Wütender Angriff auf das weiße Selbstbild und dessen Verklärungen im Maxim-Gorki-Theater: Necati Öziris Kleist-Demontage
„Die Verlobung in St. Domingo – ein Widerspruch“
Die Weißen sind grausam. Sie lieben es, Menschen zu kreuzigen, ihnen die Glieder abzuhacken, sie von Hunden zerfleischen zu lassen, ihnen die Haut abzuziehen, sie zu ersticken, zu verbrennen oder zu ertränken. Das sind keine Metaphern. Auf der Sklavenhalterinsel St. Domingo (und über 250 Jahre in den Vereinigten Staaten von AmeriKKKa) war das schlichte ökonomische Notwendigkeit: Wie soll man die Schwarzen anders zwingen, die Baumwolle, den Tabak, den Zucker für den Reichtum der Weißen zu ernten.
Der Conferencier auf der Bühne des Gorki-Containers im eng sitzenden roten Abendkleid rutscht immer wieder lustig in den Schweizer Akzent, wenn er die Liste der Foltertechniken mit dezent weiß geschminktem Gesicht vorträgt – ein Fall von Whitefacing, die Hautfarbe und ihre Bedeutung haben wenig mit Biologie und viel mit Ideologie zu tun. Und weil der Entertainer des Grauens (Dominic Hartmann) als Showprofi auf der Bühne steht, hätte er schon gerne etwas Applaus für seinen Auftritt mit den charmant referierten Tötungspraktiken im Dienste der White Supremacy. In Sebastian Nüblings Uraufführungsinszenierung von Necati Öziris antikolonialistischem Manifest-Text „Die Verlobung in St. Domingo – ein Widerspruch“ werden die Gewaltorgien der Sklaverei und des Aufstands dagegen gerne in solche szenischen Clownsnummern übersetzt. Das Varietétheater der Grausamkeit spielt mit Tanzeinlagen, Schatten- und Maskenspielen und lustigem Electroclash (Lars Wittershagen). Die Gewaltdimensionen des Textes, erst recht die Realgewalt des Kolonialismus irgendwie realistisch bebildern zu wollen, wäre albern.
Öziris Text ist ein Frontalangriff auf die Textvorlage, einem kanonischen Text der deutschen Literatur, Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“. Der sexuell aufgeladenen Angst-Lust-Phantasie über den reellen Sklavenaufstand auf der Karibikinsel von 1804 sind die rassistischen Stereotyen des europäischen Denkens nicht nur des 19. Jahrhunderts eingeschrieben. Kleists bizarre Liebesgeschichte ist eine weiße Männerphantasie: Ein edler Weißer und Freund der Aufklärung, ein Adliger aus der neutralen Schweiz, auf der Flucht vor den mordenden Horden der Schwarzen, wird ausgerechnet von der Tochter einer schwarzen Sklavin und eines Weißen gerettet, sie verliebt sich in ihn. Indem Öziri diese Stoffvorlage unter umgekehrter Perspektive erzählt, macht er seine Dekonstruktion zu einem wütenden Angriff auf das weiße Selbstbild und dessen Verklärungen. Dass am Ende eine nicht ganz unproblematische, arg pathosfreudige Feier des revolutionären Terrors steht, gibt dem Text allerdings eine dröhnend kitschige Stahlgewitter-Schlussnote.
Das diverse Ensemble um die furiose Maryam Abu Khaled (Kenda Hmeidan, Dagna Litzenberger Vinet, Çiğdem Teke, Falilou Seck) spielt das im kampferprobt offensiven Gorki-Stil, dem die Parole im Zweifel lieber ist als gepflegte Zwischentöne.
Termine: Maxim Gorki Theater