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„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“: Wer ist hier das Schwein?

Der Fleischwolf des Kapitalismus: Stefanie Reinsperger und Kathleen Morgeneyer spielen ein faustisches Paar in Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ am Berliner Ensemble. Irene Bazinger hat die beiden zum Gespräch getroffen.

Kathleen Morgeneyer und Stefanie Reinsperger (vorne) in „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Regie: Dušan David Pařízek.Foto: Birgit Hupfeld

tipBerlin Frau Morgeneyer, Sie spielen in Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ aus dem Jahr 1930 die Titelfigur, und Sie, Frau Reinsperger, ihren Kontrahenten, den Fleischkönig Mauler. Johanna will als Mitglied der Heilsarmee die Welt besser machen und den Armen helfen, Mauler hingegen will seinen Reichtum und seinen Einfluss immer weiter vergrößern. Ist das vielleicht das Stück der Stunde?

„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ am Berliner Ensemble: Stefanie Reinsperger spielt die Maulerin

Stefanie Reinsperger In unserer Inszenierung von Dušan David Pařízek ist der Mauler eine Maulerin. Ich spiele ihn als Frau, als Unternehmerin. Als die der Johanna begegnet, ist sie irritiert, und Johanna ist es auch. Die Maulerin ist ja nur so erfolgreich, weil sie völlig mit dem System des Kapitalismus übereinstimmt und sich gar kein anderes Denken erlaubt. In beiden wird durch ihre Begegnung jedoch der Zweifel wach. Deshalb lässt Brecht seinen Mauler auch sagen: „Erst muss / bevor die Welt sich ändern kann / der Mensch sich ändern.“ Wir leben in einer Zeit, in der alles so laut ist und alles rausgebrüllt wird. Ich würde mir wünschen, dass wir anfangen, einander richtig zuzuhören. Die Maulerin und Johanna hören einander wirklich zu, dadurch passiert etwas mit ihnen.

Jede Partei würde heute doch sagen, dass sie für Empathie und Mitgefühl steht. Bloß was heißt das konkret?

Kathleen Morgeneyer

Kathleen Morgeneyer Das ganze christlich-soziale Konstrukt, für das Johanna als Angehörige der Heilsarmee steht, als sie versucht, gut zu sein und den anderen Menschen zu helfen, wird von Brecht hinterfragt. Und damit geraten auch wir heute in die Situation, uns zu überlegen, wo unsere Handlungsspielräume sind. Was braucht es, um gesellschaftliche Veränderungen zu ermöglichen? Was können wir tun?

tipBerlin Johanna jedoch ist am Schluss tot und Mauler noch reicher.

Kathleen Morgeneyer Das stimmt, aber was nehmen die Zuschauer:innen aus der Aufführung mit? Empathie oder Mitgefühl werden im Verlauf der Handlung ja nicht weggebügelt, sondern eher betont. Was freilich bedeuten solche Begriffe genau? Jede Partei würde heute doch sagen, dass sie für Empathie und Mitgefühl steht. Bloß was heißt das konkret?

Stefanie Reinsperger Ich komme aus Österreich. Was da gerade politisch passiert, ist furchtbar. Die Menschen entscheiden sich bewusst gegen die Demokratie und den Sozialstaat. Umso reizvoller ist es, mit Brecht diese Probleme durchzudeklinieren und zu schauen, was passiert, wenn Kapitalist:innen und Populist:innen die Macht im Staat übernommen haben.

tipBerlin Die Maulerin vertritt die fiesen Arbeitgeber-Positionen, bekommt Insidertipps von Börsenfreunden aus New York und bereichert sich skrupellos.

Stefanie Reinsperger Ich glaube nicht, dass ein Mensch und damit auch eine Rolle nur eine einzige Dimension hat. Deshalb interessieren mich die verborgenen Schichten. Ich suche den Regenbogen in den Figuren, die ich spiele. Warum ist eine Figur so, wie sie ist? Warum verhält sie sich so und nicht anders?

tipBerlin Sie würden den Regenbogen zum Beispiel auch in Elon Musk suchen?

Stefanie Reinsperger Dieser Mensch ist natürlich schrecklich. Aber ich glaube nicht daran, dass irgendein Mensch als Arschloch geboren wird.

tipBerlin Keine Ausnahmen?

Stefanie Reinsperger Wie soll das gehen? Es gibt immer einen Punkt, wo jemand falsch abgebogen ist. Solche Punkte lassen sich auch bei der Maulerin entdecken – ziemlich verschüttet, aber man kann sich herantasten.

tipBerlin Sie haben am Berliner Ensemble schon etliche Hosenrollen gespielt, wie 2022 den Theatermacher in Thomas Bernhards gleichnamigem Stück.

Stefanie Reinsperger Ja, da habe ich als Frau Männer gespielt. Aber jetzt spiele ich den Mann Mauler als Frau – und zwar als Frau in einer Machtposition. Auch Frauen können und dürfen sich so ausbeuterisch und rücksichtslos verhalten wie Männer.

Kathleen Morgeneyer Die Beziehungen zwischen den Figuren werden durch die Maulerin noch komplizierter, aber auf eine gute Weise. Im Stück gibt es keine Alternative zum Kapitalismus. Dann kommt Johanna und sagt, wir könnten ja mal darüber nachdenken: Kann man als Menschen aufeinander zugehen? Oder ist das gar nicht mehr erlaubt in diesem System? Ich finde es spannender, wenn es zwei Frauen sind, die das versuchen.

tipBerlin Frau Reinsperger, in Ihren Hosenrollen trugen Sie Männerklamotten. Was werden Sie diesmal anhaben?

Kathleen Morgeneyer Gar nichts! (lacht)

Stefanie Reinsperger Keine Sorge, man wird schon mitkriegen, dass ich eine Frau spiele. Ich werde erkenntlich weiblich gelesene Garderobe tragen.

Szene aus „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Foto: Birgit Hupfeld

tipBerlin Was bringt dieser Geschlechterwechsel von Mauler zu Maulerin?

Stefanie Reinsperger Ach, wissen Sie, darauf möchte ich gar nicht mehr antworten. Es obliegt doch dem Publikum zu prüfen, was es bringt. Die Besetzung ist eine Entscheidung des Regisseurs. Er sagt, wir sind Gott sei Dank in einer Zeit angelangt, in der es um Lust geht und darum, welche Besetzung die meiste Kreativität in der Inszenierung auslöst. Ich würde mich wahnsinnig gern von all solchen Fragen befreien: Warum ist das so? Was bringt das? Wo liegt der Sinn? Lasst uns einfach etwas spüren im Theater und Menschen zuhören! Ich kann ja verstehen, dass man da von außen etwas irritiert ist …

tipBerlin Das Publikum und auch ich sind natürlich von außen.

Stefanie Reinsperger Ja, aber uns beschäftigen in den Proben tausend andere Dinge als nur, dass ich einen Mann spiele … Ich bin die Maulerin und fertig.

Kathleen Morgeneyer Wir fragen uns etwa, ob die Maulerin in ihrer Ambivalenz wirklich die Böse in diesem Stück ist, oder ob das nicht eher der Kapitalismus als solcher ist. Das Schöne ist ja, dass Brecht auch der Maulerin verschiedene Entwicklungsstadien einräumt. Er lässt unterschiedliche Positionen aufeinanderprallen und sich ins Extreme steigern. Brecht wollte eben, dass man etwas über das System des Kapitalismus und dessen Beschaffenheit erfährt.

Stefanie Reinsperger Am besten wäre es, man ginge mit der Frage aus der Vorstellung, wer denn hier eigentlich böse ist, wer tatsächlich das Schwein ist.

Kathleen Morgeneyer Das Verrückte ist ja, dass Mauler zu Johanna sagt, guck dir doch mal all die Leute an, die hungern und schlecht bezahlt und gewalttätig sind – und dann sage mir, was willst du dagegen tun?

tipBerlin Brecht bezog sich, wenngleich ironisch, auch auf Schillers Drama „Die Jungfrau von Orléans“. Diese Johanna haben Sie, Frau Morgeneyer, in einer Koproduktion von Deutschem Theater und Salzburger Festspielen 2013 in der Regie von Michael Thalheimer gespielt.

Kathleen Morgeneyer Ja, aber da war alles völlig anders. Bei Schiller ist sie fast ein Sprachrohr und steht für Frankreichs Kampf gegen England im Hundertjährigen Krieg. Bei Brecht hat man den Eindruck, als würde er sich ein wenig über seine idealistische Johanna amüsieren. Er schleudert sie hin und her zwischen Ernstnehmen und Nicht-Ernstnehmen. Wie auf einer Eisfläche lässt er sie um die verschiedenen Standpunkten herumschlingern. Sie wird ständig hinterfragt und ist eine geradezu faustische Figur, die’s wissen will.

tipBerlin Die Besetzungsliste bei Brecht ist umfangreich, inklusive „Die kleinen Spekulanten“, „Die Zeitungsleute“, „Die Arbeiter“. Sie werden allerdings nur zu fünft auf der Bühne sein.

Stefanie Reinsperger Ich finde, das macht es wunderschön kompliziert. Wir sind vier Schauspielerinnen und ein Schauspieler. Alle müssen aus sich selbst heraus agieren. Da marschiert eben kein ganzer Chor auf und ruft „Bluthunde!“ Pařízek appelliert immer an die Spielfreude und Fantasie und sucht den höchstmöglichen Output für das gesamte Ensemble.

Ein Brecht-Stück an Brechts einstigem Theater

tipBerlin Wie ist es, an Brechts einstigem Theater ein Stück von Brecht zu spielen?

Stefanie Reinsperger Das ist etwas Wundervolles! Es ist wirklich so, dass ein ganz besonderer Spirit über so einer Produktion schwebt.

Kathleen Morgeneyer Und es ist eine riesige Ehre. Wenn ich von der Friedrichstraße um die Ecke biege und dann das Theatergebäude sehe, die Lichter, die Brecht-Statue davor, bin ich oft ganz überwältigt, dass es so etwas noch in unserer Welt gibt. Das ist alles so fragil! Entsprechend fragil ist auch unsere nur fünfköpfige Besetzung. Die Zuschauer müssen da erheblich mitdenken und mitgehen. Wir sind nur gemeinsam stark.

  • Berliner Ensemble Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte, Premiere war am 27.2.2025, weitere Aufführungstermine und Tickets hier

Zu den Personen

Kathleen Morgeneyer hat ihre Ausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin absolviert. 2009 wurde sie von der Zeitschrift theater heute für ihre Rolle in Tschechows „Die Möwe“ (Regie: Jürgen Gosch) zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt. Von 2011 bis 2023 war sie Ensemblemitglied am Deutschen Theater. Danach wechselte sie ans Berliner Ensemble. 2017 wurde sie mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis ausgezeichnet.

Stefanie Reinsperger hat am Max-Reinhardt-Seminar in Wien studiert. Von 2014 bis 2022 war sie fest am Berliner Ensemble, wechselte dann ans Burgtheater. Seit 2021 gehört sie zum Ermittlerteam im Dortmunder „Tatort“. Als Frosch tritt sie immer wieder in der Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauß an der Wiener Volksoper auf. In ihrem Buch „Ganz schön wütend“ (2022) berichtete sie über die vielen Anfeindungen wegen ihres Aussehens.


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