Martin Wuttke ist in René Polleschs „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ zu sehen. Berlin-Premiere des in Zürich uraufgeführten Stücks ist am 24. Oktober in der Volksbühne. tipBerlin-Redakteurin Irene Bazinger hat den Schauspieler interviewt und mit ihm über die Theaterarbeit, den Knacks, Zigaretten vorm Café und den im Frühjahr viel zu früh verstorbenen Regisseur und Volksbühnen-Intendanten gesprochen.
In „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ geht es um den menschlichen Knacks
tipBerlin Herr Wuttke, Sie spielten Ende 2018 in Zürich in René Polleschs Inszenierung seines Stücks „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“. Jetzt wird diese Aufführung an die Volksbühne geholt.
Martin Wuttke Ja, nach dem unerwarteten Tod von René Pollesch im Februar wollten wir nicht länger warten. Denn wir hatten schon längst vor, diese Produktion im Prater zu zeigen, aber den können wir leider seit vielen Jahren nicht nutzen. Deshalb spielen wir sie nun in der Volksbühne, auch wenn die größer ist als die Zürcher Bühne. Wie bei der Uraufführung stehen Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen und ich auf der Bühne. Das originale Bühnenbild von Barbara Steiner hatten wir ohnedies schon gekauft.
tipBerlin Worum geht es in diesem Stück?
Martin Wuttke René hatte damals den autobiografischen Essay „Der Knacks“ von F. Scott Fitzgerald angeschleppt, der 1936 in drei Teilen im „Esquire“ erschienen ist. Fitzgerald schrieb ihn in einer Art Lebenskrise. Er spricht darin von einem Riss, so etwas wie einem Sprung in der Schüssel, den eine Person erleidet, ohne dass sie groß verletzt ist, ohne dass die anderen diesen Knacks wahrnehmen. Wie kann das sein, was kann das sein? Damit haben wir uns beschäftigt. Es war schön, darüber nachzudenken, ob es im Theater, wo ja normalerweise die großen Dramen verhandelt werden, auch um so etwas Kleines gehen könnte.
tipBerlin Wie hat das dann konkret ausgesehen?
Martin Wuttke Wir haben uns zum Beispiel überlegt, was man mit einer Tasse tut, die plötzlich einen Sprung hat. Man möchte sie nicht wegschmeißen, aber man stellt sie vielleicht nicht mehr in die Spülmaschine – und auch nicht mehr in die erste Reihe im Geschirrschrank. Infolgedessen haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie man mit sich selbst umgeht, wie man mit den anderen umgeht.
tipBerlin Klingt nach einer latenten Existenzkrise bei allen Beteiligten?
Martin Wuttke Nein, das war erstmal alles gar nicht psychologisch gemeint, sondern es war rein materialistisch ein Gespräch darüber, was so ein Knacks ist – kann man sich dafür im Theater interessieren, könnte man im Theater darüber sprechen? Was sind das für Merkwürdigkeiten, die zwar klein sind, aber trotzdem die ganze eigene Disposition, das Verhältnis zum Leben verändern können? Das ist im weitesten Sinne das Thema des Abends geworden. Der hatte allerdings, obwohl die Proben lustig und inspirierend waren, eine melancholische Unterströmung.
tipBerlin Und was hat es mit „Manzini“ im Titel auf sich?
Martin Wuttke Das bezieht sich auf ein Café in Wilmersdorf, in dem Pollesch und ich oft zusammensaßen. Im Winter gab es ein Zelt für Raucher:innen vor dem Eingang, das war für uns sehr angenehm, weil man dort nicht erfroren ist, wenn man für ein paar Zigaretten vor die Tür ging.
tipBerlin Pollesch hat über 200 Stücke geschrieben und verboten, dass andere Regisseur:innen sie inszenieren.
Martin Wuttke Das war sehr konsequent, denn seine Stücke sind immer in enger Kommunikation mit den beteiligten Künstler:innen entstanden, sozusagen zwischen ihnen. In den Aufführungen ging es substanziell um die Beteiligten und die Verbindungen und Verknüpfungen zwischen ihnen. Und die finden sich nicht nur in den Texten, im Manuskript wieder. Sie lassen sich nicht nachlesen und ohne weiteres übertragen. Viele Textabschnitte sind Transkriptionen oder Bearbeitungen von Gesprächen, die während der Proben geführt wurden. Daran müssen wir uns jetzt bei den ‚Manzini-Studien‘ wieder gegenseitig erinnern – ohne ihn.
tipBerlin Wenn die Schauspieler:innen etwas nicht auf der Bühne sagen wollten, was Pollesch geschrieben hatte, würde er es einfach weglassen, erzählte er oft in Interviews.
In dem nicht enden wollenden Strom von Produktionen, die Pollesch geschaffen hat, ist ein bisschen untergegangen, dass er auch ein wichtiger Theatertheoretiker war. Er hat Themen ins Theater gebracht, die es damals nicht gab, die ganze Genderproblematik zum Beispiel. René did it first.
Martin Wuttke
Martin Wuttke Das stimmt. Er konnte diese Großzügigkeit an den Tag legen, weil es ihm nie darum ging, rein textlich ein ultimatives Meisterwerk zu schaffen. So etwas wie ein Well-Made-Play hat ihn nie interessiert. Wichtig war viel mehr eine Auseinandersetzung mit Fragen, die das jeweilige Ensemble beschäftigten, und dem, was die Bühnenbildner:innen und Kostümbildner:innen beitrugen. Das Stück stand eben nicht nur im Manuskript. So war das im postdramatischen Theater, wie er es verstand: Alles ist Text.
tipBerlin Hat diese Aufhebung der Textdominanz auch eine politische Dimension?
Martin Wuttke Unbedingt! In dem nicht enden wollenden Strom von Produktionen, die Pollesch geschaffen hat, ist ein bisschen untergegangen, dass er auch ein wichtiger Theatertheoretiker war. Er hat Themen ins Theater gebracht, die es damals nicht gab, die ganze Genderproblematik zum Beispiel. René did it first. Er hat Fragen der Repräsentation auf der Bühne verhandelt und es gab wohl keine Zeile, die nur ein Mann oder nur eine Frau sprechen konnte, denn es ging ihm um die Inhalte und nicht darum, wer sie sagt. Neben den Interviews, in denen er sich dazu geäußert hat, gibt es auch eine Art theoretisches Werk, „Der Schnittchenkauf“, in dem er auf Brechts „Messingkauf“ antwortet. Vielleicht bringen wir’s noch auf die Bühne.
tipBerlin Sie haben in vielen von Pollesch Stücken gespielt – wie kamen Sie eigentlich zueinander?
Martin Wuttke Er hat mich schon als junger Schauspieler in Frankfurt am Main gesehen, da war er noch Student am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Meine erste große Rolle war 1985 der Hamlet in der Regie von Holger Berg. Die Aufführung war ein großer Erfolg, auch René hat sie gemocht. Wir blieben immer in Verbindung. 2004 habe ich dann erstmals bei ihm in „1000 Dämonen wünschen dir den Tod“ gespielt, dem Auftakt der „Prater Saga“ in Berlin.
tipBerlin Sie wurden zu einem engen Arbeitspartner für René Pollesch. Nun ist er tot, wie andere für Sie wichtige Regisseur:innen, Christoph Schlingensief, Ruth Berghaus …
Martin Wuttke … Heiner Müller, Einar Schleef …
tipBerlin Und Alvis Hermanis ist abgetaucht. Wie bewahren Sie sich da die Freude an Ihrem Beruf?
Martin Wuttke über René Polleschs Tod: „Plötzlich ist da eine Leerstelle“
Martin Wuttke Es wird schwieriger. Ich hatte das wahnsinnige Glück, in meiner Arbeit immer so tolle Partner:innen getroffen zu haben, die mich geprägt haben. Irgendwann fragt man sich: Will ich dieses Spektrum wirklich erweitern? Ich kann mir schwer vorstellen, noch einmal auf die Suche nach solchen Impulsgeber:innen zu gehen.
tipBerlin Welche Folgen lassen sich ein gutes halbes Jahr nach dem Tod von René Pollesch feststellen?
Martin Wuttke Polleschs Tod hat viel verändert. Bisher hat man sich darauf verlassen können, dass es ihn und sein Theater in der Welt gibt. Plötzlich ist da eine Leerstelle. Man orientiert sich ja auch zueinander. Und da fehlt jetzt jemand ganz entscheidender.
Die Welt ist eben nicht zugemauert! Man muss nur einen anderen Approach finden, um damit umzugehen.
Martin Wuttke, Schauspieler
tipBerlin Eine bestimmte ästhetische Farbe ist weg.
Martin Wuttke Und eine bestimmte Form von Denken ist verschwunden und damit auch eine spezifische Arbeitspraxis. Die ist nicht zu kopieren. René war außerdem immer ein guter Partner, um sich selbst zu erziehen und aufmerksam auf das zu werden, was man ignorieren wollte, was sich hinter dem Rücken abspielte, wofür man kein Bewusstsein hatte. Und wofür man vielleicht nicht den gesunden Menschenverstand als Werkzeug braucht, sondern Theorie, um sein eigenes Leben anders zu begreifen und Türen aufzustoßen, von denen man gar nicht gewusst hatte, dass sie existieren: Die Welt ist eben nicht zugemauert! Man muss nur einen anderen Approach finden, um damit umzugehen.
tipBerlin Seit dem Tod des Intendanten René Pollesch hat die Volksbühne keine Intendanz und soll diese laut Ausschreibung auch erst wieder ab 1. August 2027 bekommen.
Martin Wuttke Keine Ahnung! Ich frage mich aber, was soll bis dahin geschehen? Drei Jahre Interregnum an so einem bedeutenden Haus? Ich jedenfalls stehe dafür nicht zur Verfügung. 1995 habe ich nach dem Tod von Heiner Müller kurzzeitig die Intendanz des Berliner Ensembles übernommen, das hat mir gereicht, bis heute.
- „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ an der Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte, Do 24.10., 19.30 Uhr (Premiere), So 27.10., 19.30 Uhr, Karten und weitere Infos hier
Ein unbeschreiblicher Verlust für die Theaterwelt: Ein Nachruf auf René Pollesch. In unserer Übersicht findet ihr Theaterbühnen für jeden Geschmack. Manche von ihnen sind Geschichte: Historische Theater und Opernhäuser in Berlin, die es nicht mehr gibt. Was sonst noch so los ist auf Berlins Bühnen, findet ihr in unserer Übersicht über aktuelle Termine und Texte rund um Kultur und Theater.