Ich! Ich! Ich! In Zeiten von New Work wollen Unternehmen den ganzen Menschen. Im Theater kann man jetzt schon die Konsequenzen besichtige
Wer wissen will, wohin sich die Gesellschaft entwickelt, kann ins Theater gehen. Dabei sind nicht nur die Aufführungen aufschlussreich, sondern erst recht die Arbeitsbedingungen, die sie ermöglichen. Was das zunehmende Ersetzen von Festanstellungen durch projektbezogene, temporäre Beschäftigung bedeutet, ist beim künstlerischen Personal der Theater seit Jahrzehnten zu beobachten. Heute arbeiten deutlich weniger fest angestellte Schauspieler an den Stadttheatern als vor 20 Jahren, gleichzeitig ist die Anzahl von Premieren erheblich gestiegen.
Ironischerweise wurden die deregulierten Arbeitverhältnisse zumindest in der Freien Szene jenseits der Stadttheater, den Pionieren dieser Entwicklung, lange nicht als Problem und neoliberale Zumutung, sondern als Akt der Emanzipation von etablierten Institutionen und deren Hierarchien verstanden. Auch beim Unterschreiten von Mindeststandards der Bezahlung sind Künstler der Freien Szene erfahren und (auch sich selbst gegenüber) notfalls skrupelloser als jedes Bau- oder Logistikunternehmen. Deshalb sind in Berlin seit einiger Zeit Zuwendungen der Kulturverwaltung an die Bedingung von Honorar-Untergrenzen gekoppelt – ein Versuch, die Künstler vor sich selbst und der mehr oder weniger freiwilligen Selbstausbeutung zu schützen.
Arbeit wird zur Selbstverwirklichung stilisiert. Was richtet das mit uns an?
Ein anderer Bereich, in dem das Theater ein interessanter Frühindikator breiterer gesellschaftlicher Entwicklungen ist, wird noch übersehen. Dabei könnten Mittelständler, Konzerne, Personalabteilungen und Unternehmensberater hier viel über Risiken und Nebenwirkungen aktueller Management-Moden lernen. Dazu gehören New-Work-Modelle, in denen Mitarbeiter eingeladen sind, sich als ganze Menschen ins Unternehmen einzubringen, von der Arbeit Sinn und Identifikationsmöglichkeiten zu erwarten und scheinbar von Hierarchiezwängen und formalisierten Pflichten befreit nicht nur in ihren eng definierten Zuständigkeitsbereichen Verantwortung zu übernehmen.
Beim Auflösen der Grenzen zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern, dem Verwischen der Unterscheidung zwischen beruflicher Funktion und dem Menschen, der sie ausführt, sind Theater Musterbeispiele einer „gierigen Institution“. So nannte der 1913 in Berlin geborene US-Soziologe Lewis A. Coser Organisationen, die „gierig den ganzen Menschen verschlingen, um ihn nach dem Bild zu formen, das ihren Interessen am besten nutzt“. Cosers Beispiele sind Sekten, Jesuiten und leninistische Kaderorganisationen. In Zeiten von „New Work“ könnte man auch Werbeagenturen, Zeitungsredaktionen oder Startups dazu zählen. Mitarbeiter sollen der Organisation nicht nur ihre berufliche Qualifikation und Arbeitszeit zur Verfügung stellen; Arbeit wird mit dem Versprechen von Selbstverwirklichung versehen.
Für Shakespeare, den Tarantino des 16. Jahrhunderts, wird es wohl schwer
Im Theater sind die Grenzen zwischen Person und beruflicher Funktion naturgemäß durchlässiger als in der Automobilproduktion oder den Büros einer Stadtverwaltung. Für Schauspieler sind der eigene Körper und dessen Ausdrucksmöglichkeiten, die Gefühle und Erfahrungen das Spielmaterial, das er in der Rollengestaltung verwendet. Das Performance-Genre verwischt systematisch die Unterscheidung zwischen Bühnenfigur und Darsteller: Ein Schauspieler hat Rollen, der Performer hat nur sich selbst und den eigenen Erfahrungshintergrund.
Dass sich Schauspieler auf der Bühne statt mit den Namen ihrer Rollen mit den privaten Vornamen ansprechen und echte oder fiktive persönliche Konflikte in die Handlung einbauen (etwa: Weshalb darf ich nicht die Hauptrolle spielen, weshalb werde ich hier so schlecht bezahlt?), ist nicht nur am Berliner Maxim Gorki Theater ein beliebtes Stilmittel. Diese Scherze spielen ironisch damit, die Unterscheidung zwischen Berufausübung und persönlichem Anliegen, zwischen Rolle und Darsteller für Momente ins Kippen zu bringen.
Jenseits der Bühne schützt die Organisation Theater in der Regel sich selbst und ihre Mitglieder durch einige Rahmenbedingungen davor, Arbeit mit Privatleben und Berufsausübung mit zweckfreier Selbstverwirklichung zu verwechseln. Dazu gehören klare Hierarchien (die Intendanz entscheidet über Festanstellungen, Gagen, Abmahnungen und Regie-Verträge), in Tarifverträgen fixierte Arbeitszeitregelungen und eine mal mehr, mal weniger klar definiere Arbeitsteilung. Dennoch ist das in New-Work-Philosophien verkündete Versprechen, der Mitarbeiter könne, dürfe und solle der Organisation nicht nur als Funktionsträger, sondern als ganzer Mensch zur Verfügung stehen, im Theater zumindest im künstlerischen Bereich verbreitete Alltagspraxis.
Das kann, etwa bei exzessiv langen Proben oder sexuellen Anzüglichkeiten von Seiten der meist männlichen Regie oder der Aufforderung, emotional möglichst ungeschützt zu spielen im Namen der Kunstproduktion zu Grenzverletzungen auf Kosten der abhängig beschäftigten Schauspieler führen. Das wurde nicht zuletzt im Kontext der #metoo-Debatte als Problem thematisiert.
Seit einiger Zeit kann man im Theater beobachten, was geschieht, wenn Mitarbeiter die Forderung und das Versprechen, sie seien als ganze Menschen gefragt, ernst nehmen und gegen die Organisation und ihre Ansprüche auf Funktionstauglichkeit wenden. Regisseure berichten vermehrt von jungen Schauspielern, die sich weigern, bestimmte Szenen oder Rollen zu spielen, weil sie sich nicht mit ihnen identifizieren können und etwa die in ihnen gezeigte Gewalt oder Geschlechterklischees ablehnen. Auf den Sex- und Crime-Dramatiker Shakespeare, den Tarantino des 16.Jahrhunderts, könnten schwierige Zeiten zukommen.
„Das Ausfüllen einer Figur interessiert mich nicht. Da ist immer die Frage: Was bin ich in dieser Figur“, sagt etwa die Schauspielerin Linda Pöppel, 33, in einem Interview mit der Zeitschrift „theater heute“ über ihre Weigerung, sich als Dienstleisterin der Rollengestaltung zu sehen. Stücke und Rollen sind in ihren Augen nicht als Zweck des Arbeitsprozesses, sondern lediglich als „Ausgangspunkt zu begreifen, als Material, sich vom eigenen Adrenalin auch überraschen zu lassen.“
Wenn Theater als Indikator taugt, kommen interessante Zeiten auf uns zu
Damit dreht Linda Pöppel die Zweck-Mittel-Relation um: Nicht Adrenalin und Ausdrucksmöglichkeiten der Darstellerin dienen der Rollengestaltung, sondern umgekehrt – die Rolle wird zur Startrampe der Eigendynamik des Spiels. Pöppels Position ist klar: „Die Arbeitsgrundlage ist: mich selber einzubringen.“ Linda Pöppel ist eine der zentralen jungen Schauspielerinnen im Ensemble des gutbürgerlichen, tiefseriösen Deutschen Theaters Berlin, eines der größten Schauspielhäuser des Landes. Ihr Berufsverständnis ist alles andere als eine exzentrische oder besonders radikale Haltung. Es ist unter den anspruchsvollen, jüngeren Theaterschauspielern vermutlich weitgehend konsensfähig.
Wenn Theater auch hier als zuverlässiger Frühindikator funktioniert, dürften auf Unternehmen, die ihre Mitarbeiter mit New-Work-Versprechen zu mehr Engagement ermuntern, interessante Zeiten zukommen.