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Uraufführung

In Prenzlauer Berg dominiert dieses „uns kann nichts passieren“-Gefühl: „abgrund“ an der Schaubühne


Distinktionskämpfe, Lavendelöl und andere Desaster: Maja Zade über ihr Stück „abgrund“

abgrund von Maja Zade, Regie: Thomas Ostermeier, Foto: Arno Declair

tip Frau Zade, eine unvermeidbare Einstiegsfrage: Gab es für Ihr Stück „abgrund“, das Thomas Ostermeier jetzt an der Schaubühne inszeniert, einen konkreten Auslöser?
Maja Zade Es gab eine Serie von Abendesseneinladungen, über ein paar Monate verteilt, bei Freunden und Bekannten und auch bei mir zu Hause, wo ich nach jedem Abend das Gefühl hatte, dass die Gespräche, die geführt wurden, nahezu identisch waren, dass man Klischees und Wort­hülsen ausgetauscht hatte und immer an der Oberfläche geblieben war. Und ich war auch, und das war vielleicht das Verstörendste daran, geschockt davon, was ich an diesen Abenden selber für verbalen Schwachsinn produziert habe.

tip Was ist so schlimm an Abendgesellschaften, die sich endlos über Lavendelöl, Tapeten, die neue Küche, das Sexleben von 40-jährigen Singles, Dinkelbrote, Karibikurlaube, Erbschaften, Geflüchtete, Theaterbesuche und Immobilienkäufe unterhalten?
Maja Zade Ich glaube, das Schlimme ist, dass es nie in die Tiefe geht. Per se ist ja keines dieser Themen schlimm, aber was es grotesk macht, ist das Surfen von Thema zu Thema, wo dann die Frage, in welchem Laden man das Dinkelbrot kaufen soll, genauso viel Raum einnimmt, wie was man für Geflüchtete tut oder nicht tut.

tip Also ist es nur ein Stück über den fehlenden Tiefgang im Smalltalk auf Abendgesellschaften?
Maja Zade Dieser Smalltalk ist das äußerliche Symptom für etwas, was in der Gesellschaft krank oder deformiert ist, denke ich – Egozentrik, Überforderung, Verdrängung. Mich hat es gereizt, diese Oberfläche unter die Lupe zu nehmen, weil sich gerade dadurch, wie sich diese Gesprächsdynamiken bewegen, welche Formulierungen und Worte gewählt werden, sich das, was darunter liegt, umso verheerender entlarvt.

tip Ist die Blindheit Ihres Personals aus dem arrivierten Kreativ- und Akademikermilieu gegenüber den eigenen ökonomischen Privilegien zynisch und obszön? Und ist diese Blindheit typisch für dieses diffus kultur-linke, selbstgefällige Milieu?
Maja Zade Na ja, ich hab die Berufe der Beteiligten bewusst nicht reingeschrieben. Zu dem Milieu, von dem das Stück handelt, gehören Anwälte und Ärzte, aber natürlich auch das Kreativmilieu. Das Stück spielt in Prenzlauer Berg, aber nur die Gastgeber wohnen dort, insofern ist es kein Stück über den Prenzlauer Berg. Diese Leute gibt es in allen Stadtteilen, wobei es vielleicht in Prenzlauer Berg eine größere Ballung davon gibt. Ich weiß aber gar nicht, ob ich sagen würde, dass die Figuren im Stück grundsätzlich blind oder obszön sind. An dem Abend, an dem das Stück stattfindet, trifft das vielleicht zum Teil zu. Aber ich glaube, in einer Gruppe passieren Dinge und Gespräche, die nicht stattfinden, wenn zwei Leute miteinander reden. Der Kampf um soziale Distinktion deformiert, das Ringen um eine Hackordnung, die durch finanzielle Errungenschaften, durch das Zurschaustellen der eigenen Bildung hergestellt wird.

Die 46-Jährige, aufgewachsen in Deutschland und Schweden, ist seit 1999 Dramaturgin an der Schaubühne. Vorher studierte sie englische Literatur in London und Kanada. Zade übersetzte Lars von Trier, Caryl Churchill u.a. ins Deutsche und Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig oder Falk Richter ins Englische. „abgrund“ ist nach „status quo“, das vor kurzem an der Schaubühne zur Uraufführung kam, ihr zweites ­Theaterstück. Foto: Arno Declair

tip Was ist der moralische Preis dieser Mischung aus Milieu-Selbstgefälligkeit, Distinktionsspielen, Dauer-Selbstinszenierung und Ignoranz gegenüber Leuten, die ganz andere Probleme haben?
Maja Zade Es wäre jetzt leicht, zu sagen, der moralische Preis ist emotionale Abstumpfung und die Unfähigkeit, Empathie für andere Leute zu empfinden. Aber da ich selber zu diesem Milieu gehöre, würde ich behaupten, dass es etwas komplexer ist, dass man sich in sozialen Stresssituationen so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass man alles andere aus den Augen verliert. Und in solchen Situationen zeigen die Menschen sich sicher nicht von ihrer besten Seite.

tip Gehen Ihre „abgrund“-Selbstgenuss-Bürger gerne in die Schaubühne?
Maja Zade Ha! Also im Stück interessieren die sich ja eher für Castorf und die alte Volksbühne. Insofern kann ich nur hoffen, dass mein Stück da vom Coolheitsfaktor mithalten kann und sich ein paar auch zu uns verirren.

tip Während Ihre Abendgesellschaft plaudert, geschieht im Nebenzimmer ein schreckliches Unglück. Zynisch gefragt: Ist das die gerechte Strafe für den Wohlstandsnarzissmus, der Einbruch der Tragödie oder des Schicksals ins Ennui- und Wohlfühlbiotop?
Maja Zade Es passiert eine Katastrophe, die nicht vorhersehbar ist und die letztendlich nicht zu erklären ist. Was mich daran interessiert, ist, wie die Figuren im Stück reagieren, wenn ihnen wirklich etwas zustößt, wie sich die Sprache dadurch ändert oder nicht. Mehr will ich eigentlich gar nicht interpretieren oder vorgeben. Wie man das, was passiert, einordnet, kann der Zuschauer oder die Zuschauerin dann selber entscheiden.

tip Sind private Katastrophen das schlimmste, was diesen Eigentumswohnungsbesitzern aus der Luxus-Boheme passieren kann?
Maja Zade Naja. Eine private Katastrophe ist für jeden schlimm, egal aus welcher Schicht er oder sie kommt, würde ich sagen. Oder anders gesagt: Ich möchte die Katastrophe nicht unbedingt moralisch einordnen oder werten.

tip Stimmen Sie Frank Castorf zu, wenn er sich wünscht, dass „das Mittelschichtsbewusstsein vom Prenzlauer Berg mit dem Gefühl, uns kann nichts passieren, vielleicht nur ein Zwischenstadium“ ist? Was kommt nach diesem saturierten, scheinbar friedlichen Zwischenstadium?
Maja Zade Ich weiß nicht, ich habe nicht den Eindruck, dass das Gefühl „uns kann nichts passieren“ dominiert. Mir kommt es eher so vor, als ob eine panische Angst herrscht vor dem sozialen Abstieg, von dem jeder weiß, dass er ganz schnell passieren kann, davor, dass man den Job verliert, das Gesparte in einer neuen Bankenkrise verschwindet, dass die Rente nicht reicht und eigentlich nur reichen wird, wenn man wohlhabende Eltern hat, die einem etwas vererben. Und diese darunterliegende Panik wird ständig gedeckelt und überspielt und führt dann zu solchen Gesprächen wie in meinem Stück.

Termine: abgrund an der Schaubühne

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