Revolution statt Seelenergießungen: Oliver Frljić kreuzt in seiner Inszenierung des russischen Klassikers am Maxim Gorki Theater Tolstoi mit Dostojewski
In den großen Ehebruchsromanen des 19.Jahrhunderts ist das Frauenopfer obligatorisch. Am Ende bezahlen die Damen Briest, Bovary oder Karenina für den Ausbruch aus dem Ehegefängnis zur Erbauung des Publikums mit ihrem Leben. Oliver Frljić, ein genauer Leser, dreht das im Finale seiner „Anna Karenina“-Inszenierung am Maxim Gorki Theater aggressiv um – jetzt sterben die Männer, und zwar alle. Es ist eine zweifache Umkehrung, denn für die Seelenergießungen der Oberschicht-Damen des Zarenreichs findet die Inszenierung eine bolschewistische Antwort. Vor einem großen Lenin-Porträt im Hintergrund und angeführt von einer revolutionären Proletarierin (Anastasia Gubareva) erschießen die Upperclass-Luxusgeschöpfe ihre nackten Liebhaber und Ehemänner in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit – Rache für Anna Karenina! Die Proletarierin stellte die vornehmen Damen vor die Alternative, entweder ihrer Klasse und ihren Gatten treu zu sein oder Frauensolidarität etwas radikaler zu definieren: „Ich weiß nicht, ob ich euch töten oder euch Waffen geben soll, damit wir die Männer töten.“ Zumindest fehlende Klarheit kann man der Bolschewistin nicht vorwerfen.
Die Inszenierung nimmt einen langen Anlauf zu diesem Ideologie-Trash-Finale. In den ersten zwei Stunden des Abends arbeitet sich Frljić brav durch die Höhepunkte des Tolstoi-Romans. Die Bühne (Igor Pauska) zieren die Eisenbahnschienen, auf denen die unglückliche Anna Karenina (Lea Draeger) ihren Tod suchen wird. Auf den Schienen kreuzen Loren die Spielfläche, die auf kleinen Bühnen der Intimität ein Bett, die Möbel eines Salons oder als eingefrorene Tableaux Vivants die Romanfiguren ausstellen. Wie im altmodischen Historienschinkenkino sorgt Kostümpracht aus dem Fundus (Kostüme: Sandra Dekanic) für die Anmutung historischer Patina. Auch für plakative Zeichen ist sich die Ausstattung nicht zu schade. Die Reichen sind in Gold wie in Panzer gewandet, der gefühlskalte Gatte Anna Kareninas, ein hoher Beamter (Till Wonka), schützt sich vor der eigenen Seelenverkühlung mit einem dicken Pelz.
Dass das Gorki-Ensemble eher auf Volkstheater-Direktheit als auf die feineren Salon-Töne gestimmt ist, sorgt für unfreiwillig komische Effekte, etwa wenn ausgerechnet der elegante Verführer Wronski von Taner Sahintürk als gutmütiger Bauerntrampel gespielt wird. Die Liebesgeschichte zwischen ihm und Anna Karenina ist eher ein schnell skizzierter Comic als ein fein orchestriertes Einfühlungsangebot.
Andererseits ist der temporeiche, durchgängig derbe Spielstil angesichts der kultivierten Überverfeinerung der ausbeutenden Klasse natürlich auch ein hübscher Akt der Subversion. Falilou Seck spielt Stiwa Oblonski als gemütlichen Lebemann, der spielfreudige Jonas Dassler tanzt als Schlittschuhläufer Lewin lustig auf Eisbrocken über die Schienen.
Eher mechanisch sorgen die einmontierten Passagen aus Dostojewskis Roman „Arme Leute“ für den Kontrast einer verzweifelten Liebesgeschichte in der russischen Elendsschicht, neben der Anna Kareninas Seelenqualen wie privilegierte Stoßseufzer wirken, Luxusleid Superreichen. Die mit dem Brecht-Gedicht „Oh Fallada, da du hangest“ eingeführte Metapher des Pferdes als leidender, ausgebeuteter Kreatur wird fortgesetzt, wenn die Proletarier-Figuren von den eben noch so feinfühligen Tolstoi-Salon-Insassen wie Tiere am Seil geführt werden – so viel Haudrauf-Agitprop muss schon sein.
Termine: Maxim Gorki Theater Am Festungsgraben 2, Mitte, 10–38 €