Dank dem Theaterregisseur Hans-Werner Kroesinger wissen wir jetzt, weshalb die Bundesregierung den türkischen Völkermord an den Armeniern, dem vor 100 Jahren über eine Million Menschen zum Opfer fielen, streng genommen nicht für einen Völkermord hält. Auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke antwortet die Bundesregierung im Januar dieses Jahres mit Sinn für juristische Feinheiten. Die UN-Konvention, die Völkermord ächtet, ist erst 1948 beschlossen worden und 1951 in Kraft getreten. Sie gelte „nicht rückwirkend“. So wird ein Genozid zu einer Frage des Datums. Man sieht Kroesingers Inszenierung „Musa Dagh“ (Foto) im Maxim Gorki Theater und hält den Atem an, wenn die Schauspieler diesen juristisch korrekten Zynismus aus der Drucksache 18/3722 des Deutschen Bundestags sehr sachlich vorlesen. Man fragt sich ungläubig, ob man sich 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz verhört hat. Hat man aber leider nicht.
Kroesingers Dokumentar-Stück „Musa Dagh – Tage des Widerstands“ ist eine der zentralen Arbeiten in einem politisch sehr entschiedenen Programmschwerpunkt des Maxim Gorki Theaters: Das Theater widmet sich mit der Reihe „Es schneit im April“ der Erinnerung an den vor genau 100 Jahren, im April 1915, in Gang gesetzten Genozid an den Armeniern. Neben Theater gibt es eine umfangreiche Filmreihe, Konzerte, Installationen, prominent besetzte Diskussionen. Die Bühne macht sich entschlossen für 40 Tage zu einer Theater-Zentrale für politische Aufklärung. Genau 40 Tage, um so das große literarische Denkmal zu ehren, das Franz Werfel den ermordeten Armeniern und ihrem Widerstand mit seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ gesetzt hat. Das Ineinander der Zeitschichten ist gespenstisch: Werfel, als Jude von den Nationalsozialisten verfolgt, beendet seinen sorgfältig recherchierten Roman 1933. Werfels Erinnerung an den ersten europäischen Genozid des Jahrhunderts wird zum Vorboten des Völkermords an den europäischen Juden. Als Buch des Widerstands geht sein Roman im Warschauer Ghetto von Hand zu Hand.
Werfels Roman ist auch eine der Vorlagen, die Kroesinger und seine Dramaturgie- und Recherche-Mitarbeiterin Regine Dura für ihr Dokumentar-Stück verwenden. Eine andere Quelle sind die Akten und die Fakten, die detaillierten Beschreibungen der Massaker und Todesmärsche und die zeitgenössischen Berichte, die deutsche Diplomaten als neutrale bis wohlwollende Beobachter des Völkermords an das Auswärtige Amt geschickt haben.
Die Depeschen lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Zum Beispiel, wenn der deutsche Marineattachй Hans Humann 1915 nach Berlin berichtet: „Die Armenier werden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“ Schließlich war die Türkei Deutschlands Verbündeter im Ersten Weltkrieg. Der Völkermord an den Armeniern ist im Außenministerium seit 100 Jahren bekannt – sozusagen gesichertes, wohldokumentiertes Regierungswissen. Kroesinger zeigt einfach diese Dokumente vor und bringt sie in seiner Inszenierung zum Sprechen. Das genügt für einen auf nüchterne Weise bewegenden Theaterabend.
„Uns interessiert die deutsche Rolle, die Mitverantwortung, die wir als Deutsche an diesem Genozid tragen“, sagt Gorki-Intendantin Shermin Langhoff über den Armenien-Schwerpunkt ihres Theaters. „Ich fürchte, dass wir weitere Völkermorde erleben werden. Umso wichtiger wird die Erinnerung. Die Gegend, aus der die Armenier deportiert wurden, ist heute wieder ein Konfliktgebiet im syrischen Bürgerkrieg.“ Gegen das Verschweigen und Vernebeln will Langhoff mit ihrem Theater „den Stimmen gegen die Stille einen Ort geben“.
Die Intendantin hat einen schwer widerlegbaren Zeugen dafür, dass es sich dabei um eine heutige politische Intervention, nicht nur um einen Akt der Erinnerung handelt. Dieser Zeuge ist Adolf Hitler. Der hatte 1939, kurz vor dem Überfall auf Polen, ein schönes Argument gegen etwaige Skrupel: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Die Selbstverständlichkeit, mit der Europa diesen Völkermord ignoriert hat, die Ungerührtheit, mit der zum Beispiel die Regierung des deutschen Reiches einfach zugesehen hat, wird in dieser Perspektive zur Lektion für spätere Genozide.
Wie kompliziert die Arbeit an der Erinnerung ist, untersucht der kanadisch-armenische Filmregisseur Atom Egoyan mit einer Videoinstallation vor dem Gorki Theater. Sie ist Aurora Mardiganian gewidmet, die als 14-jährige Überlebende des Völkermords in die USA fliehen konnte. Das Buch, das sie 1918 darüber veröffentlichte, wurde mit ihr selbst in der Hauptrolle in Hollywood verfilmt. Weil sie bei der Promotion-Tour für den Film einen Nervenzusammenbruch erlitt, wurde sie einfach durch Doubles ersetzt: Die Filmindustrie hatte die Vermarktung ihrer Geschichte übernommen. Aurora Mardiganians Schicksal gehörte nicht mehr ihr selbst, sondern denjenigen, die daraus Bilder gemacht hatten. Atom Egoyan findet dafür eine elegante, brutale Übersetzung: Seine Installation zeigt in den Vitrinen auf dem Theatervorplatz Filme von Models, die Mardiganians Texte sprechen.
Wie die kluge Fortsetzung der von Egoyan aufgeworfenen Fragen nach der Bebilderung und kulturindustrieller Verwertung von Geschichte wirkt Kroesingers faktensatte Inszenierung. Sie vertraut auf Sprache, auf Berichte, auf Dokumente. Und sie hat eine Scheu davor, mit Bildern der Massaker einen gewaltpornografischen Reiz zu bedienen oder Einzelschicksale als Sentiment-Spender zu benutzen. Dass das bei aller Sprödheit so berührend, sogar auf sehr trockene Weise ab und zu böse komisch ist, liegt unter anderem an den beeindruckenden, hellwachen Schauspielern Judica Albrecht, Marina Frenk, Ruth Reinecke, Falilou Seck, Armin Wieser und Till Wonka.
Was Kroesingers Inszenierung so gespenstisch macht, ist, dass sie nüchtern vorführt, wie die Planung und Durchführung des Völkermords aus Sicht der Täter und ihrer Freunde in der Regierung des Deutschen Reichs eine vernünftige, gut zu begründende, notwendige Angelegenheit ist. Kroesingers Theater nimmt die rationale Perspektive der Täter ernst. Das ist die Zumutung, die es bereithält. „Was gibt es noch zu erzählen?“, lautet der bittere, wütende, traurige letzte Satz der Inszenierung.
Text: Peter Laudenbach
Foto: Ute Langkafel / MAIFOTO
Es schneit im April Maxim Gorki Theater, bis 25.4., Karten-Tel. 20 22 11 15, www.gorki.de
Musa Dagh – Tage des Widerstands Fr 27.3., 19.30 Uhr, Do 2.4., 19 Uhr, ?Mo 6.4., 16 Uhr
The Cut. Film, anschließend Diskussion mit Fatih Akin Fr 3.4., 16 Uhr
Deutschland und der Genozid. ?Vortrag von Levin Sargsyan Sa 4.4., 16 Uhr
Deutsche Verantwortung. ?Debatte mit Jürgen Gottschlich u.?a. Sa 4.4., 19 Uhr
You are not a fish after all. ?Tanzperformance Sa 4.4., 21 Uhr
Die Kinder von Musa Dagh. Lecture-Performance mit A. und G. Spangenberg So 5.4., 19 Uhr
Die Armenier von Diyarbakir, ?Konzert von S. Diken und Y. Bostanci Mo 6.4., 19.30 Uhr