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„Angriffe auf Anne“: Jule Böwe mit dem Instinkt fürs Theaterglück

Was können wir voneinander wissen – und was wissen die anderen von uns? Das fragt Jule Böwe mit zwei Kollegen in „Angriffe auf Anne“ von Martin Crimp an der Schaubühne: Biografie als postdramatische Schnitzeljagd.

Jule Böwe sieht Defizite als Fundgrube. Die Schaubühnen-Schauspielerin ist in „Angriffe auf Anne“ zu sehen. Premiere: 16.2.2025. Foto: Niklas Vogt

Jule Böwe ist mit Entschiedenheit und Konsequenz zu einem Gesicht der Schaubühne geworden

Das lateinische Wort „Conservare“ heißt so viel wie „Erhalten“ und „Bewahren“ – und führte zu Begriffen wie „Konservatismus“ und „Konserve“. An beide denkt man allerdings nicht, wenn man Jule Böwe auf der Bühne oder im Film sieht: Da ist alles im Fluss und in Bewegung und voller lässig kaschierter Energie. Unverkennbar der oft cool nölende Tonfall, hinter dem sie empathisch die Verletzlichkeit und Gefährdung ihrer Figuren verbirgt. Privat aber sei sie, sagt Jule Böwe von sich, eine Bewahrerin und damit tatsächlich irgendwie konservativ: Sie hat ihr Festnetztelefon nicht abgemeldet, ihre Handynummer in den letzten Jahren nicht gewechselt, sie ist nicht umgezogen – und sie spielt seit 25 Jahren an der Schaubühne!

„Das passt eben einfach“, erklärt sie ganz entspannt. Der Wechsel um des Wechsels Willen ist nicht ihr Ding – was gut ist, soll gut bleiben. Sie läuft keinem Trend hinterher und hat nicht das Gefühl, dadurch etwas zu versäumen. Mit dieser Entschiedenheit und Konsequenz ist sie zu einem der Gesichter der Schaubühne geworden und bis heute eine so markante wie viel beschäftigte Schauspielerin.

„Angriffe auf Anne“: Postdramatische Schnitzeljagd

Ihre nächste Premiere ist „Angriffe auf Anne“, ein Erfolgsstück von Martin Crimp, das 1997 in London uraufgeführt wurde: „Manche in meinem Umfeld meinten, uff, das ist ja so was von Neunziger … Aber ich finde, es ist so was von aktuell! Denn es kreist um die Frage, was ein ‚Ich‘ ist und wie sich Identität definiert.“ Abgehandelt wird dies an einer Frau namens Anne, die jedoch niemals auftritt. Über sie wird alles Mögliche erzählt – dass es da eine tragische Liebesgeschichte gab, dass sie vielleicht in politische Verstrickungen geriet, dass sie eventuell zur Terroristin wurde … Was stimmt davon, was sind Fake News? Oder so: Was können wir voneinander wissen und was wissen die anderen eigentlich von uns?

Meine Figuren haben meistens einen Knacks weg, bloß den habe ich auch. Den hat doch jeder, oder?

Jule Böwe

Zusammen mit Marcel Kohler und Kay Bartholomäus Schulze wird sich Jule Böwe auf die vermutlich vergebliche Suche nach der Wahrheit in dieser postdramatischen Schnitzeljagd begeben. Regie führt dabei Lilja Rupprecht, die 2018 an der Schaubühne schon „Jeff Koons“ von Rainald Goetz inszenierte. Wie stets in ihrer künstlerischen Praxis wird sich Jule Böwe, die sich selbst als „Instinktspielerin“ bezeichnet, dem Text „zur Verfügung stellen“ und ihn durch sich hindurchfließen lassen: „Es ist der Text, der mich leitet, der etwas kreiert und die Figur entwickelt. Aber letztendlich bin es immer ich.“ Sie verschwindet in den fremden Worten, ohne sich darin zu verlieren, deshalb sind ihre Rollengestaltungen so doppelbödig. Insofern trifft es sich gut, dass sie ein Faible für schwierige Charaktere hat, die am Rand der Gesellschaft ansässig sind und außerhalb dessen, was gemeinhin als „normal“ gilt: „Ja, die haben meistens einen Knacks weg, bloß den habe ich auch. Den hat doch jeder, oder?“

Jule Böwe in „Shoppen & Ficken“ an der Schaubühne 2008 unter der Regie von Thomas Ostermeier. Foto: Gerlind Clemens

Thomas Ostermeier brachte Jule Böwe an die Schaubühne

Jule Böwe wurde in Rostock geboren und erlernte den Beruf der Ergotherapeutin, den sie ein paar Jahre lang ausübte. An die Schaubühne kam sie über die freie Szene, nachdem sie von allen Schauspielschulen abgelehnt worden war. Der Regisseur und Intendant Thomas Ostermeier erkannte ihr Talent und besetzte sie 1998 als junge Arbeitslose in „Shoppen und Ficken“ von Mark Ravenhill in der Baracke des Deutschen Theaters. Der Rest ist Theatergeschichte – alle machten eine steile Karriere.

Jule Böwe mit Peter Moltzen in „Der eingebildete Kranke“ in der Schaubühne, 2017, Regie Michael Thalheimer. Foto: Imago/Martin Müller

„Manchmal muss man einfach Glück haben, gerade als Schauspielerin“, betont Jule Böwe, und an der Schaubühne hat sie es gefunden. Allerdings ist es ihr wichtig, überdies regelmäßig vor der Kamera zu stehen, der Wechsel zwischen den Metiers inspiriert sie. Das können kleine Filme von Anfänger:innen sein, wenn ihr das Drehbuch oder die Rolle gefallen, das kann auch eine „Tatort“-Folge sein wie „Die Kalten und die Toten“, in der sie eine Löwenmutter zeigt, die ihren Sohn zuerst wild verteidigt und später seine Schuld einräumt. Dafür wurde sie 2022 mit dem Deutschen Schauspielpreis ausgezeichnet.

Ich arbeite seit dreißig Jahren nur mit Defiziten, weil ich das alles nicht gelernt habe, doch meine Defizite sind meine Fundgrube.

Jule Böwe

Wenn Böwe Anfragen bekommt, ob sie eventuell unterrichten möchte, lehnt sie trotzdem kategorisch ab: „Ich kann meine Arbeit schlecht in Worte fassen, ich erträume und erspüre viel, das kann ich nicht verbalisieren. Deswegen kann ich niemanden beim Rollenstudium begleiten oder für eine Prüfung vorbereiten.“ Dass sie meist als Off-girl gesehen wird, das eine ungewöhnliche, schrille Farbe in die Theaterwelt bringt, weiß sie – hingegen nicht, wie sie das anderen beibringen könnte. Hilfe verweigert sie indes nicht, wenn sie jemand darum bittet. Dann macht sie Mut: „Ich habe genau wie du auf die Schauspielschule gewollt, ich habe es nicht geschafft – und schau, wo ich jetzt bin. Ich arbeite seit dreißig Jahren nur mit Defiziten, weil ich das alles nicht gelernt habe, doch meine Defizite sind meine Fundgrube.“

„Angriffe auf Anne“ an der Schaubühne. Foto: Gianmarco Bresadola

Wer traut sich so etwas über sich zu sagen? Jule Böwe ist da ohne Hemmungen. Sie kann sich Understatement leisten, denn sie ist eine Klasse für sich. Mit „Angriffe auf Anne“ lässt sie sich wieder wagemutig hinaus ins Ungewisse eines Theatertextes treiben, ganz wie in dem Zitat von Jean Baudrillard, das Crimp seinem Stück voranstellte: „Keiner wird den wirklichen Gang solcher Ereignisse unmittelbar erfahren, aber jeder wird ein Bild von ihnen erhalten haben.“

  • Schaubühne Kurfürstendamm 152, Wilmersdorf, 16.2., 19.30 Uhr (Premiere), 17.2., 20 Uhr, Tickets und mehr Informationen hier

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