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Kabarett

30 Jahre Bar jeder Vernunft: Zum Geburtstag gibt’s legendäre Programme

Gelungene Vereinigung von Hoch- und Subkultur: Zu ihrem 30-jährigen Jubiläum präsentiert die Bar jeder Vernunft das ganze Jahr über legendäre Programme der Anfangsjahre. Los geht es mit der einmaligen Reunion der ­Geschwister Pfister in vier­köpfiger Originalbesetzung.

Zum 30. Jubiläum spielen die Original-Geschwister Pfister als wär’s wieder 1992. Foto: Christian Grund

Die Geschwister Pfister: Wohnsitz Las Vegas, sagte man

Im Frühsommer 1992 war im beschaulichen ­Westen Berlins die Welt noch in Ordnung. Die Aufregung um den Mauerfall hatte sich gelegt, das Schillertheater war noch Staatstheater, und keiner ahnte, dass es ein Jahr später dichtgemacht werden würde. Die Rollen im Kulturbetrieb waren klar verteilt: Kleinkunst, also Kabarett und Cabaret, gab es in Läden wie dem BKA, dem Unart und dem Mehringhof-Theater, Großkunst in Schaubühne, Schiller- und Deutschem Theater.

Beim 29. Theatertreffen im Mai waren aus Berlin die Schaubühne mit Botho Strauß’ „Schlußchor“ dabei und erstmals mit dem Teatr Kreatur auch eine Off-Bühne. Im Rahmenprogramm lief in der Kassenhalle der Freien Volksbühne an der Schaperstraße das musikkomö­diantische Programm „Melodien fürs Gemüt“ von ­einer vielsprachigen Showfamilie: die Geschwister Pfister, angeblich aus dem Schweizer Zermatt mit Wohnsitz Las Vegas. Ein Vorgeschmack auf Kommendes. Denn kaum war das Theatertreffen vorbei, da wurde auf dem Parkdeck neben der Freien Volksbühne (heute: Haus der Berliner Festspiele) ein Spiegelzelt errichtet.

Die Trennung von Hoch- und Subkultur wurde aufgesprengt

Niemand ahnte, dass im gepflegten Rahmen die­ses holländischen Vergnügungszelts aus den 20er-Jahren eine Revolution vonstatten gehen würde. Noch bevor im Herbst des Jahres Frank Castorf an der Volksbühne beginnen sollte, das Theater völlig neu zu definieren, machten sich mit Holger Klotzbach und Lutz Deisinger zwei Kulturmanager daran, die gutbürgerliche, sauber gepflegte Trennung zwischen Hoch- und Subkultur sowie Kleinkunst aufzuhebeln.

Schon das Eröffnungsprogramm am 5. Juni 1992 mit dem surrealistischen Musiktrio Ars Vitalis konnte irritieren. Ihr „Muzik als Theater“ schien tatsächlich bar jeder Vernunft, der ­Spiegelzeltname also Programm. Doch Klotzbach und Deisinger ­taten etwas sehr Vernünftiges und Kluges. Sie banden das Personal, das eben noch auf dem Theatertreffen hohe Kunst zelebrierte, in ihr Zelt ein.

Schaubühnen-Mimen wie Otto Sander, Gerd ­Wameling und Christoph Märti (heute besser ­bekannt als Ursli von den Geschwistern Pfister) ­tummelten sich im Publikum und bald auch auf der Bühne. Dazu Fassbinder-Schauspielerinnen wie Brigitte Mira und Hanna Schygulla, Staatstheater-Diven wie Walter Schmidinger und Angela ­Winkler. Daneben machte die Bar jeder Vernunft eigene Künstler groß: Chansonetten wie Georgette Dee, Kabarettsänger wie Tim Fischer, hintersinnige ­Musikkomödianten wie Thomas Pigor und Benedikt Eichhorn, Showstars wie Gayle Tufts und Popkultur-Parodisten wie die Geschwister Pfister.

Maren Kroymann ist Schirmherrin des Jubiläumsjahres

Zu den Bar-Künstlerinnen gehört auch Maren Kroymann, die seit 1982 mit ihrem ersten Bühnenprogramm „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ durch Berlins Neben- und Kellerspielstätten getourt ist und in der Bar jeder Vernunft endlich einen angemessenen Aufführungsort gefunden hatte. Sie ist nun Schirmherrin des 30. Geburtstags.

Cora Frost und Tim Fischer singen berühmte Duette: Niemand liebt Dich so wie ich. Foto: Benno Kraehahn

Die Geschwister Pfister eröffnen das Feierjahr und machen dem Spiegelzelt zum runden Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk: Sie wiedervereinigen sich zu ihrer Originalbesetzung von 1992, also Ursli (Christoph Märti) und Toni Pfister (Tobias Bonn) noch ohne Fräulein Schneider dafür mit Lilo (Lilian Naef) und Willi Pfister (Max Gertsch). Sie bringen mit „Melodien fürs Gemüt“ eben jenes „wunderbare Musikprogramm mit Schmalz und Swing“ („taz“) zurück, das sie 1992 nebenan und dann bald auch in der noch ebenerdigen Bühne der Bar jeder Vernunft aufführten. Die Pfisters gehörten schnell zu den Stammkünstlern der Bar jeder Vernunft. Drei der vier Protagonisten waren Ensemble­mitglieder der Schaubühne, wo sie Otto Sander, ein Schirmherr der Bar jeder Vernunft, entdeckte. Sanders sonore Stimme ist noch heute mit der Abendansage im Zelt zu hören.

Alle waren Protagonisten der legendären „Weißen Rößl“-Produktion von 1994, und mit weiteren Eigenproduktionen wie „Drei alte Schachteln“ (1998), „Cabaret“ (2004), „La Cage aux Folles“ (2014) und „Frau Luna“ (2018) haben Bar jeder Vernunft und das genau zehn Jahre jüngere Schwesternzelt Tipi gezeigt, dass das Genre Kleinkunst kaum passend ist, weil neben der Qualität auch der Aufwand ähnlich hoch sein kann wie bei Produktionen der Hochkultur.

Sicher, die Bar jeder Vernunft macht als unsubventioniertes Theater keine Avantgarde, sie will ihr Publikum nicht anstrengen oder blessieren. Es ist immer Unterhaltung – aber eben mit Anspruch, wobei die Zugeständnisse an ­Massenkompatibilität besonders beim großen Tipi wohl unumgänglich sind.

Die legendären Nachtsalons: mitternächtliche Mischung aus Tingeltangel, Absturzkneipe, Promitreff und Talentschmiede

Denn fast wäre 1992 die erste Saison der Bar ­jeder Vernunft auch die letzte geworden, so schlecht lief es anfangs. Mit Meret Beckers Varietéshow ­„Tabernac“ kam 1993 die Wende. Sechs Wochen ausverkauft! „Damit gelang der Neustart“, erinnert sich Zeltechef Holger Klotzbach erleichtert. „Und dann gab es die heute legendären Nachtsalons. Da haben wir uns wirklich das Programm ersoffen.“

Für vier Nächte wird diese „andere Dimension der Nacht“, wo sich Sub- und Hochkultur in Rauch und Rausch vereinten, zum Jubiläum wiederbelebt. Meret Becker, damals eine Entdeckung der Nachtsalons, präsentiert und führt durch den wiedereröffneten Nachtsalon, eine mitternächtliche Mischung aus Tingeltangel, Absturzkneipe, Promitreff und Talentschmiede. Mit Cora Frost und Tim Fischer singen im Mai zwei Stars des Spiegelzelts gemeinsam berühmte Duette und behaupten „Niemand liebt dich so wie ich“.

Rosa von Praunheims Kultfilm „Die Bettwurst“ wird zum Musical

Im Juni gratulieren Georgette Dee und Terry Truck der Bar jeder Vernunft mit „All of Me“, einem Best-of-Programm aus 30 Jahren „Lebenslieder“. Und im September kommt dann noch eine neue Eigenproduktion der Bar jeder Vernunft: Rosa von Praumheim inszeniert seinen frühen Kultfilm „Die Bettwurst“ als Musical mit Anna Mateur und Heiner Bomhard. Das kann ja was werden!


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