Die wilde Choreografin Constanza Macras ist an der Volksbühne angekommen, 2023 hatte dort ihr Stück „Drama“ Premiere. Ihr Tanztheater hat in Berlin viele Fans, begonnen hat die Geschichte mit Trinkgelagen, nächtlichen Polizeieinsätzen und Pop-up-Bühnen, später ging es weiter mit dem Vorwurf, Schuld zu sein am Ende der Hochkultur. Das dürfte man heute nicht mehr hören, Macras und ihr Dorky Park sind etabliert. Ein Porträt der Künstlerin von tipBerlin-Autor Arnd Wesemann.
Constanza Macras: Mit „Drama“ und „Future“ an die Volksbühne
Wer immer in Mitte wohnt, kommt kaum umhin, in der Ackerhalle an der Invalidenstraße einkaufen zu müssen. Einfach, weil es der einzige Supermarkt weit und breit ist. Vorn an der Ecke zur Brunnenstraße steht das hübsche Warenhaus am Weinberg, nach seinem Erbauer auch Warenhaus Jandorf genannt. Als es noch nicht saniert und in den Besitz von BMW und Daimler geriet, um heute die Firma ShareNow zu beherbergen, konnte man noch rein ins Ex-Kaufhaus, das einst sogar dem KaDeWe Konkurrenz machen wollte. In der Vorwendezeit war es bekannt als das „Haus der Mode“. DDR-Designer versuchten hier, den Jeans aus dem Westen Konkurrenz zu machen. In seinem original Berliner Zwischennutzungscharme diente es bald als so genannte Eventlocation und der „Fashion Week“.
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Auch Constanza Macras zog ihren Zwischennutzen. Die 800 Quadratmeter allein im Erdgeschoss, dazu die hochherrschaftliche Paradetreppen auf nacktem Estrich mit Graffiti auf abblätterndem Putz verwandelte die wilde Berliner Choreografin aus Buenos Aires in eine riesige Wohlfühlbühne mit Bar ohne Wasseranschluss, mit DJ ohne Allüren, mit einem Publikum ohne Ermüdungserscheinungen. Sechs Stunden lang dauerte die Partyperformance damals. Wer kam, blieb solange bei der Stange, bis alle glücklich genug waren, nicht mehr nach Hause zu wollen. Es gab nichts Virtuoses, kein Drama, nur Tanz. Überall passierte etwas, in den Schaufenstern, auf den Emporen, in den schummrigen Nischen. Das Publikum blieb angenehm auf Distanz. Ungefesselt von jeder Bestuhlung wurde es befreit von allem Rätselraten und jeder tieferen Bedeutung. Man schwamm einfach mit wie auf einer schwerelosen Oberfläche. Constanza Macras in ihren Mittzwanzigern, so schien es, wollte nichts anderes, als ihrem Publikum einen federleicht glücklich machenden Abend gönnen.
Die heute 52-jährige Choreografin, die mit „The Future“ an der Volksbühne zu sehen war und dort nun mit „Drama“ am 19. Januar 2023 eine weitere Premiere feierte, hat längst eine riesige Fangemeinde in Berlin, nicht nur, weil sie schon 2002 mit der „Rollenden Road-Show“ die Volksbühne bespielte. Immer konnte sie es sich leisten, nie auch nur einem Berliner Theater treu zu bleiben. Sie braucht auch keinen festen Spielort. Dafür braucht ihr Publikum den Navi oder einen Stadtplan, um ihr auf den Fersen zu bleiben.
Macras’ Kompanie hieß einst Lonely Tamagotchi
Gebt mal die Käthe-Niederkirchner-Straße 23 ein, ein Ladengeschäft im Bötzowviertel am Friedrichshain. Über dem Schaufenster steht „Fleischerei H. Nisch“. Der Fleischer ist längst raus. Im Polizeibericht findet sich unter dieser Adresse eine „mehrfache nächtliche Ruhestörung“. Damals hieß ihre Kompanie noch Lonely Tamagotchi, die am damals nahezu unbelebten Hackeschen Markt im Vorraum einer Bankfiliale mit zwei Plattenspielern und DJ das Tanzbein schwang, bevor man sich in Tamagotchi Y2K umtaufte, wie dieses Kultgadget aus den 1990er Jahren, und bevor man sich dann ganz seriös den Namen DorkyPark (Deppenpark) gab.
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Als Pop-up poppte diese Bande systematisch nicht nur bei freien Theaterhäusern auf, den Sophiensälen, dem Theater am Halleschen Ufer, der Tanzfabrik, dem Ballhaus Naunynstraße und dem damaligen Pfefferberg, sondern auch hier, in Friedrichshain, in einer klitzekleinen Keramikwerkstatt. Constanza Macras und ihre Mitstreiterinnen tanzten und tranken auf den Tischen ihr Stück „I drink to remember” – immer nur drei Minuten lang, kurz wie ein Videoclip. Dann gab es Drinks für alle – money makes the world go round. Schon ging es weiter. Sofort legte sich ein Flair von Rebellion und Pippi Langstrumpf in die Luft, voll unerschrockenen Wagemuts und jeder Menge Lust an der Lust. Das Publikum drückte sich an der Schaufensterscheibe die Nase platt, wenigstens so lange, bis die Polizei wannenweise anrückte.
Next Stop: Herrentoilette
Das war in den 2000er-Jahren, der großen Zeit von Sasha Waltz, dieser bekannten Berliner Choreografin, die – darin Macras nicht unähnlich – mit ihrem Stück „Allee der Kosmonauten” wenigstens zu Anfang ihr soziales Umfeld noch ins Visier nahm, um dann torpedohaft Mitintendantin der Schaubühne am Lehniner Platz zu werden, um ihr Radialsystem an der Spree zu erobern, und zuletzt, um als gescheiterte Co-Intendantin des Berliner Staatsballetts, ihr Fanal zu erleben. Constanza schien damals die kleine, wilde, unseriöse Schwester von Sasha Waltz zu sein. Während Waltz ihre damalige Schaubühne zur Eröffnung breitbeinig vom Dach bis zu den Bühnen bespielte, schlich sich Constanza Macras in die in Schwarzlicht getränkte Herrentoilette im Untergeschoss und zeigte dort ihr zartes „dolce vita – Odysee 2000”, in bewährter Manier. Das Publikum drängte und drängelte, kam, um sich zu amüsieren, und wurde von Constanza Macras zurück geliebt, nur, um nach vielen Stunden noch immer kein Ende zu finden. Damals titelte eine Berliner Boulevardzeitung: „Vom Olymp ins Pissoir“. Macras sei Schuld am Ende der Hochkultur. Danke, riefen viele.
Und so zog sie etwas später in die oberen Etagen um, verging sich gemeinsam mit dem Hausherrn Thomas Ostermeier an Shakespeares „Sommernachtstraum” (2006). Als Publikum betrat man die Schaubühne von hinten, erhielt auf der Bühne einen tüchtigen Schluck an der Bar, natürlich. Und dann ging es los mit der Hochkultur, mit ihrer treuen Mitstreiterin Almut Lustig am stets scharf berittenen Schlagzeug. Und ihren temperamentvollen Tanzfreund:innen Anouk Froidevaux, Hyoung-Min Kim, Denis Kuhnert, Johanna Lemke, Ronni Maciel und vielen, wirklich vielen anderen.
Constanza Macras ist schrecklich offen für alle
Denn das muss man Constanza Macras neidlos zuerkennen: Niemand sonst findet so freie, das heißt ganz und gar freie Tanzschaffende in der freien Szene wie sie – noch immer, als die Choreografin mit einem untrüglichen Gespür für Slapstick, Tiefgang und Wahnsinn. Dieses Talent ist ihrer Neugier geschuldet. Sie ist schrecklich offen für alle. Für türkisch-stämmige B-Boys in „Scratch Neukölln“ (2003) genauso wie für hiesige Sinti und Roma in „Open for Everything“ (2012).
Solche und andere Kreuz- und Quertänzer:innen trafen sich jahrelang im ehemaligen Fernmeldeamt in der Klosterstraße in Mitte – wieder so eine Immobilie, die man erst einmal finden muss. Hier entstand 2010 ihr Studio 44, ein Ort für Subcommunities, für die Macras schon im selben Jahr in ihrem Tanzstück „Berlin Elsewhere“ warb: für all die Unangepassten und die Unanpassbaren, die diese Stadt bevölkern. „Open for Everything“ trifft natürlich auch auf sie selber zu. Bevor sie 1996 nach Berlin kam, lebte sie in New York, im Umfeld der weltbekannten Choreografen José Limón und Merce Cunningham, und natürlich wäre sie gern ins legendäre New Yorker Studio 54 gegangen. Aber das gab es nicht mehr. Deshalb das neue Studio 44.
Dieses Studio ist ihr längst wieder gekündigt worden. Immobiliensuche ist ihr zweiter Beruf. Leerstehende Hallen wie zuletzt die Artis Halle, eine ehemalige Holzwerkstatt, findet sie in Berlin schneller als andere eine Wohnung. Sie macht das trotz ihres frischen Vertrags mit der Volksbühne, trotz deren Versicherung, dass sie es sei, die das Herz auf dem rechten Fleck hat im Milieu, eine Berlinerin, die nicht berlinert, aber mit schneller Zunge spricht: glaubwürdig, neugierig und immer komisch.
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An der Volksbühne gab es 2020 von ihr „The West“. Das Stück zeigte mehr als deutlich, was aus der Partyperformerin von einst geworden ist. Zumindest Spaßguerilla ist sie geblieben. Ihre Themen sind weiterhin nah an der Wirklichkeit. Darf man noch Cowboys gegen Indianer spielen? Natürlich nicht, sagt eine Mehrheit – und Macras ging los, um für ihre „Tanzdoku“, wie sie das nennt, die entsprechende Minderheit zu suchen. Dem Publikum zeigte sie, dass man in der Schule des Lebens nur wächst, wenn man sich Kurkuma statt Kümmel aneignet. Oder Yoga statt Turnen. So wird das Fremde vertraut. Für Kinder ist das Fremde noch fremder als für Erwachsene. Fremdes lauert überall, auf YouTube, im Cowboy- und Indianerspiel, in der eigenen Sexualität. Kinder sind es, die lernen, wie man die Fremdheit des Fremden aushebelt.
Macras‘ heftiges Kindertheater benötigt, um zu funken, seit Jahren einen wahrhaft kindgerechten Slapstick, mit Tänzen von Ronald McDonald, Mario Brother und dem Tiger aus dem Tank (der war mal Emblem der Esso-Tankstelle). Solche Stereotypen, Gute und Gegner, gab es schon immer. Nur gehört das, was fremd bleibt, seit den Zeiten der political correctness ins Reich des Bösen. Indianer, als wir sie noch spielen durften, gehörten eigentlich nicht dazu. Kinderbanden in Kreuzberg spielen jetzt Russen gegen Ukrainer. Weil sie das mit den Indianern nicht dürfen.
Ewige Sehnsucht nach Miami
Constanza Macras, aufgewachsen während der Militärjunta des Argentiniers Jorge Rafael Videla, erinnert sich an ihre eigene Kindheit, an die ewige Sehnsucht nach Miami. Dort waren die Fernseher viel erschwinglicher. Daheim in Argentinien müssen die Steckdosen so kraftvoll gewesen sein, dass die Geräte schon beim Einschalten den Geist aufgaben. Dennoch geprägt vom Fernseh-Pop jener Zeit, von Wonder Woman und Bionic Woman aus den 1970ern, von Kannibalenfilmen und Bonanza, schaut sie als Mutter ganz genau auf die Kinder von heute, die Pop nicht mehr als Pop lesen sollen, sondern auf einmal als korrekte Weltsicht.
Im Dezember 2021, wieder an der Volksbühne, in ihrem letzten Stück, „The Future“, geht es nicht um Zukunft, sondern um Mode. Statt der Lust, sich verkleiden oder zu stylen, geht die Next Generation bei H&M und Co. shoppen, zum Missfallen der einst ach so kreativen Elterngeneration. Macras liest ohne Scheu die Zukunft aus der Mode, die keine Zeit mehr hat für Haargel und ihre Doc Martens auch nicht mehr mit Paillettenkleider kombiniert. Auf der Bühne zitiert sie den ganzen Fernsehgarten ihrer Generation, die Welt, die einmal Pop hieß, und die während der Pandemie die einzige Welt war, die Kinder gefahrlos nutzen konnten. Macras beneidet sie darum kein bisschen. Stattdessen inszeniert sie ungerührt den Spaß, den sie früher hatte. Wild, ungestüm und krachend wird das Damals zu einem Comic für die Kinder von heute. Um sie vor ihren eigenen Eltern zu schützen.
- Drama von Constanza Macras, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Infos
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