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Interview

René Polleschs Volksbühne: Endlich Unordnung – und noch geilere Stücktitel

Selten dürfte der Beginn einer Intendanz so gespannt erwartet worden sein: Mit René Polleschs Übernahme der Volksbühne enden (hoffentlich!) die Krisen-Jahre, in denen der Castorf-Nachfolger Chris Dercon zügig an der eigenen Unfähigkeit gescheitert ist und der Interims-Manager Klaus Dörr etwas zu machtbewusst regierte. Zum Auftakt haben wir René Pollesch und Vanessa Unzalu Troya, die Leiterin von P14, dem Jugendtheater der Volksbühne, in einem Mail-Interview um Auskunft über ihre Pläne gebeten.

René Pollesch ist neuer Intendant der Volksbühne – und spricht zusammen mit P14-Leiterin Vanessa Unzalu Troya über den Auftakt. Foto: Imago/Snapshot
René Pollesch ist neuer Intendant der Volksbühne – und spricht zusammen mit P14-Leiterin Vanessa Unzalu Troya über den Auftakt. Foto: Imago/Snapshot

René Pollesch braucht noch eine Pitching-Line

tipBerlin Frau Unzalu Troya, Herr Pollesch, zu Beginn von Frank Castorfs Intendanz 1992 gab es die berühmte Prognose, in drei Jahren wäre die Volksbühne entweder tot oder berühmt…

René Pollesch Ja, wir brauchen auch noch so eine Pitching-Line.

tipBerlin Wo sehen Sie die neue Volksbühne in drei Jahren?

Vanessa Unzalu Troya Bei P14 wünsche ich mir, ganz lokal in Berlin zu Ruhm zu kommen. Und zwar unbedingt auch außerhalb der Theaterbubble! Ich möchte, dass P14 für viele junge Menschen ein realer Ort ist, an dem sie zusammenkommen, um gemeinsam künstlerisch zu laborieren, sich zu organisieren und dabei die Zeit zu vergessen. Das ist für mich ein größeres Ziel als ein ferner Like oder eine digitale Reichweite. Weltberühmt zu werden steht dann wohl erstmal an zweiter Stelle.

tipBerlin Castorf und Bert Neumann haben die Volksbühne über zwei Jahrzehnte geprägt. Halten Sie auch so lange durch?

„Die Frage ist, ob unsere Zuschauer:innen durchhalten“

Vanessa Unzalu Troya Klar!

René Pollesch Die Frage ist, ob unsere Zuschauer:innen durchhalten.

tipBerlin Herr Pollesch, weshalb haben Sie Vanessa Unzalu Troya, die Leiterin von P14, in die Künstlerische Leitung eingeladen?

René Pollesch Wir haben P14 vor gut zwei Jahren in unserer Bewerbung „Die Corona der Volksbühne“ genannt. Das hieß für uns, dass es da eine Familienähnlichkeit gibt. Da sah ich persönlich auch den viel stärkeren Kontakt als zu Schauspielschulen, und das hat vor allem mit der Arbeitsweise von P14 zu tun und mit Vanessa.

René Pollesch leitet die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ab dieser Spielzeit als Intendant. Er prägte während der Intendanz Frank Castorfs mit seinen Inszenierungen die Volksbühne mit. Foto: Thomas Aurin
René Pollesch leitet die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ab dieser Spielzeit als Intendant. Er prägte während der Intendanz Frank Castorfs mit seinen Inszenierungen die Volksbühne mit. Foto: Thomas Aurin

Vanessa Unzalu Troya Natürlich habe ich mich sehr gefreut, als Anna Heesen und René mich gefragt haben, mit ihnen und den anderen zusammen die Volksbühne zu gestalten. Es gab ja den Vorwurf an die Castorf-Volksbühne, dass sie sich nie um Nachwuchs gekümmert hätte. Dabei gibt es sehr viele junge Theatermacher:innen, die aus der Volksbühne hervorgegangen sind. Es gibt schon immer eine Verwandtschaft zu dem, was im großen Haus passiert.

Aber bei P14 kommen autonome junge Künstler:innen zusammen, die sich ausprobieren wollen. Da wird es schnell langweilig, immer nur zur Volksbühne aufzuschauen. Die Leute wollen hier ihr eigenes Ding machen. Auch auf die Gefahr hin, daran zu scheitern. In den letzten Jahren, nach dem Ende der Intendanz Castorfs, war die Volksbühne total konventionell und sehr deutlich von oben nach unten organisiert.

Für das Jugendtheater bedeutete das, dass wir kleingehalten wurden, immer mit dem Nachsatz: „Das ist ja so eine wichtige Arbeit, die du da machst.“ Dass es jetzt den Versuch gibt, das Haus zu enthierarchisieren, wieder Unordung reinzubringen und Leute wie Anna Heesen, René Pollesch, Martin Wuttke oder Kathrin Angerer, die das Potential von P14 erkennen, lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

tipBerlin Wie wird P14 die Volksbühne verändern?

René Pollesch Noch geilere Stücktitel!

Vanessa Unzalu Troya leitet seit 2008 P14, das Jugendtheater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ihre Arbeit ist geprägt von dem schöpferischen Vertrauen in die radikale Kreativität und die Autonomie aller Mitwirkenden. Foto: Leonie Jenning

Vanessa Unzalu Troya P14 wird gleich am Eröffnungswochenende mit zwei Premieren dabei sein. Einmal im Zirkuszelt vor dem Theater mit „(AT) Arbeitstitel sind auch Titel“ von Jan Koslowski. Und im dritten Stock zeigen wir endlich, endlich „I Spit On My Grave – Im Sommerloch des Horrors“, in der Regie von Charlotte Brandhorst. Mit „I Spit On My Grave“ hatten wir im März 2020 kurz vor dem ersten Lockdown begonnen… 

Um unser Spielzeitprogramm jungen Leuten, die Interesse an P14 haben, vorzustellen, mussten wir in diesem Jahr coronabedingt mehrere kleine Treffen machen. Wir haben tolle Leute kennengelernt, die in Zukunft Teil von P14 sein werden. Ich bin jedesmal tief beeindruckt von den klaren künstlerischen Gedanken, die diese jungen Menschen haben, von der Ernsthaftigkeit und Genauigkeit, mit der sie vorgehen. Es ist viel mehr als nur die „frische Energie“, von der so oft geredet wird, wenn es um Jugendtheater geht.

tipBerlin Eine der erstaunlichsten Volksbühnen-Inszenierungen der letzten Jahre war „Drei Milliarden Schwestern“ von Bonn Park, eine P14-Produktion. Bonn Park hat als Autor im Jugendtheater P14 angefangen und dort seine sehr eigene Kunst entwickelt. Ist das ein Modell für die Zukunft?

René Pollesch Ja, wir glauben da stark dran. Zum Beispiel mit Leonie Jenning und Martha Mechow, die beide von P14 kommen und jetzt im Großen Haus an einer Produktion arbeiten.

tipBerlin Ist die neue Volksbühne die Fortsetzung der Castorf-Volksbühne mit anderen Mitteln? Wenn nein: Was unterscheidet sie?

Das Räuberrad ist das Symbol der Volksbühne. Mit René Pollesch übernimmt ein Regisseur, der das Haus schon unter Castorf geprägt hat, die Intendanz. Foto: Imago/Jürgen Ritter

Troyas Credo: „Don’t Look Back“

Vanessa Unzalu Troya Es gibt eine Kontinuität, die wir nicht leugnen wollen und auf die wir uns beziehen. Aber ich will auf keinen Fall zurückschauen. Ich würde sagen, wir reden mehr, hören uns mehr zu, diskutieren mehr, kommen dadurch vielleicht schwerer zu Entscheidungen, aber mir macht es Spaß.

René Pollesch Apropos Frauenfußball, die Volksbühne war schon bei Castorf eine große Frauenmannschaft. Es wird mehr weibliche Trainerinnen geben in unserer Volksbühne.

tipBerlin Leute wie ich oder mein Freund John Goetz finden die Vorstellung, im Zuschauerraum der Volksbühne alt zu werden und den Pollesch-Inszenierungen und einigen unserer Lieblingsschauspieler:innen beim Älterwerden zuzusehen, extrem attraktiv. Ist das eine Alternative zum neoliberalen Berufsjugendtum?

Vanessa Unzalu Troya René hat mal gesagt, wir sind kein Durchlauferhitzer, durch die wir die Künstler:innen durchjagen. Ich halte gerne an Leuten fest. Ich schütze bei P14 auch unbedingt die künstlerischen Beziehungen, die sich bilden und ergeben. Das ist bei P14 eine wichtige Basis. Die Kunst dabei ist, trotzdem nicht hermetisch zu werden, offen für andere zu bleiben und neue Einflüsse, die einem zunächst fremd erscheinen oder nicht der eigene Geschmack sind, zuzulassen.

René Pollesch Man kann in der Volksbühne P14 beim älter werden zusehen und uns auch. Also da, wo auch was passiert. Im Mittelfeld können wir eher nicht so mithalten.

tipBerlin Apropos Lieblingsschauspieler:innen: Wer ist im Ensemble?

2022/23 kommt auch Sophie Rois an die Volksbühne

René Pollesch Wir zählen zum Ensemble alle, die bei uns auf der Bühne stehen werden. Wer fest im Ensemble ist, kann auch an anderen Theatern spielen. Auch die, die sich nicht binden wollen, wollen wir trotzdem dazu zählen, und sie sich auch. Das heißt, es ist bei uns jetzt und war auch bei Castorf nicht wirklich von außen erkennbar. Weil es viele sind, kann ich hier nicht alle nennen, ich fange mal an: Rosa Lembeck, Inga Busch, Christine Groß, Marie Rosa Tietjen, Lilith Krause, Josefin Fischer, Astrid Meyerfeldt, Fabian Hinrichs, Benny Claessens, Thomas Schmauser, Sophie Rois (ab 22/23) und viele andere. 

tipBerlin Herr Pollesch, Sie haben schon vor zwei Jahren, als bekannt wurde, dass Sie Intendant werden, gesagt, dass Sie das Haus ganz sicher nicht alleine leiten werden. Wie muss man sich die kollektive Führung des Theaters vorstellen? Wer ist mit Ihnen in der Künstlerischen Leitung?

René Pollesch Also, ich weiß nicht, wie man das zählt. Ich würde im Augenblick sagen, alle, die am Spielplan beteiligt waren, also alle, die die Künstler:innen eingeladen haben und die, mit denen sie gerne auf der Bühne spielen wollen. Das sind viele Schauspieler:innen und ungefähr sechs Leute, die nicht spielen.

tipBerlin Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, mit wem Sie an der Volksbühne arbeiten wollen? Reichen Sympathie und Talent, was immer das ist?

Talentsuche ist eine falsche Fährte

Vanessa Unzalu Troya Bestimmt spielt Sympathie eine Rolle. Nach Talenten suche ich nicht. Ich glaube, das ist eine falsche Fährte. Es muss sich in der Arbeit ergeben, dass man zusammenkommt. Wir haben zwar immer den Anspruch, möglichst viele unterschiedliche Menschen mitzunehmen. Und wir zerbrechen uns den Kopf darüber, wie man das macht. Aber natürlich gibt es immer auch eine Auswahl. Und die ist auch oft vom Zufall bestimmt. Ein richtig faires Spiel ist das wohl nie.

Das erste Stück der Intendanz von René Pollesch ist „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“, Premiere am 16. September 2021. Tickets, Spielplan und mehr Informationen hier


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Es war die erste Bewerbung seines Lebens: 2019 erzählte René Pollesch uns, dass er nicht als trojanisches Pferd die alte Volksbühne wieder einschleusen wolle. Einen Ausblick auf das, was euch in der Spielzeit 21/22 der Volksbühne erwartet, lest ihr hier. Jede Woche neu: Unsere Kultur-Tipps fürs Wochenende in Berlin. Ihr interessiert euch vor allem für Kunst? Die besten Ausstellungen in Berlin stellen wir hier vor. Immer aktuelle Texte über Kultur in Berlin lest ihr hier.

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