Auf der Bühne steht ein gutes Dutzend großer Holzkisten, sie sind rechteckig und offen, zu stabil für Särge, zu eng für Wohncontainer. Vielleicht sind es ja die Zellen der Mönche, jedenfalls bewegen die sich darin, ob auf dem Kopf balancierend oder wie ein Bündel zusammengefaltet, unglaublich geschickt. Eine der Kisten ist anders, sie gehört dem Fremden. Der sitzt am Bühnenrand und spielt mit Miniaturmodellen der Kisten, schichtet sie hintereinander, übereinander, stellt sie immer wieder um, so wie es auch auf der Bühne geschieht.
Die Zusammenarbeit zwischen dem belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und dem britischen Bildhauer Antony Gormley wirkt so unprätentiös und effizient, wie man es sich öfter wünschen würde, wenn die Künste sich mischen. Für „Sutra“ erfinden sie, gemeinsam mit dem polnischen Komponisten Szymon Brzуska, die europäische Form für einen chinesischen Inhalt. Die Mönche aus dem Shaolin-Tempel der Provinz Henan werden von Cherkaoui nicht als ferne „Menschen-Tiere-Sensationen“ vorgeführt wie bei Andrй Heller, stattdessen erzählt er seine Reise zu ihnen, mit ihnen und wieder zurück. Indem er sich selbst als Gegenpol einbaut, kann er Menschen zeigen statt Attraktionen und sie mit Würde behandeln statt mit Hysterie.
Sidi Larbi Cherkaoui hat sich schon immer für asiatischen Kampfsport interessiert –, dass er sich gerade zu diesem Zeitpunkt, auf dem Sprung in die Weltkarriere, für zwei Monate in ein buddhistisches Kloster zurückzog, ist sicher kein Zufall. Dort suchte er nach dem Geheimnis der Kung-Fu-Mönche, vielleicht auch nach seinem eigenen, und wie immer bei den wichtigen Dingen des Lebens ist der Weg schon das Ziel. Wie die Männer in der Luft mit der Luft tanzen ist durchaus spektakulär – jeder ein siegreicher Ikarus, fliegend und stürzend zugleich –, aber es ist nicht nur die körperliche Kraft, die hier beeindruckt, es ist auch die spirituelle Disziplin.
Der Choreograf identifiziert sich mit dem Dualismus von Ruhe und Energie, Gebet und Kampf, er versucht zu begreifen, nachzuvollziehen und gibt sich selbstironische Blößen im Vergleich mit den Vorbildern. Dass er die andere Kultur nicht vereinnahmt, nicht assimiliert, sondern sich voller Staunen und Respekt zu ihr in Beziehung setzt, ihr auch das Sperrige und Unverständliche belässt, macht die Größe dieses Abends aus. „Sutra“ ist ein west-östliches philosophisches Spiel aus Körperbeherrschung und Transzendenz, einfach und rätselhaft wie Gormleys Holzkisten – und von einer Schönheit, so irdisch und himmelsnah, dass man sie für immer in sich aufbewahren möchte.
Text: Renate Klett
Fotos: Hugo Glendinning
Sutra
Haus der Berliner Festspiele, chaperstraße 24, Wilmersdorf,
Mi 3. bis Sa 6.12., 20 Uhr
Tickets unter www.tip-berlin.de/tickets