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Interview

Holger Bergmann vom Fonds Darstellende Künste: „Wir sind alarmiert“

Das Land Berlin und der Bund schütten Millionen-Hilfen für Künstler*innen aus, die in der Corona-Krise nicht auftreten können. Weshalb das alles noch nicht reicht, erklärt Holger Bergmann vom Fonds Darstellende Künste im Gespräch mit tipBerlin-Autor Peter Laudenbach.

Noch sind die Reihen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt leer – aber im Frühling wird das Konzerthaus seine Bühne der gebeutelten Freien Szene zur Verfügung stellen. Foto: Sebastian Runge
Noch sind die Reihen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt leer – aber im Frühling wird das Konzerthaus seine Bühne der gebeutelten Freien Szene zur Verfügung stellen. Foto: Sebastian Runge

Kein anderer Akteur und Beobachter dürfte derzeit einen besseren Überblick über die Lage freiberuflicher Theaterkünstler*innen haben als Holger Bergmann. Er ist Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste – vor der Corona-Krise eine der Förder-Einrichtungen, die Theater-Projekte jenseits der Stadt- und Staatstheater finanziert hat.

In der Krise wurde der Fonds zu einem der wichtigsten Kanäle, über die Gelder aus den Corona-Hilfen der Bundesregierung an die nicht institutionell abgesicherten Theaterkünstler*innen verteilt werden. Das wichtigste Instrument dafür ist das „#TakeThat“-Programm des Fonds.


tipBerlin Herr Bergmann, können Sie einschätzen, wie viele Theaterleute derzeit ohne Gagen über die Runden kommen müssen und auf Corona-Hilfsprogramme angewiesen sind?

Holger Bergmann Das Statistische Bundesamt hat im April 2020 bekanntgegeben, dass im Jahr 2018 rund eine halbe Million Personen im Kulturbereich als Freiberufler*innen tätig waren, viele von ihnen als Solo-Selbstständige. All diese Menschen sind aktuell besonders stark von den Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie betroffen. Sie haben mit enormen Einnahmeverlusten zu kämpfen. Die Situation für freiberufliche Künstler*innen ist bedrohlich.

Das zeigt sich auch in der sehr hohen Zahl der Anträge, die beim Fonds eingehen. Nur knapp sechs Wochen nach dem Start der ersten #TakeThat-Förderungen haben alleine wir fast 4.000 Anträge erhalten, mit einem Gesamtantragsvolumen von deutlich über 65 Millionen Euro. Dementsprechend sind wir alarmiert.

Holger Bergmann vom Fonds Darstellende Künste spricht mit uns über die Krise – und was das für die Freie Szene bedeutet. Foto: Benjamin Krieg
Holger Bergmann vom Fonds Darstellende Künste spricht mit uns über die Krise – und was das für die Freie Szene bedeutet. Foto: Benjamin Krieg

tipBerlin Die Budgets der Corona-Hilfen für die Kulturbranche sind enorm. Allein das vom Bund finanzierte „#TakeThat“-Programm, für dessen Auszahlung der Fonds Darstellende Künste verantwortlich ist, hat bisher ein Volumen von 65 Millionen Euro. Dazu kommen zahlreiche lokale Maßnahmen, in Berlin etwa ein Programm der Kulturverwaltung, mit dem 18 Millionen Euro an 2.000 Künstler*innen ausgeschüttet werden. Die Bundesregierung kündigt an, Soloselbstständige  mit je bis zu 5.000 Euro zu unterstützen. Reicht das, um durch die Krise zu kommen?

Die finanziellen Mittel werden kaum ausreichen, sagt Holger Bergmann

Holger Bergmann Der Bedarf ist enorm. Der neuerliche Lockdown dürfte die Lage weiter zuspitzen und die existenziellen Herausforderungen noch verschärfen. Gesundheitsexpert*innen und Politiker*innen gehen von einem Rückgang der Infektionszahlen im späten Frühjahr 2021 aus – das lässt eine Verlängerung des Ausnahmezustands für den Kulturbetrieb erwarten. Aber bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Überzeichnung der uns zur Verfügung stehenden Mittel von mehr als 70 Prozent abzusehen. Das verdeutlicht, dass die finanziellen Mittel kaum ausreichen werden. 

tipBerlin Wenn die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend sind – was wünschen Sie sich als Unterstützung für die Theater-Freiberufler?

„Was für die Wirtschaft gilt, gilt auch für die Theaterlandschaft“

Holger Bergmann Der finanzielle Aspekt ist der eine, hinzu kommt der zeitliche: Der Projektzeitraum des Hilfsprogramms der Bundesregierung, „Neustart Kultur“, ist auf 2021 begrenzt. Um mittelfristig die strukturelle Sicherung der Freien Tanz- und Theaterszene zu ermöglichen, sind meiner Meinung nach zwei Maßnahmen notwendig: Zum einen braucht es finanzielle Mittel, die eine Planungssicherheit für die Folgejahre ermöglichen und zum anderen muss für die bereits zugesagten Gelder der Zeitraum deutlich ausgeweitet werden.

Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass sich der Kulturbetrieb so schnell wieder erholt. Was für die Wirtschaft gilt, gilt hier auch für die frei produzierende Theaterlandschaft.

tipBerlin Die 2.000 Künstler*innen, die aus dem Sonderprogramm der Berliner Kulturverwaltung je 9.000 Euro erhalten haben, wurden ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgelost. Angesichts des Zeitdrucks ging das vielleicht nicht anders, trotzdem ist das ein bemerkenswerter Umgang mit Steuergeldern. Wie können Sie bei der Ausschüttung Ihrer Hilfsgelder Missbrauch ausschließen?

Förderprogramme vom Fonds Darstellende Künste sind projektbezogen

Holger Bergmann Anders als die Soforthilfen sind die Förderprogramme des Fonds an künstlerische Projekte und Tätigkeiten gebunden, die unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen realisiert werden können: Recherchen, Residenzen, digitale oder hybride Projekte, aber auch Vorhaben, die infrastrukturelle Beförderungen von Produktions- und Spielstätten sowie (digitale) Festivals zum Ziel haben.

Jedes dieser Vorhaben wird uns in einem Antragsverfahren vorgestellt und von Expert*innen einer Fachjury beurteilt. Das heißt, es gibt eine Prüfinstanz, die die Erfüllung von Kriterien verlangt.

tipBerlin Ein arbeitsloser Performer, eine arbeitslose Tänzerin haben die gleiche Unterstützung verdient wie arbeitslose Kellnerinnen oder Köche. Können Künstler*innen in der Krise eine Sonderrolle beanspruchen?

Von exklusivem Behandeln kann nicht die Rede sein

Holger Bergmann Es geht darum, die freien darstellenden Künste in ihrem Bestand und ihrer Vielfältigkeit zu sichern. Wir blicken dabei auf ein sehr differenziertes Feld: Etablierte Performance-Gruppen, kleine Puppenspieltheater und Künstler*innen, die in Schulen oder auch im öffentlichen Raum unterwegs waren  – um nur einige Beispiele zu nennen – können ihrem Beruf derzeit nicht nachgehen und haben keine Möglichkeit, Einnahmen zu erzielen.

Wenn man auf die Gesamtzahlen blickt, finde ich nicht, dass von einer Sonderrolle gesprochen werden kann. Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit: 130 Milliarden Euro sind für Wirtschaftshilfen und Hilfen der digitalen Ausrüstung zur Stabilisierung bereitgestellt worden. Davon ist eine Milliarde in die Kunst- und Kulturlandschaft gegangen. Es kann hier also nicht von einem exklusiven Behandeln der Kunstlandschaft die Rede sein.

tipBerlin Die Festangestellten an Theatern und Opernhäusern kommen finanziell sehr entspannt durch die Krise. Wünschen Sie sich da eine größere Solidarität?

"Das Rätsel bleibt ungelöst": Bild von der Schaubühne im November 2020. Holger Bergmann erklärt, wie die Einsparungen an den Häusern die Freie Szene trifft. Foto: Imago Images/Stefan Zeitz
„Das Rätsel bleibt ungelöst“: Bild von der Schaubühne im November 2020. Holger Bergmann erklärt, wie die Einsparungen an den Häusern die Freie Szene trifft. Foto: Imago Images/Stefan Zeitz

Holger Bergmann Es ist leider selbstverständlich geworden, dass sich jede*r erstmal um den eigenen Hausstand kümmert. Traurigerweise haben Minderausgaben für die Kunst und Kurzarbeit für Festangestellte an den Häusern auch zu erheblichen Einsparungen bei den Gastverträgen für Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Ausstatter*innen und anderen geführt.

Ich würde mir wünschen, dass es nicht eine Ausnahme in der städtischen Theaterlandschaft wäre, die Verantwortung auch für die freiberuflichen Gäste zu übernehmen, sondern die Regel. Aber es gibt auch Gespräche und solidarische Bekundungen – jetzt muss noch stärker solidarisch gehandelt werden. Dranbleiben!

tipBerlin Der Konzertveranstalter und Publizist Berthold Seliger (der schon im März Rettungsfonds für Clubs forderte) steuert eine harte Diagnose zur Debatte bei: „Corona lässt die prekäre Kehrseite des jahrzehntelangen neoliberal geprägten Um- und Abbaus von Institutionen und Sicherungssystemen deutlich zutage treten. Dies gilt insbesondere für die Kulturschaffenden und die Kulturarbeiter*innen.“

Die Theater und Opern haben seit gut einem Jahrzehnt die Anzahl der festangestellten Künstler*innen stark reduziert, bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Inszenierungen und Aufführungen. Der höhere Output bei geschrumpften Ensembles war nur durch ein Heer von Freiberuflern möglich, die ohne jede institutionelle Absicherung durch die Krise kommen müssen. Rächt sich jetzt die ziemlich rüde Deregulierung?

„Ein Denken im Bewusstsein globaler Bedingungen und lokaler Verantwortungsübernahme“

Holger Bergmann In diesem Punkt kämpfen Institutionen und Freie Szene mit denselben Rahmenbedingungen. Sicher wäre diese Lage eine andere, wenn man sich die Einsparungen gespart hätte, die Ende des 20. Jahrhunderts allesamt einer Effektivierung des Geldflusses und nicht der Optimierung von Gemeinwesen dienten. Doch „Der Regen fällt nicht zurück in den Himmel“ sagte Brecht, und nun ist die Frage, wie wir damit umgehen, aktueller denn je.

Ich sehe hier die Politik und Gesellschaft in der Pflicht: eine Herausforderung an die Sozialsysteme, den Begriff von Arbeit und eine Frage an unser gesellschaftliches Selbstverständnis. Wie wollen wir (miteinander) leben, wie arbeiten? Wie solidarisch wollen wir als Gesellschaft sein? Hier und in Europa, an den Außengrenzen und weit darüber hinaus.

Die Pandemie fordert ein Denken im Bewusstsein globaler Bedingungen und lokaler Verantwortungsübernahme. Das ist ein Feld, das sich mit vielen Themen und Fragen der frei produzierenden Künste eng verknüpft: Empowerment, Partizipation, Fortentwicklung von Werksbegriffen und Kunst als soziale und gestaltende Kraft.


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