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55 Jahre Grips Theater: Einflussreich, stilbildend, vorbildlich

Gut 30 regel­mäßige ­Kindertheater und -spiel­orte gibt es in ­Berlin, dazu ­dutzende Freier ­Ensembles. ­Stil­prägend für das ­moderne Kinder­theater und mit ­welt­weiten ­Einfluß seit 55 Jahren dabei: Das Grips-Theater.

Die Grips-Erfolgsgeschichte beginnt 1969 mit dem ersten Kinderstück „Stokkerlok und Millipilli“ über Verbote, Machtmissbrauch und zu wenig Spielplätze. Foto: Frank-Roland Beeneken / Grips-Theater

Hat jemand noch nicht die „Linie 1“ gesehen? Das wäre erstaunlich. Seit der Uraufführung 1986 haben allein die Originalinszenierung des Berlin-Musicals vom Grips-Theater über 700.000 Menschen gesehen. Zählt man die zig Nachinszenierungen überall in Deutschland und weltweit von Brasilien bis Südkorea hinzu, sind es vermutlich mehrere Millionen. „Linie 1“ ist der Repertoirerenner des Tiergartener Theaters und in manchen Jahren verdankt die chronisch unterfinanzierte Bühne dem Stück sogar sein Überleben. Steht „Linie 1“ auf dem Spielplan, seit vergangenem Jahr in einer Neuinszenierung, ist der Abend zuverlässig ausverkauft. Es ist die eierlegende Wollmilchsau des Grips-Theaters.

Aber als Musical für Menschen ab 16 Jahren ist es eigentlich kein typisches Stück für das Grips-Theater, obwohl das Tiergartener Kinder- und Jugendtheater in seinen Stücken stets mit Songs arbeitet. Und viele der Lieder, die damals Birger Heymann wie Popsongs komponierte, sind heute Kinderliedklassiker: „Man muss sich nur wehren“, „Wir werden immer größer“, „Doof gebor’n ist keiner“, „Meins oder deins“, „Mattscheiben-Milli“ und viele, viele mehr.

Kein Märchenschloss sondern der Alltag der Kinder steht im Mittelpunkt

Doch das Grips-Theater, 1969 hervorgegangen aus dem „Berliner Reichskabarett“, bis 1972 hieß es daher auch „Theater für Kinder im Reichskabarett“, steht für ein Kindertheater, wie es es zuvor nicht gab. Seit dem 19. Jahrhundert bestand Kindertheater in Deutschland fast ausschließlich aus Weihnachtsmärchen oder moralisierend-didaktischen Erziehungsstücken, die an das „Gut-Böse-Schema“ des Märchens anknüpften und allenfalls harmlos unterhaltend waren, gegenwartsbezogene Stücke wurden kaum gespielt. Mit all dem räumte das Grips-Thea­ter gründlich auf.

Aus dem Geist des Kabaretts und den Impulsen aus studentischer 68er-Revolte, sozialdemokratischer Erneuerungspolitik und sozialliberaler Bildungsreformkraft entwickelt ein Ensemble um den Kabaretttexter Volker Ludwig ab 1969 eine schnell bundesweit (und in der Folge auch weltweit) stilbildend werdende Form des Kindertheaters: Realistisch, dicht an der kindlichen Lebenswelt und keineswegs von irgendwo hinter den sieben Bergen. Das Grips-Theater stellt kein Prinzenschloss sondern den Alltag seines jungen Publikums in den Mittelpunkt. Mit frechen Liedern zum Mitsingen und einer ungewohnt realistischen Spielweise werden die Geschichten in kurzen prägnanten, auch witzigen Szenen vorgeführt, es werden lustvoll Konventio­nen und Regeln infrage gestellt und soziale Kompetenz wird erprobt. Das Label dafür ist auch bald gefunden: „Emanzipatorisches Kindertheater“. Und ein zweites kommt dazu: „Mutmachtheater“.

Das erste Ensemblestück: „Balle, Malle, Hupe und Artur“ (1971). Foto: Frank-Roland Beeneken / Grips-Theater

Von 1969 (dem ersten Kinderstück „Stokkerlok und Millipilli“) bis 1975 (dem ersten Jugendstück „Das hältste ja im Kopf nicht aus“) kommen zwei bis drei Stücke pro Jahr zur Premiere. Das „Thea­ter für Kinder“, das sich 1972 mit der Premie­re von „Mannomann“ (des sechsten Kinderstücks) in Grips-Theater umbenennt, schuf sich in rasanten Tempo sein eigenes Repertoire – von Ensembleproduktionen wie „Balle, Malle, Hupe und Artur“ über Mehrautorenstücke wie „Doof bleibt doof“ bis zu Alleinautorenstücken wie „Trummi kaputt“, heute alles Klassiker des modernen Kindertheaters. Hauptautor dabei und auch Texter der meisten Grips-Lieder ist fast immer der Kerngründer des Grips-Theaters: Volker Ludwig.

Schon bald nach der Uraufführung wurden die frechen Grips-Stücke in vielen Stadt- und Staatstheater nachinszeniert. „Von Bremen bis Konstanz, Köln bis Ingolstadt“, erinnert sich Ludwig in der Festschrift zum 50. Jubiläum des Grips-Theaters, „öffneten die Häuser ihre Studios und Malersäle und spielten Grips. Außerhalb der Weihnachtszeit! Das ganze Jahr über!“ Bald werden Grips-Stücke auch in Schweden, der Schweiz und weiteren Ländern adaptiert, Volker Ludwigs „Max und Milli“ von 1978 wird in über 20 Sprachen übersetzt und avanciert mit über 100 Nachinszenierungen in 28 Ländern aller Erdteile zum weltweit meistgespielten Stück für Kinder. ­Heute zählt der inzwischen 87-jährige Kindertheaterpionier zu den meistgespielten zeitgenössischen deutschsprachigen Bühnenautoren im Ausland (ja, nicht Jelinek, auch nicht Handke oder Herrndorf – Volker Ludwig!).

Das Grips wird zum weltweiten Vorbild

Zur deutschlandweiten Verbreitung der Grips-Ästhetik half damals auch die Ausstrahlung dieser Produktionen durch den WDR, Sonnabendnachmittags im Ersten Programm! Auch als Hörspielplatten kamen die Stücke heraus und die Lieder brachte der Wagenbach Verlag in LP-Kompilationen als „Grips Paraden“ auf den Markt. Viele Kinder lernten das Grips-Theater zuerst über diese Tonträger kennen. Etwa heute bekannte Schauspielerinnen wie Meret Becker, deren erste Schallplatte „Balle, Malle, Hupe und Arthur“ hieß, oder Katha­rina Wackernagel, die erzählt, dass sie als Siebenjährige in Kassel Grips-Stücke, die sie auf Platte hatte, aus Begeisterung mit anderen Kindern nachspielte. Auch heutige Theaterstars wie Lars Eidinger oder der Regisseur Ersan Mondtag leckten als Kinder und Jugendliche erstes Theaterblut im Grips.

1973 sorgte das erste Aufklärungsstück „Darüber spricht man nicht“ vom Theater Rote Grütze für Furore und Eklats. Foto: Theater Rote Grütze

Vielen freien Gruppen, die für ein junges Publikum spielen wollten, diente das Grips-Theater zum Vorbild. So sind in Berlin etwa Bühnen wie das Theater Strahl und das Musiktheater Atze vom rea­listischen und emanzipatorischen Theaterverständnis des Grips beeinflusst. Direkt aus dem Grips-Ensemble heraus hat sich bereits Anfang der 70er-Jahre das Theater Rote Grütze entwickelt, das mit seinen heute legendären Aufklärungsstücken „Darüber spricht man nicht“ und „Was heißt hier Liebe?“ für Furore in Jugendfreizeitheimen und Schulaulas und für Unruhe und Ablehnung in konservativen Kreisen sorgte.

Anfeindungen erlebte freilich auch das antiautoritäre Grips-Theater, obwohl manch CDU-Politiker heute gar nicht gerne daran erinnert wird. In den Siebzigern gab es in West-Berlin einen regelrechten Theaterkampf um das „linke“ Kinder- und Jugendtheater, das sich ­partout­ ­weigerte, den lieben Kleinen Schlaftabletten in Form von Märchenstücken zu verabreichen, sondern stattdessen erfolgreich „Aufweck-Stücke“ erstellte.

Es gab Boykott-Aufrufe, Auftrittsverbote und eine Diffamierungskam­pagne von Teilen der Springerpresse und natürlich handelte sich ein Theater, das den Finger auf gesellschaftliche Missstände legt, umgehend den Kommunismus-Vorwurf ein, sogar eine Nähe zur RAF ­wurde dem Theater unterstellt. Während das Grips-Theater 1976 mit seinem ersten Jugendstück „Das hältste ja im Kopf nicht aus“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, waren Aufführungen seiner Stücke in allen CDU-regierten Bezirken verboten, die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus forderte die Streichung sämtlicher Subventionen und das Verbot von Schulklassenbesuchen.

Kindertheater in der DDR: hoch subventioniert aber unkritisch

Während sich also die West-Berliner CDU an Liedzeilen wie „Wäre das nicht fabelhaft: Mein und Dein wird abgeschafft!“ störte und sich das brave Märchenthea­ter zurückwünschte, war die Situation im Ostteil der Stadt schon weiter. Hier wurde Theater für Kinder finanziell auf Augenhöhe mit dem für Erwachsene behandelt: In Leipzig, Dresden, Ost-Berlin und Halle gab es seit den frühen 50er-Jahren ­feste staatliche Kinder- und Jugendthea­ter, das größte davon in Ost-Berlin: das Thea­ter der Freundschaft, heute Theater an der Parkaue.

Vom aufklärerischen Geist des Grips war man jedoch weit entfernt. Die Stücke im Spielplan sollten der realsozialistischen Erziehung dienen, kritisches Denken war eher nicht gewünscht. So waren auch hier, weil unverfänglich, gern Märchen in parabelhaften Bearbeitungen angesagt. Als nach der Wende 1991 der Grips-Theatererfahrene Regisseur ­Manuel Schöbel als Intendant berufen wurde, zog auch in Lichtenberg das emanzipatorisch-realistische Theatervorbild des Grips ein.

Die Kindertheaterlandschaft ist in den letzten 50 Jahren vielfältiger geworden, das emanzipatorische Grips-Modell hat weltweit Nachfolger gefunden. Allein in Berlin gibt es heute eine einzigartige Vielfalt und Anzahl an Kindertheater-Angeboten und -Akteuren. Das sind Kinder- und Jugendtheater mit eigener Spielstätte vom Atze Musiktheater bis zur Thea­ter Zitadelle, dazu dutzende freie Kinder- und Jugendtheatermacher und -gruppen ohne eigene Spielstätte wie das englischsprachige Jugendtheater Platypus oder das Kollektiv Zirkusmaria sowie Gastspielbühnen mit Repertoirebetrieb wie die Astrid-Lindgren-Bühne im FEZ Berlin oder die Schaubude Berlin. Und auch die ästhetische Breite ist inzwischen enorm vielfältig vom Figurentheater, Tanz und postdramatischer Performance bis zur Kinder­oper.

Und selbst die Stadttheater, die einst nur einmal im Jahr in der Vorweihnachtszeit für junges Publikum produzierten, haben mit Jugendclubs und thea­terpädagogischen Angeboten längst das Erwachsenenpublikum von morgen im Blick. Dabei sind in den Jugendsparten wie Junges DT oder dem P14 Jugendtheater der Volksbühne junge Menschen nicht nur als Zusehende gefragt; sie ­stehen mitunter gemeinsam mit Ensemblemitgliedern auf der Bühne, entwickeln eigene Stücke.

Theaterpädagogischer Vorreiter, ­etwa in Formaten wie den Klassenzimmerstücken, ist auch hier das Grips. Inzwischen 55 Jahre jung. „Das Hauptthema unserer ersten Kindertheaterstücke ist inzwischen obsolet“, meint Ludwig. „Kinder wurden damals unheimlich autoritär erzogen, regelrecht unterdrückt.
Das ist heute vorbei. Aber es gibt andere Themen, die Kinder bewegen, wir nehmen uns ihrer Probleme an und machen darüber wirkungsvolle Stücke, die ihre soziale Fantasie entzünden sollen. Sie sehen Beispiele auf der Bühne, dass man sein Leben auch anders gestalten kann und dass es nicht völlig sinnlos ist, etwas zu unternehmen.“

Grips-Theater, Altonaer Str. 22, Tiergarten, Webseite

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