Luc Bondys Uraufführung von Yasmina Rezas Komödie „Drei Mal Leben“ am Wiener Burgtheater sorgte vor 20 Jahren für einen Spielplanhit mit knapp 100, in der Regel ausverkauften Vorstellungen
Jetzt versucht sich Andrea Breth im Berliner Ensemble an der Neuentdeckung der beiden Akademiker-Paare, die sich bei einer aus dem Ruder laufenden kleinen Party ihre Statuskämpfe und Ehe-Missverständnisse um die Ohren hauen. Sie sind unverkennbar französische, also deutlich zivilisiertere Wiedergänger der whiskyimprägnierten Ehekriegs-Veteranen aus Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“, der Mutter aller Zimmerschlachten.
Zu Rezas Raffinesse gehört, dass sie das in drei Varianten durchspielt, jedesmal mit Nuancen-Verschiebungen, mal krampfig verlogen um Fassadenwahrung bemüht, mal mit offensiver Kaputtheit, mal mit Nonchalance und Selbstironie, eben „Drei Mal Leben“. So entstehen lauter schön verdrehte Beispiele für das, was der Eheberater Niklas Luhmann die „Pathologie des ständigen Reflektierens, was der andere von einem erwartet, und das gleichzeitige Einbringen eines Höchstmaßes an Selbstverwirklichung“ nennt – ein zuverlässiges Rezept, um jede Beziehung unerträglich zu machen.
Der Astrophysiker Henri (Nico Holonics), beruflich eher erfolglos und optisch ein freundlicher Schluffi, hat, wie es sich im Eheduell gehört, eine toughe Karrierejuristin zur Gattin, die ihn offenbar aus reiner Großzügigkeit liebt. Constanze Becker zeigt sie als kluge Frau, die nicht nur ihren harmlosen Gatten, sondern auch den Rest der Welt nicht übertrieben ernstnehmen kann. Die Dummheiten und Zumutungen der bedauernswerten Mitmenschen-Trottel amüsieren sie aus sicherer Distanz.
Beschwingt von Selbstgenuss hebt sich ihre Stimme gerne zu einem leichten Singen, das gleichzeitig Spott und eisern gute Laune signalisiert. Das Desaster nimmt seinen Lauf, als der aus Karriereopportunismus eingeladene Physikerkollege und Starwissenschaftler Hubert samt schon etwas verblühtem Gattin-Dummchen Ines einen Tag zu früh zu Besuch kommt. Chips statt Dreigängemenü! Langeweile-Besäufnis statt gepflegter Konversation!
August Diehl macht aus Hubert im altmodischen, grauen Dreiteiler einen genauso grauen Machtstrategen, der sich ohne rechte Freude am servilen Gezappel Henris weidet. Die große Judith Engel führt vor, wie der Hang zum Sancerre, zu gesteigertem Plauder- und Anerkennungsbedürfnis, Zickigkeit, Körperakrobatik und leichtem Wahnsinn einen ziemlich unwiderstehlichen Komik-Cocktail ergeben.
Dennoch wirkt das Stück heute am Berliner Ensemble in Andrea Breths altmeisterlich gekonnter, in jeder Minute bewundernswert fein, klar, genau gearbeiteter Inszenierung mit vier glänzend aufgelegten Schauspielern seltsam aus der Zeit gefallen. Und das nicht nur, als einige Verwicklungen entstehen, weil der nervöse Nachwuchswissenschaftler Henri zuhause nicht ins Internet kommt („ich habe meinen Labtop im Büro gelassen“). Hat der arme Mann kein Smartphone? Vor allem: Haben diese Bürger gutbürgerlicher Pariser Arrondissements keine anderen Sorgen als den nächsten kleinen Karriereschritt, den nächsten kleinen Schwips, den nächsten kleinen Ehekrach, die nächste routiniert angebahnte Ehebruchs-Affäre?
Die vier durch den verunglückten Abend stolpernden Partygäste müssen Bewohner eines gemütlichen Frankreichs vor den Zeiten von Abstiegsängsten, Terroranschlägen, Klimawandel, Le Pen und den Sozialprotesten der Gelbwesen sein. Sie verplaudern ihre Zeit im Kokon ihrer Saturiertheit, selbst die lustig peinlichen Eskalationen sind nur Zuckungen einer wohlstandsgeschützten Befindlichkeit.
Das wäre im puren Boulevard-Spaß nicht weiter schlimm, nicht jede Beziehungskomödie muss die Weltlage zur Kenntnis nehmen. Aber bei Reza und erst recht bei der großen Seelenabgrund-Forscherin Andrea Breth sind wir nicht im Spaßpartyland. Unter der Oberfläche einer hochtourigen Komödie schimmern gut sichtbar immer der Ernst, die Melancholie, der Wahrheitsanspruch durch.
Breths Aufführung will schon auch sagen, wie einsam und verloren wir sind. Rezas Stück will durchaus zeigen, wie zeitgenössische Bürger und ihre handelsüblichen Lebenslügen so ticken und zicken. In einer deutlich gereizter, nervöser, in den Statusbewahrungskämpfen auch unübersehbar aggressiver gewordenen Atmosphäre wirken Rezas Befunde vom Ende des vergangenen Jahrhunderts ein wenig putzig und anachronistisch.
Termine: Drei Mal Leben am Berliner Ensemble