehrt. Auch das postindustrielle Ambiente lockt die Interessenten. Außerdem ist der künftige Berlin-Brandenburger Flughafen BER nah, und die Innenstadt auch.

Noch sind die Hallen am Ufer beinahe ein Paradies für Künstler und Gewerbetreibende: Keine Nachbarn, die sich über Ruhestörung oder Materialhalden beschweren könnten – wo gibt es das sonst noch in Berlin?

Susanne Reumschüssel, Filmemacherin und alteingesessene Oberschöneweiderin, leitet den Industriesalon Schöneweide, eine Präsentation historischer Geräte und Fotografien, in einer dieser alten, geschichtsträchtigen Hallen. Sie sagt: „Wenn auf dieser Seite der Wilhelminenhofstraße, wo traditionell die Industrie angesiedelt ist, Wohnbebauung zugelassen wird, wäre das ein Paradigmenwechsel für Oberschöneweide.“ Zusammen mit anderen Mitstreitern aus dem Stadtteil versucht sie, den Wohnbau zu verhindern. Ihre Sorge hat eine für Berlin allzu bekannte Bezeichnung: Gentrifizierung.

Es geht um die Rathenau-Hallen, ein großer Komplex aus Werkshallen, teilweise aus der Gründerzeit, zwischen Wilhelminenhofstraße und Spreeufer. Ein irischer Investor hat das Gelände gekauft und vermietet einen Teil. Mode-Showrooms, Flohmärkte, Künstler und ein Burgerladen haben sich eingemietet. Anderswo bröseln leerstehende Hallen vor sich hin. Dort möchte der Investor Wohnungen bauen. Das würde Geld bringen – viel mehr Geld, als mit der Renovierung von Altbauten für Gewerbezwecke zu holen wäre.

Dass der Investor im Gewerbegebiet Wohnhäuser bauen darf, ist seit neuestem möglich. Der Bezirk hat die Rathenauhallen zum „Mischgebiet“ erklärt. Wie sich der ­Investor die Rathenauhallen künftig vorstellt, zeichnet er auf seiner Website: Ein grober Plan zeigt Gebäude für „Ateliers“, ein „Startup-Zentrum“ oder ein „Boarding House“. Daneben Wohnungen und „soziale Infrastruktur“. „Berliner Mischung“, wie es im Konzept heißt.

„Das Konzept ist nicht vertrauenswürdig“, meint Susanne Reumschüssel. „Der Investor sagt, dass er erst Geld erwirtschaften müsse, um dann die maroden Hallen zu sanieren. Wir glauben, dass er einen städtebaulichen Vertrag mit dem Bezirk anstrebt, der hier Wohnungsbau ausdrücklich zulässt.“ Das würde den Wert des Grundstücks erheblich steigern – und anschließend einen Verkauf des Areals ziemlich attraktiv erscheinen lassen.

Die Tür für den Wohnungsbau dürfe auf dieser Seite der Wilhelminenhofstraße nicht geöffnet werden, warnt auch Thomas Niemeyer vom Regionalmanagement Südost, einer Wirtschaftsförderagentur, die im Auftrag des Senats für die Ansiedlung von Gewerbe in Oberschöneweide wirbt. Schon jetzt würden viele Grundstückseigentümer darauf spekulieren, dass auf ihrem Gelände einmal Wohnungen gebaut werden dürfen. Dann würde der Rubel rollen – und Oberschöneweide – auch in der Nähe des Erholungsgebiets Wuhlheide gelegen – zum ­bevorzugten Wohngebiet werden.

Noch ist die Zukunft in den Rathenau-Hallen unsicher. Einen Block weiter, in den Reinbeckhallen, ist der weitere Weg indes weitgehend vorgezeichnet.

Ein Bagger, Bauzäune. Eine lange Werkshalle aus Backstein mit teilverglastem Dach ist frisch renoviert. Die Halle hat vier Schiffe, in den beiden mittleren wird jetzt zwischen sorgfältig bewahrten Rohren, Druckmess­geräten und alten Schildern Kunst ausgestellt. In den beiden äußeren Schiffe sind jeweils sieben hohe Atelierräume untergebracht, alle mit eigenem Zugang von außen.

Eine weitere Halle, die quer dazu fast bis zur Spree hinunterreicht, ist strahlend weiß verputzt. Noch ist niemand eingezogen. Doch das wird sich bald ändern. Die neuen Eigentümer sind bekannt, sehr bekannt. ­Bryan Adams, der Rocksänger und Fotograf aus Kanada, hat eine der Hallen erstanden und verkauft jetzt einzelne Ateliers weiter – ob er selbst hier einzieht, ist noch unklar. ­Alicja Kwade, Christian Jankowski, Jorinde Voigt und Anselm Reyle haben schon zugeschlagen.

Ein Who-is-Who der Berliner Kunstszene, Vertreterinnen und Vertreter jenes winzigen oberen Segments, das nicht nur von Kunst leben, sondern sich seine Ateliers sogar kaufen kann. Auch Olafur Eliasson zählt dazu. Er richtet hier neue Lager- und Produktions­flächen ein, weil es in seinem Vierstöcker am Pfefferberg zu eng geworden ist.

Schon oft haben Künstler und Galerien in Berlin den Vorreiter für die Aufwertung und Gentrifizierung ganzer Quartiere gegeben. Ist das hier auch so? Arbeiten die Künstler den Investoren ungewollt in die Hände?

Die Entwicklung der Immobilienpreise und Mieten könnten eine solche These stärken. Der rasante Anstieg der letzten Jahre in den nachgefragten Berliner Quartieren ist auch in Oberschöneweide zu spüren. Wer 2016 hier eine Altbauwohnung kaufen wollte, musste im Schnitt 11,7 Prozent mehr ausgeben als im Jahr davor. Die Wohnungsmieten sind bei Altbauwohnungen leicht, bei Neubauwohnungen aber massiv angestiegen. Wer neu mietet, muss fast ein Viertel mehr blechen als bei einer Anmietung im Vorjahr.

„Der Grund für die Aufwertung sind nicht die Künstler, sondern es ist die Wohnungsknappheit in Berlin“, sagt Susanne Reumschüssel. „In Oberschöneweide gibt es sehr viele Genossenschaftswohnungen, die gut saniert sind. Doch das Umfeld lässt zu wünschen übrig. Ein Manko sind die Händler. In der Wilhelminenhofstraße wechseln ständig die Geschäfte. Gegen eine gewisse Aufwertung wäre da nichts einzuwenden. Finden Sie mal ein gutes Restaurant in Oberschöneweide!“

Auch Thomas Niemeyer sieht die ­Künstler weniger als Vorboten der Gentrifizierung, denn als Bestandteil der Gewerbeplanung am Standort. „Oberschöneweide könnte ein ausgezeichneter Ort für die Kunstproduktion sein“, meint er. Derzeit lebten rund 300 Künstler im Quartier. Die Kunst sei allerdings nur eine Art Sahnehäubchen, meint ­Niemeyer. Die Gewerbeflächen seien inzwischen ­generell stark nachgefragt. Es gab Zeiten, als in Oberschöneweide jeden Tag 25.000 Leute die Wilhelminenhofstraße überquerten, um zur Arbeit zu gehen. Diese Zeiten sind längst Vergangenheit.

Die Frage, die jetzt entschieden wird, ist für die Zukunft ausschlaggebend: Wie viel Arbeit und Gewerbe und wie viel – und welche Art von – Wohnen braucht das Quartier?

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