Gorki-Intendantin Shermin Langhoff steht in der Kritik: In einem Bericht des „Spiegel“ geht es um körperliche Übergriffe am Haus, um ein angebliches „Klima der Angst“. Philipp Ruch vom „Zentrum für Politische Schönheit“ arbeitet seit Langem mit Langhoff zusammen. Im Interview mit Peter Laudenbach würdigt er ihre Verdienste – und spricht über Ressentiments im Kulturjournalismus, rechte Übergriffe und radikale Kunst.
tipBerlin Herr Ruch, wird am Theater eher zu viel oder zu wenig geschrien?
Philipp Ruch Vor zwei Jahren habe ich im Kulturmagazin „Aspekte“ zufällig einen Ausschnitt von einer Castorf-Probe aus der Volksbühne gesehen. Ich fiel wirklich vom Hocker, wie er seine Schauspieler da anbrüllte. Der Ton ist rau, gerade bei den Herren.
tipBerlin Glaubt man einem Bericht des „Spiegel“, herrscht am Maxim-Gorki-Theater ein „Klima der Angst“ unter einer angeblich körperlich übergriffigen Intendantin. Weshalb arbeiten Sie an so einem Theater? Müssen wir uns Sorgen um Sie und Ihre Kolleg:innen machen?
„Ein Tiefpunkt in der Kulturberichterstattung“
Philipp Ruch Endlich kommt die Wahrheit ans Licht! Das Zentrum für Politische Schönheit ist voller Angst vor Shermin Langhoff, ihre Intendanz ist schrecklicher als all die Morddrohungen von Rechtsradikalen gegen uns! Könnte man zumindest glauben, wenn man den „Spiegel“ liest… Der Artikel war ein Tiefpunkt in der Kulturberichterstattung.
tipBerlin Und was ist die Wahrheit?
„Das Gorki hat sich unter Shermin Langhoff zur Talentschmiede entwickelt“
Philipp Ruch Der Artikel gibt einen hausinternen Konflikt, in dem Vertraulichkeit vereinbart wurde, komplett einseitig wieder. Warum hat die „Spiegel“-Reporterin nicht mit den vielen Künstlerinnen und Gorki-Mitarbeitern gesprochen, die Shermin Langhoff und ihre Arbeit sehr schätzen? Warum kommt in einem Bericht über das vielleicht renommierteste Theaterhaus in Deutschland keine einzige Regisseurin, kein einziger Regisseur zu Wort?
Das Gorki hat sich unter Shermin Langhoff regelrecht zur Talentschmiede entwickelt. Am laufenden Meter haben sich dort Kunstschaffende ausprobiert, die dann in die erste Liga katapultiert oder zum Theatertreffen eingeladen werden. In dem Bericht des „Spiegel“ kommen diese Personen bezeichnenderweise nicht vor.
tipBerlin Wissen Sie, wie die „Spiegel“-Reporterin recherchiert hat?
„Wie die Begleitmusik für ein Arbeitsgerichtsverfahren“
Philipp Ruch Ich weiß nicht, ob da was recherchiert wurde. Für mich sieht das eher wie ein Freundschaftsdienst für die Dramaturgin Johanna Höhmann aus, die fand, dass ihr Arbeitsvertrag am Gorki hätte verlängert werden müssen. Mit der Ansicht war sie wohl eher alleine. Sie hat die Intendantin mit Vorwürfen überzogen. Der „Spiegel“-Artikel wirkte wie die Begleitmusik für ein Arbeitsgerichtsverfahren. Dass der „Spiegel“ sich für eine gezielte Kampagne von Einzelpersonen einspannen lässt, ist peinlich.
tipBerlin Dass Shermin Langhoff sich ab und zu danebenbenimmt, ist kein Geheimnis. Auch wenn man ihre Arbeit respektiert, muss man es erst nehmen, wenn Mitarbeiter unter ihren Umgangsformen leiden. Konnten Sie am Gorki-Theater ein „Klima der Angst“ beobachten?
„Das hat eher mit Unterfinanzierung zu tun als mit einer Powerfrau an der Spitze“
Philipp Ruch Wenn es da herrschen sollte, wurde es gut vor mir versteckt. Am Gorki gibt es über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Alle, die ich kennengelernt habe, haben einen sehr hohen künstlerischen Anspruch, sind unglaublich intelligent, extrem reaktiv und sehr experimentierfreudig. Shermin Langhoff hat schon eine goldene Hand bei der Personalauswahl. Sie hat mit dem Gorki Theatergeschichte geschrieben.
Die hohe Schlagzahl führt sicherlich zu Druck und Überforderung. Aber das hat eher mit der Unterfinanzierung zu tun als mit einer Powerfrau an der Spitze. Sich dann zu rächen, indem man ihr körperliche Übergriffe unterstellt, weil sie Leute umarmt, ist schon ziemlich mies. Sie ist einer der herzlichsten Menschen, die ich kenne.
Ich finde zwar auch, dass man ernst nehmen muss, wenn Mitarbeitende leiden. Aber die wenigsten von uns haben in ihrem Leben schon mal 200 Menschen geführt. Mit dem Anspruch, niemandem auf die Füße zu treten, dürfte das schnell ziemlich anstrengend werden, gerade übrigens als Frau. Den einen missfällt doch schon, wenn nicht den ganzen Tag über Foucault geredet, sondern plötzlich ziemlich viel gemacht wird. Die mediale Häme gegen Shermin Langhoff hatte dann aber etwas Duckmäuserisches.
tipBerlin Langhoff kann etwas anstrengend sein, Diplomatie ist nicht unbedingt ihre größte Stärke. Weshalb arbeiten Sie seit vielen Jahren vertrauensvoll mit ihr zusammen?
„Langhoff hat die Kunst immer an die erste Stelle gesetzt und verteidigt“
Philipp Ruch Das Gorki ist das einzige Theater, das radikale politische Kunst nicht nur aushält, sondern auch will. Shermin Langhoff hat die Kunst immer an die erste Stelle gesetzt und verteidigt. Weil sie glaubt, dass Kunst die Aufgabe hat, Macht zu kritisieren. Shermin Langhoff hat sich nie darum geschert, was beruflich aus ihr wird, wenn wir vom Zentrum für Politische Schönheit die Bundesregierung mit Aktionen wie „Flüchtlinge fressen“ generalstabsmäßig angreifen. Oder wenn wir das Holocaust-Mahnmal vor Höckes Haus bauen.
Wenn ein Intendant nur an seine eigene Karriere denkt, ist es im Grunde schon vorbei. Dann hat radikale Kunst keine Chance. Dann können Sie vielleicht noch irgendeinen Künstler ausstellen, der sich die Stirn aufschlitzt, aber der sollte besser nicht sagen, dass er das aus Protest gegen die Flüchtlingsabwehrpolitik des Bundesinnenministeriums tut. Da haben Sie schnell den Anruf des Bürgermeisters am Ohr, dass jetzt aber Schluss ist mit dem Theater!
Aktionskunst braucht viel Toleranz und auch eine gewisse Unfähigkeit, ans eigene berufliche Fortkommen zu denken. Sie müssen wirklich von der Sache überzeugt sein. Das ist bei Shermin Langhoff der Fall. Als Intendantin und als Mensch hat sie für die Freiheit der Kunst im letzten Jahrzehnt mehr geleistet als jeder andere Intendant.
tipBerlin Rechtfertigt das egozentrische Rücksichtslosigkeit und Sprüche wie „Das Gorki bin ich“?
„Denen fällt doch glatt das Champagnerglas aus der Hand“
Philipp Ruch Ich habe das Zentrum für Politische Schönheit 2008 gegründet, weil ich nicht verstanden habe, warum fast keines unter den 200 Stadttheatern in Deutschland auch nur einen Finger rührt, um neue Aktionen im Sinne eines radikalen politischen Theaters zu fördern. Das ist den allermeisten Intendanten viel zu riskant. Was denken Sie, was im Kunstmilieu los ist, wenn wir eine neue Aktion machen? Denen fällt doch glatt das Champagnerglas aus der Hand. Die hatten sich gerade so gut eingerichtet in ihrem Kunst-steht-in-Galerien-Begriff und dann wird das einfach niedergewalzt.
Da wird dann Rufmord betrieben. Nichts anderes ist der Boulevard-Artikel im „Spiegel“. Er macht groß auf mit dem Vorwurf, dass Shermin Langhoff gesagt haben soll: „Das Gorki bin ich!“ Ja, und? Das Gorki sollte sofort T-Shirts wie der 1. FC Köln drucken: „Ich bin das Gorki“. Ich würde gerne testen, ob sich daraus eine Skandal-Titelgeschichte machen lässt: Ich sage Ihnen jetzt ganz offen und ohne Rücksprache mit Anwälten: „Ich bin das Gorki!“ Acht Angestellte verlassen einen Betrieb mit 200 Mitarbeitern. Der „Spiegel“ glaubt, dass „eine solche Fluktuation ungewöhnlich in der Branche“ sei. Derartiger Scharfsinn ist kaum zu übertreffen.
Wie man liest, hat sich der Chef des „Spiegel“-Literatur-Ressorts gerade verabschiedet, weil er mehr als unglücklich mit der Entwicklung im Kultur-Ressort ist. Zuvor wurde auch schon der Intellektuelle Georg Diez rausgemobbt. Ich finde diese Vorgänge viel ungewöhnlicher. Shermin Langhoff ist weder rücksichtslos noch egozentrisch. Den Skandal-Satz „Ich bin das Gorki“ könnten von den Gorki-Zuschauerinnen bis zum Hauswart alle sagen. Identifikation ist wichtig.
tipBerlin Die „FAZ“ schreibt, seit Beginn von Langhoffs Intendanz habe an dem Theater eine „toxische Atmosphäre Einzug gehalten. Von Vetternwirtschaft und Bevorzugung Einzelner ist die Rede, meist seien diese Günstlinge, wie Langhoff selbst, türkischer Abstammung gewesen.“ Ist das Recherche oder Ressentiment?
„Seltsam eigentlich, dass es Schlingensief bislang nicht getroffen hat“
Philipp Ruch Das ist offener Rassismus der widerlichsten Sorte. Deutsch und männlich, so hat Theater in der „FAZ“-Republik zu sein. Die „FAZ“ wird Shermin Langhoff ihre Leistungen nie verzeihen. Ich muss da immer an Nietzsches Genealogie der Moral denken, der Aufstand der Missgünstigen, derer, die jetzt vielleicht nicht ganz so viel im Kopf haben, die aber eines vortrefflich können: intrigieren.
Seltsam eigentlich, dass es Schlingensief bislang nicht getroffen hat. Der wurde nämlich nicht nur körperlich übergriffig, der hat auch ganze Menschengruppen, von Behinderten über Flüchtlinge bis zu ALS-Kranken, für seine Kunst – was sage ich: Für seinen Ruhm! – instrumentalisiert. Als gäbe es keine echten Gründe, Kunst zu machen. Als würde man Kunst betreiben, um berühmt zu werden und nicht aus einer inneren Notwendigkeit heraus, aus Notwehr regelrecht.
Was hat die Pandemie mit den Krisen des Kapitalismus zu tun? Darüber sprachen wir mit Shermin Langhoff und Oliver Frljić. Philipp Ruch und das „Zentrum für Politische Schönheit“ lancierten 2016 die Aktion „Flüchtlinge fressen“ mit Tigern vor dem Maxim-Gorki-Theater – „Ein Bärendienst“ für das Anliegen, schrieb Eva Apraku. 2019 sorgten die Künstler:innen mit einer umstrittenen Aktion für Aufsehen: eine Installation vor dem Reichstagsgebäude mit Bodenproben, die vermeintlich Asche von Holocaust-Opfern enthielten. Die Kritik an der Aktion des „Zentrums für Politische Schönheit“ hielt Jacek Slaski für falsch.