Schließlich war soeben das Delphische Orakel (Bettina Hoppe) im Rahmen seiner Möglichkeiten wild gestikulierend aus dem Rollstuhl hochgefahren, um den unvermeidlichen Fluch: „Du wirst dein Geschlecht gegen dich selbst richten, Elender, Elender“ herauszubarmen.
Der libanesisch-frankokanadische Autor Wajdi Mouawad, der seit seinem vielgespielten Stück „Verbrennungen“ auch hierzulande in aller Munde ist, hat im Auftrag des französischen Regisseurs Dominique Pitoiset Teile diverser griechischer Tragödien von Sophokles bis Euripides gesampelt und zu einer Art Theben-Saga montiert. Gegen den Gedanken, Schuld und Sühne der Alten als strukturelle Folie für heutige Prozesse zu lesen, ist prinzipiell natürlich nicht das Geringste einzuwenden – im Gegenteil. Inszenierungen wie Dimiter Gotscheffs „Perser“ am Deutschen Theater zeigen ja tatsächlich in Bestform, dass wir in den wesentlichen Punkten über die Urtragödie der Spezies nicht hinausgekommen sind.
Nur kopiert im vorliegenden Fall unter dem bedeutungsschweren Titel Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen der Autor Mouawad mit einer derartigen Akribie den antiken Sprachgestus, dass der Text an sich schon ziemlich ambitioniert und gewöhnungsbedürftig anmutet. Wenn in Pitoisets deutschsprachiger Erstaufführung im Schaubühnen-Studio Einlassungen wie „Ich werde in der Atempause der Stürme suchen, tief in den Wüsten aus Eis, aus Sand, aus Salz … Ich werde Europa, meine an der Tageswende entführte Schwester, wiederfinden, um sie zu den Gräbern ihres Blutes zurückzubringen“ dann aber auch noch von Kapuzenshirt-Schauspielern mit Inbrunst zwischen Kühlschrank, Küchentisch und Couch vorgetragen werden, entsteht eine Schräglage, die bisweilen haarscharf an der unfreiwilligen Komik entlangschrammt.
Text: Christine Wahl
Foto: Heiko Schäfer
Tip-Bewertung: Zwiespältig
Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen
Schaubühne, Kurfürstendamm 153, Wilmersdorf,
30.10., 2., 9.11., 20.30 Uhr, 12.11., 20 Uhr