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Umfrage in der Szene: So wird sich das Theater nach der Corona-Krise verändern

Theater nach Corona: Wie geht es weiter, jetzt und künftig? Wir haben Berliner Schauspieler*innen, Regisseur*innen und eine Intendantin gefragt. So viel dürfte klar sein: Ohne Theater geht es nicht.


Corinna Kirchhoff (Schauspielerin, Berliner Ensemble)

Corinna Kirchhoff während der Fotoprobe zu "Nichts von mir" im Berliner Ensemble. Foto: Imago/Martin Müller
Corinna Kirchhoff während der Fotoprobe von „Nichts von mir“ im Berliner Ensemble. Foto: Imago/Martin Müller

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Corinna Kirchhoff Dass sich das Theater – auch deutlicher noch als vor der Krise – besinnt auf seinen fast utopischen „Live“-Charakter: Körperlich-geistig anwesend sein zeitgleich mit dem Zuschauer im selben Raum, jetzt! Zusammen! Dass es mit dieser superkonkreten wie utopischen Dimension, die nur dem Theater gehört, purer und selbstbewußter umgeht und auch die künstlerische Notwendigkeit akustischer und visueller Zutaten radikaler überprüft/weglässt.

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Corinna Kirchhoff Verordnete körperliche Distanz auf der Bühne wird uns aufgeben, bewusster das, was Nähe/Beziehung bedeuten könnte, zu erkunden. Wie wird sie hergestellt? – intentional, „geistig“, emotional, sprachlich, energetisch. Vielleicht nicht uninteressant.

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Corinna Kirchhoff Dass die Krise immer wieder das Aussetzen des Spielbetriebs verlangt und dadurch die Selbstverständlichkeit, ins Theater zu gehen, aus dem Bewusstsein verschwindet. Andererseits könnte sich aber Interesse am Theater auch steigern, da es nicht selbstverständlich ist und dadurch vielleicht kostbarer wird.

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Corinna Kirchhoff Natürlich: Nein!


Bastian Trost (Performer, Gob Squad)

Bastian Trost während der Fotoprobe für die Tanzperformance "The West" an der Volksbühne Berlin. Foto: Imago/Martin Müller
Bastian Trost während der Fotoprobe für die Tanzperformance „The West“ von Constanza Macras an der Volksbühne Berlin. Foto: Imago/Martin Müller

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Bastian Trost Wir entwickeln gerade unser Projekt „Show Me A Good Time“, eine Online-Performance, live gesendet am 20. Juni aus dem leeren Hebbel Theater bzw. dem HAU1 des HAU Hebbel am Ufer und den Straßen von Berlin, und darin stellen wir Menschen auf der Straße genau diese Frage. Bei einer Probe hat einmal ein junger Mann geantwortet, er wünsche sich vom Theater mehr Humor und Flexibilität. Soweit würden wir ihm da zustimmen. Dann hat er allerdings davon geredet, dass alle Theater „gleichgeschaltet“ seien. Und da würden wir ihm heftig widersprechen. Das Bild aber blieb in unseren Köpfen, dass die Theater aus der Perspektive dieses Mannes alle gleich sind. Demnach müsste sich wirklich etwas ändern und wir wünschen dem Theater nach der Krise erst mal ein gutes Gedächtnis, so dass es sich daran erinnert, wie flexibel eine Gesellschaft sein kann, wenn es nötig scheint. Vielleicht kann sich das Theater dann auch Veränderungen zutrauen, die vor der Krise undenkbar schienen. Alles natürlich mit viel Humor.

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Bastian Trost Krisen sind gut dafür, die gewohnten Vorgänge zu überdenken und das, was sich in der Ausnahme als bereichernd erwiesen hat, neu zu lernen und das, was sich als störend erwiesen hat, wegzulassen. Zum ersteren würden wir u.a. die Vielfalt der Mittel zählen und vor allem die Offenheit dafür, was alles Theater sein kann. Zum letzteren würden wir den patriarchalen Geniekult zählen (der im Theater von allen Geschlechtern gepflegt wird) und vielleicht auch große Teile des Kanons. Denn bei Corona-bedingter, ruhigerer Betrachtung sah manches auf einmal wie eine Aneinanderreihung seltsamer Geschichten aus, die wir uns zwanghaft immer wieder erzählen, nur um die Macht darüber zu erhalten, wer sprechen darf (oder wer überhaupt gesehen werden darf) und wer nicht.

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Bastian Trost Wenn alles so weiter geht wie vorher.

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Bastian Trost Wenn man das Theater als elitären, verschlossenen Ort wahrnimmt, in dem die eigene Geschichte nicht vorkommt oder man sogar bewusst rausgehalten wird; oder wenn man im Theater arbeitet und dort unter den Strukturen leidet, dann könnte ein Leben ohne Theater bestimmt ein besseres Leben sein. Aber wenn man sich angesprochen, erreicht fühlt von der Magie des Live-Moments, den Emotionen, der Vielfalt an performativen Mitteln und der Unmittelbarkeit und politischen Kraft der kollektiven Erfahrung, dann könnte das Leben ein besseres sein mit Theater. Wobei wir bei Gob Squad immer in der Versuchung sind zu sagen: Let’s try it out.


Annemie Vanackere (Intendantin, HAU Hebbel am Ufer)

Annemie Vanackere ist die Intendantin des Hau. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de
Annemie Vanackere ist die Intendantin des Hau. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Annemie Vanackere Dass aus den Einschränkungen und der Enge, aber auch dem Innehalten, die der Lockdown für das Theater zunächst bedeutet hat, die Chance auf eine neue Offenheit innerhalb der Szene entsteht: Das sollte auf künstlerischer Ebene bspw. eine neue Akzeptanz von inter- und transmedialem Arbeiten innerhalb des Theatergenres betreffen und auf institutioneller Ebene ein Um- oder Weiterdenken, wie wir arbeiten wollen. Die Krise legt auch offen, was in unserer Gesellschaft nicht funktioniert. Die ohnehin schon marginalisierten Gruppen trifft es am härtesten.

Wir werden uns in Zukunft noch konsequenter dem Abbau und der Veränderung patriarchaler und kolonialistischer Strukturen, die letzten Endes auf der gewaltsamen Ausbeutung verwundbarer Körper beruhen, widmen müssen. Bei diesen Themen hinkt das Theater vielen anderen Lebens- und auch Kunstbereichen momentan hinterher, hätte mit seinen Möglichkeiten aber durchaus das Potenzial, Denkanstöße und neue Ideen zu geben und eine Vorreiter*innenrolle einzunehmen und sich auch das subversive Potential des Digitalen anzueignen und damit mutiger zu spielen. Wir müssen alle noch viel lernen.

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Annemie Vanackere Die Krise hat das Theater bereits verändert. Es gibt wohl kein Theater, das in den letzten Monaten nicht sein digitales Programm erweitert hat. Auch wir am HAU haben das mit vielen Beiträgen jenseits des einfachen Stücke-Streamings getan und werden digitale Formate und Plattformen, wie beispielweise den HAU3000-Bereich auf unserer Website, auch über die Krise hinaus weiter intensiv bespielen. Natürlich lässt sich das Live-Erlebnis nicht toppen; und auch wir können es nicht erwarten, endlich wieder live im HAU zusammenzukommen!

Bei der Entwicklung zukünftiger Bühnenproduktionen wird aber sicher in sehr vielen Fällen die digitale und multimediale Komponente mehr mitgedacht werden als früher. Dies bietet die Chance seinen Wirkungsradius zu erweitern und damit letztlich Kunst zugänglicher zu machen und mehr Publikum zu erreichen. Eine Produktion kann zum Beispiel nicht mehr nur live vor Ort, sondern überall auf der Welt gesehen werden und ist auch für Menschen zugänglich, die den Weg ins Theater sonst nicht fänden – sei es, weil sie es körperlich nicht können oder nicht über die finanziellen Mittel dazu verfügen. Und ich denke dabei auch an das junge Publikum der Zukunft, für die „real“ und „virtuell“ kein Gegensatz mehr ist.

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Annemie Vanackere Dass das Theater die gerade angesprochenen Chancen auf Weiterentwicklung nicht nutzt. Ein einfaches „Weiter so wie vorher“ darf es für mich nicht geben. Dann wären alle anfänglichen Zweifel, der Verzicht, die ganze Selbstreflexion und die viele Arbeit während der Krisenzeit ja umsonst gewesen. Das Theater hat nun die Chance zu zeigen, dass es eine progressive Kunstform ist. So bleibt es politisch und gesellschaftlich relevant.

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Annemie Vanackere Darf ich mal eine Gegenfrage stellen? Wäre ein Leben ohne Bücher, ohne Kochkunst, ohne Freunde, ohne Liebe…. ein besseres Leben? Für das alles gilt: Mehr ist besser. Bisweilen würde auch einfach nur eine gute Form der Unterhaltung und des Zeitvertreibs fehlen. Gerade jetzt, da wir so radikal zurückgeworfen wurden auf das Digitale, merken wir, wie wichtig die persönliche Begegnung, der Austausch und das Zusammenkommen sind. Theater gehören zu diesen öffentlichen Orten mit einer ganz einzigartigen Energie – wie gerade in Berlin beispielsweise auch die Clubs, in denen das gemeinschaftliche Erleben zelebriert wird und die ohne dieses Gemeinschaftserlebnis nicht vorstellbar sind. Ein Leben ohne Theater wäre in dieser Hinsicht also ärmer und einsamer und sicher nicht besser.


Constanze Becker (Schauspielerin, Berliner Ensemble)

Constanze Becker bei der Fotoprobe zu "Drei Mal Leben" im Berliner Ensemble. Foto: Imago/Future Image
Constanze Becker bei der Fotoprobe zu „Drei Mal Leben“ im Berliner Ensemble. Foto: Imago/Future Image

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Constanze Becker Ich wünsche mir erst einmal, dass möglichst viele Theater trotz Einnahmeverlusten die Krise überstehen werden. Und dass wir Theaterschaffenden uns in der Zeit der letzten Wochen genug Gedanken machen konnten, was im Theater wichtig und zeigenswert ist.

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Constanze Becker Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen, auf der Bühne und davor, die Sehnsucht haben, den archaischen Ursprung des Theaters wieder zu erleben: Ich möchte lachen, weinen, Menschen, große Geschichten, aber nicht unbedingt eine Corona-Aufarbeitung.

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Constanze Becker Wenn wir noch lange ohne Zuschauer spielen müssen. Insolvenz, weil die Wirtschaft Vorrang hat.

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Constanze Becker Ein Leben ohne Theater wäre für mich kein besseres Leben, es wäre gar kein Leben. Und ich bin sicher, solche elementaren Phänomene wie Theater oder Fußball wird es in irgendeiner Form immer geben.


Daniel Wetzel (Regisseur, Rimini, Protokoll)

Daniel Wetzel bei Proben zu "Der Zauberlehrling" im Hebbel am Ufer Berlin, 2009. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de
Daniel Wetzel bei Proben zu „Der Zauberlehrling“ im Hebbel am Ufer Berlin, 2009. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Daniel Wetzel Für “das” Theater – also ein sehr weites Feld – wünsche ich mir ein überraschend reiches Spektrum neuer Ideen und Ansätze, die den teils neuen Bedingungen und den Erfahrungen der vergangenen Monate Positives, Überraschende abgewinnen. Ich finde, es könnte mehr, aber produktive Diskussion darüber geben, wie Theater und Schulen bzw. Universitäten / Akademien besser zusammenarbeiten bzw. Füreinander zugänglich sein könnten. Denn ich gehe ins Theater mit einem gesteigerten Interesse an unkonventionellen Formaten, Begegnungen, Ereignissen, die immer auch mit kreativer Forschung bzw. forschender Kreativität einher gehen. 

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Daniel Wetzel Es wird auch gute Internet-basierte Formate geben. Es wird erstaunlich neue Bühnenkonzepte geben. Ich freue mich auf Open-World-Stücke, in denen 50 Avatare irgendwelchen Helden hinterherrennen und einander im Teamspeech anschreien. Oder so. Ich freue mich auf Ereignisse, die weniger ortsgebunden und entsprechend weniger exklusiv sind als Theateraufführungen mit ihren beschränkten Sitzplätzen. Ich freue mich auf neue Formen des Zugangs zu Texten. 

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Daniel Wetzel Auslese von oben. Gesteigerter Zwang zur Kommerzialisierung. Verkürzter Diskurs über seine Legitimation. 

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Daniel Wetzel Da das Machen und Rezipieren von Theater sogar seine härtesten Kritiker inbegriffen auf Freiwilligkeit basiert, ist das eine Frage, die v.a. mit Blick auf die leeren Kassen gestellt wird. Weil es, um ein Bild zu wagen, viel Scheiße produziert, die sich dann als idealer Nährboden für unvergessliche Ereignisse erweist, sind wir hier in derselben Klemme wie bei den Öffentlich Rechtlichen Sendern. Und ich empfehle, beim Diskurs, die Gefässe nicht mit ihrer Nutzung zu vertauschen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Also in der Praxis, mit Projekten zu diskutieren und zeigen – welches Theater unser Leben bereichert. 


Lisa Lucassen (Performerin, She She Pop)

Lisa Lucassen gehört zur Gruppe "She She Pop". Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de
Lisa Lucassen gehört zur Gruppe „She She Pop“. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de

tipBerlin Was wünschen Sie sich für das Theater nach der Krise?

Lisa Lucassen von „She She Pop“ Ich wünsche mir, dass das Theater seine Funktion als Treffpunkt für die Gesellschaft wieder entdeckt und aktiv einnimmt. Es könnte noch mehr als vor der Krise genutzt werden als Ort, an dem die Gemeinschaft über sich selbst nachdenkt, sich in seinem geschützten Rahmen drängende Fragen stellt und sich eine utopische Kommunikation übt. 

tipBerlin Wie wird die Krise das Theater verändern?

Lisa Lucassen Es wird sich besonders anfühlen. Vielleicht geradezu verboten, wie eine Übertretung. Man wird sich wieder gegenseitig riechen können und auch müssen. Die Öffentlichkeit, dass wir soziale, öffentliche Wesen sind, wird wieder fühlbar werden. Wir werden es mit neuen Augen sehen – vielleicht sogar mehr zu schätzen wissen. 

tipBerlin Was wäre der Worst Case für die Theater?

Lisa Lucassen Worst Case wäre, wenn nur die „großen“ die Krise einigermaßen überstehen, aber die kleineren Akteur*innen ihren Beruf an den Nagel hängen müssen, weil ihre ohnehin schon prekäre Situation in der Krise nicht mehr haltbar ist. Wenn alle vielversprechenden Gruppen und Einzelpersonen sich anderweitig verdingen, weil sie keinen Platz mehr für ihre Kunst finden können, wäre das schlimm.

tipBerlin Zusatzfrage: Wäre ein Leben ohne Theater ein besseres Leben?

Lisa Lucassen Mein Leben wäre – zumindest was finanzielle Sicherheit angeht – ein besseres Leben, wenn ich beispielsweise Zahnärztin geworden wäre. Dann bekäme ich jetzt ohne weitere Imstände 90% meiner Einkünfte vom vorigen Jahr. Aber ich habe mich vor vielen Jahren für ein Leben mit Theater entschieden. 


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