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Vertrauenssache: Die australische Compagnie Gravity & Others Myths zeigt „The Mirror“ im Chamäleon Theater

Das Chamäleon Theater hat sich neu aufgestellt. Als Kreationshaus für Neuen Circus präsentiert sie die Uraufführung „The Mirror“ von der australischen Neue-Circus-Gruppe Gravity & Other Myths

Schwerkraft ist nur ein Mythos: Die australische Compagnie Gravity & Other Myths im Chamäleon Theater. Foto: Andy Phillipson

Die durch die Pandemie erzwungenen Lockdowns hat Kulturbetriebe und insbesondere die Privattheater bekanntlich hart getroffen. Auch das Chamäleon Theater konnte nur Dank des Rettungsdarlehens eines Gesellschafters und staatlicher Hilfen überleben. Doch gleichwohl, es war nicht alles schlecht am Lockdown, meint die künstlerische Leiterin Anke Politz: „Die existentiellen Unsicherheiten haben uns dazu gebracht, noch tiefer und nachdenklicher in den Prozess einzutauchen, wer wir sein wollen und wie wir arbeiten wollen.“

Das Chamäleon Theater wird zum Kreationshaus und vereint Entertainment mit Avantgarde

Die schon begonnene Neuausrichtung weg von einem Gastspielthea­ter hin zu einem Produktions- und Krea­tionshaus für Neuen Circus, die Einführung neuer Publikumsbeteiligungsformate und die Umwid­mung des Unternehmens zu einer gemeinnützigen Gesellschaft sind Ergebnisse dieses Neuerfindungsprozesses. Für ein unsubventioniertes Theater erstaunlich wagemutige Schritte.

Zumal hierzu auch gehört, dass das interdisziplinär Akrobatik, Tanz und Theater zusammenführende Genre Neuer Circus nicht nur Entertainment sein will sondern eben auch Avantgarde, also auch irritierend, ungewöhnlich, sperrig. „Unser Publikum ist viel offener, als wir oft denken“, sagt Politz. „Wir können durchaus darauf vertrauen, dass es unseren zeitgenössischen Weg mitgeht.“

Vertrauen also. Davon profitiert auch Dracy Grant, Regisseur und Kopf der australischen Gruppe Gravity & Other Myths, die jetzt als Artists in Resi­dence des Chamäleons nicht nur ihre Erfolgsprodution „Out of Chaos“ spielen werden, sondern ihre neueste Produktion „The Mirror“ hier erarbeiteten und nun uraufführen. „Die Einladung eine Produktion völlig frei zu erarbeiten, mit einem halben Jahr garantierter Spielzeit sowie genügend Produktionsgeld, das war während des australischen Lockdowns wie ein Geschenk für uns als unsubventionierte Gruppe. Das Vertrauen und die Bedingungen, die das Chamäleon uns bietet, sind außergewöhnlich.“

Graviry & Other Myhts ist eine mehrfach ausgezeichnete zeitgenössische Circustruppe

Anke Politz vertraut natürlich nicht blind. Gravity & Other Myths zeigte zur Spielzeit 2019/20 ihre Produktion „Out of Chaos“ bereits sehr erfolgreich im Chamäleon, die Truppe genießt international mit ihren mehrfach ausgezeichneten Stücken hohes Ansehen. In diesem Jahr eröffnete sie das renommierte Edinburgh International Festival, das damit erstmals in seinem 75-jährigem Bestehen mit Neuem Circus aufmachte.

Ohne Vertrauen in die Anderen entsteht keine Pyramide: „The Mirror“ reflektiert auch den destruktiven Geist des Misstrauens. Foto: Andy Phillipson

Die Australier kamen nach Edinburgh aus Berlin, weil sie längst im Chamäleon an ihrer neuen Show feilten. „The Mirror“ reflektiert die neuen Unsicherheiten einer pandemiegeprüften Welt, die seit dem russischen Angriffskrieg mit steigenden Energiepreisen und Inflation zu kämpfen hat. Und on top die Klimakrise.

„Wir spüren alle, dass nichts mehr so sein wird wie früher“, sagt Darcy Grant. „Wir versuchen das zu reflektieren, um uns zu besinnen.“ Autokraten wie Putin oder Trump würden an der Verunsicherung und gegen das Vertrauen in die Demokratie arbeiten. „Wenn wir als Artisten Menschenpyramiden bilden, ist ja die Basis das Vertrauen darauf, das ich gehalten und aufgefangen werde. Wir erarbeiten das Stück mit einer neuen choreografischen Idee namens ,Never let them know your next move‘. Es werden Angebote gemacht, die untergraben werden, du weißt nie genau, was passieren wird.“

Erstaunlich lässig gebildete Körperpyramiden bis hoch in den Bühnenhimmel

Das Ergebnis ist derzeit fast allabendlich zu bestaunen. Und wer glaubt, dass der Bühnenvorhang im modernen Theater keinen Platz mehr hat, der wird hier eines besseren belehrt. Immer wieder öffnet, zieht und schießt ein Akrobat der Compagnie schwarze Vorhänge über und auf der Bühne, gibt dabei kurz den Blick frei auf wechselnde Tableaus von Menschenpyramiden. Dabei kontrastiert der live von Ekrem Phoenix gesungene, allzu pathetische Soundtrack mit den durchaus selbstironischen Szenen der körperlich angenehm diversen Company.

Besonders der gefühlt endlos ausgewalzte, feierlich vorgetragene Gershwin-Klassiker „Sommertime“ in der ersten Hälfte des Programms wirkt in dieser Redundanz unpassend zu den stetig wechselnden, akrobatischen Szenen, die mit Sinn für Ironie lässig Körperpyramiden aller Art bilden, mitunter Inseln von liebender Zweisamkeit in der Gemeinschaft zeigen, bevor die Gruppe die Individualität zur nächsten Herausforderung aufhebt.

Im zweiten Teil tritt dann zunehmend die Irritation ins Geschehen. Einige Artist:innen unterlaufen das akrobatische Bemühen, verweigern das Erklimmen der Menschenpyramidenspitze. Misstrauen statt Vertrauen macht sich breit, doch es gibt immer wieder Momente der Solidarität, Kollegialität, Wertschätzung, die das grundsympathische Ensemble ins Spiel bringt. Das Motiv der Selbstbespiegelung, das „The Mirror“ schon im Titel anlegt, wird eher nebenbei erzählt im flakernden Licht von Neonröhren und eines Projektionsscreens. Trotz des eigentlich schweren Themas, lässt die Truppe alles leicht erscheinen und zeigt mit Humor und Verletzlichkeit, welche kreative Kraft im Gemeinsinn steckt.

  • Chamäleon Theater, Rosenthaler Str. 40/41, Mitte, „The Mirror“, bis 30.10., „Out of Chaos“ 2.11-31.12., jew. Di–Fr 20 Uhr, Sa/So 18 Uhr, 37-61, erm. 19 €

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