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Beruf wechseln mit 50: Wie diese Berliner ihr Glück gefunden haben

Kann man mit mit 50 Jahren noch einmal den Beruf wechseln? Nichts leichter als das, sagen Arbeitsmarktexperten. Hier erzählen wir die Geschichten von Leuten mit Lebenserfahrung, die heute Bus fahren für die BVG, in der Rettungsbranche arbeiten oder Akademiker geworden sind – und damit ihr Glück gefunden haben.

Experten im Jobcenter beraten Experimentierfreudige, die den Beruf wechseln wollen. Foto: Imago/Jens Schicke

Berufswechsel mit 50: Vom Filmkünstler zum Lebensretter

Der Mann, der früher Filmkünstler war und heute Herz-Druck-Massagen anleitet, ist vor Kurzem 50 geworden. Er ist beseelt von einem jugendlichen Beginnergefühl – dank seiner neuen beruflichen Existenz, angefangen erst im vergangenen Jahr.

René F.* ist in der Branche der Lebensretter tätig: Für eine große Hilfs- und Rettungsorganisation lehrt er Menschen, wie man Erste Hilfe leisten kann. Zuvor war der gebürtige Ost-Berliner ein Fotograf, Filmregisseur, zuletzt Lektor für Drehbücher.

„Ein schönes Thema“ nennt er seine neue Betätigung. Genau genommen besteht sein Gewerk darin, in Firmen und öffentlichen Einrichtungen engagierte Arbeitnehmer:innen zu betrieblichen Ersthelfenden zu machen.

Es ist ein Bruch, den René F., Vater in einer Patchwork-Familie, in der Mitte seines Lebens gezogen hat. Damit ist er allerdings nicht allein: Viele Arbeitnehmer:innen orientieren sich in einem Alter um, das 18-Jährige mit einem behaglichen 9-to-5-Lifestyle und einer Anmeldung im Tennis-Club verbinden. Also einem Dasein, das dahinplätschert wie ein Bach in einem frühherbstlichen Wald – wenn man nicht gerade in einem prekären Berufszweig plackt. Dabei sind etliche Arbeitnehmer:innen bereit für einen Absprung: Laut einer Umfrage  von 2019 konnten sich drei Viertel der Teilnehmer vorstellen, in einem Beruf zu arbeiten, der nicht zu ihrer Ausbildung passt.

Berufswechsel: Gründe reichen von Geldproblemen bis Sinnsuche

Die Gründe für den Neustart sind so vielfältig wie Inserate in Job-Börsen: Sie reichen von einer betriebsbedingten Kündigung im alten Job über Geldprobleme bis zu einer Neujustierung wegen einer Sinnkrise. Die Aussichten auf interessante Professionen sind dabei gar nicht so übel, legen die Diagnosen von Arbeitsmarktexperten nahe.

René F., der Berufsneuling, ist von der Corona-Krise in die neue Lebensphase gestürzt worden. Wegen der Lockdowns hatte er im Verlauf des Jahres 2020 keine Aufträge aus der Filmbranche mehr erhalten. Wie so viele Menschen aus dem Kreativmilieu, das damals bekanntlich notleidend war, hatte er im in einem Impfzentrum gejobbt. Dort belegte er einen Erste-Hilfe-Kurs und entwickelte Interesse am Schaffen der Notversorger – vor allem an deren Ausbildung.

Eine Möglichkeit für Kreative, die den Beruf wechseln wollen: den Künstlerberuf ruhen lassen – und sich für Rettungs- und Hilfsorganisationen aufopfern. Foto: Imago/T. Seeliger

Folglich ließ er sich von der besagten Hilfsorganisation zum Ausbilder qualifizieren. „Die Ausbildung hat auch etwas mit Filmregie zu tun: Man spielt Situationen durch“, sagt René F.. In seinen Kursen sollen die Teilnehmenden lernen, typische Krankheitsbilder zu entdecken, ob Schlaganfälle, Herzinfarkte, Asthma-Attacken. Sie üben außerdem, Rettungsmaßnahmen vorzunehmen. Stabile Seitenlage, Herz-Druck-Massage, Mund-zu-Mund-Beatmung, das übliche Programm. Nach einer anfänglichen freien Mitarbeit ist er nun Festangestellter. Über seinen Stil sagt er: „Mir ist wichtig, Humor einzustreuen und für eine lockere Atmosphäre zu sorgen.“ Réne F. verkörpert den Pädagogen mal drei, mal vier Tage die Woche. Ganz will er nicht von seinem cineastischen Naturell lassen, und so hat er noch Freiräume fürs Lektorieren von Drehbüchern.

Bundesagentur für Arbeit gibt Rat beim Berufswechsel

Wer wissen will, inwiefern die Geschichte von Réne F. mehr ist als nur ein Einzelfall, redet am besten mit einer Expertin von der Bundesagentur für Arbeit.

Da sind zum Beispiel die Erfahrungsberichte von Astrid Schumacher, leitende Jobvermittlerin an der Regionaldirektion Berlin/Brandenburg der Arbeitgeber.

„Für viele Arbeitgeber sind ältere Bewerber attraktiver geworden“, verkündet sie. „Sie schätzen ihre Berufserfahrung, ihre menschliche Reife, ihre Zuverlässigkeit.“

Der Fachkräftemangel spielt Berufswechslern in die Karten

Wegen des gravierenden Fachkräftemangels suchen zudem viele Personalchefs fast verzweifelt nach motivierten Mitarbeitenden. Dabei geraten Menschen mit vielschichtiger Berufsbiografie automatisch in den Blick. „Die Chancen für einen Quereinstieg sind aktuell in vielen Branchen sehr hoch“, sagt Astrid Schumacher.

In diesem Jahr sind allein im Wirtschaftsleben der Hauptstadt rund 100.000 Stellen unbesetzt, geht aus einer Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts WiFOR und der Berliner Industrie- und Handelskammer hervor. Eine Vakanz, die sich möglicherweise vergrößern wird. Dieselbe Studie prognostiziert fürs Jahr 2035 ganze 414.000 Personen, deren Skills in Firmen fehlen.

Astrid Schumacher, die Insiderin aus der Arbeitsagentur, betreut in ihrem Büro an der Friedrichstraße in Mitte manchmal Jobsuchende. „Die Zahl der Jobangebote mit unbefristeten Stellen ist gestiegen“, konstatiert sie.

Große Lücken klaffen zum Beispiel in der Pflege- und Gesundheitsbranche, im Handwerk, auf dem Bau oder in der Gastronomie. Gewerbezweige, deren Berufstätige oftmals eine duale Ausbildung absolviert haben. Hinzu kommt die Personalknappheit an Kindergärten und Schulen. Dort sind Erzieher:innen und Lehrer:innen rar.

Ein Doyen, der Trends und arbeitsmarktpolitische Details erforscht, ist Karl Brenke, ein Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Die Möglichkeiten sind insgesamt besser geworden für einen Umstieg mit 50“, taxiert er die Chancen für Best ager. „Man muss dabei allerdings zwischen Akademikern und Nichtakademikern unterscheiden“, sagt er. Je höher der Bildungsgrad, desto größer sind die Möglichkeiten, lautet die Formel.

Wenn Helden der Arbeit den Beruf wechseln

Quereinsteiger:innen, die zum Beispiel nicht studiert haben, finden ihre neue Bestimmung häufig in Tätigkeiten, die artverwandt mit dem früheren Job sind. „Oft gibt es solche Wechsel in Berufsgruppen mit körperlicher Arbeit“, sagt Brenke. Klar: Langjährige, schwere Schufterei erfordert irgendwann eine gemächlichere Gangart. Etwa ein gelernter Dachdecker: Dieser Held der Arbeit balanciert dann nicht mehr auf Gerüsten in luftiger Höhe, sondern bringt seine Geschicklichkeit mit Hammer und anderem Gerät zur Geltung als Hausmeister. Oder die Frau, die für einen Abfallwirtschaftsbetrieb auf der Rolle ist: Jahrzehntelang zog sie Mülltonnen aus den Hinterhöfen, bis sie weniger anstrengende Schichten auf dem Recycling-Hof schiebt.

Von der Sekretärin zur BVG-Busfahrerin: Sabine van Wanrooy ist glücklich in ihrem neuen Beruf. Foto: Luka Godec

Dass man in diesem Alter noch einmal in eine ganz andere Wirklichkeit eintauchen können, zeigt die Wandlungsgeschichte von Sabine van Wanrooy, 52. Noch vor ein paar Jahren war sie Verwaltungsangestellte an der Technischen Universität, ob im Immatrikulationsbüro oder im Sekretariat einer Fakultät. Heute kutschiert sie Fahrgäste für die BVG über Straßen und Plätze, in Eindecker- und Doppeldeckerbussen sowie in Schubgelenkbussen.

Ihren Job hatte sie aus finanziellen Motiven gewechselt. So knapp war das Einkommen gewesen für die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, dass sie noch in einem Nebenjob rödeln musste. Ein Stresstest, der an den Plot eines Ken-Loach-Films gemahnt. Also heuerte sie wegen der besseren Vergütung bei den Verkehrsbetrieben an – und machte dort eine mehrmonatige Ausbildung, samt Bus-Führerschein.

Den Alltag am Lenkrad liebt sie: „Busfahren ist wie Reallife-Kino.“ Sie schwärmt von der multikulturellen Vielfalt ihrer Kundschaft. Genauso mitreißend findet sie die Schauwerte hinter der riesigen Frontschutzscheibe. Etwa Sonnenaufgänge und -untergänge und imposante Wetterereignisse.

Über ihren Arbeitgeber sagt sie: „Die BVG gibt Jungen und Alten eine Chance.“ Klingt wie PR für ein Beförderungsunternehmen, das in der öffentlichen Meinung sowieso schon einigermaßen populär ist. Es könnte aber sein, dass Sabine van Wanrooy mit ihrer Lobhudelei nicht ganz unrecht hat. Jedenfalls erinnert sich die Seiteneinsteigerin daran, dass während ihrer Lehrzeit so einige Aspirantinnen und Aspiranten eine illustre Erwerbsbiografie auf dem Buckel hatten. Darunter ein Ex-Bäcker, eine frühere Kosmetikerin, Leute aus der Gastro-Branche, sogar ein ehemaliger Journalist.

Nicht immer rutscht man allerdings so leicht in eine neue Berufssphäre wie bei der BVG.

Die Arbeitsagentur gibt Tipps beim Wechsel des Berufs

Für Leute, die noch unsicher über ihren künftigen Weg sind, hat Astrid Schumacher, die Jobvermittlerin bei der Arbeitsagentur, einen Tipp parat. Die Expertin rät zur Selbstbefragung, um das berufliche Profil zur ergründen: Wie sind die Chancen in einem bestimmten Beruf? Welche Qualifikationen brauche ich?

Eine Ahnung gibt ein Selbsttest auf der Website der Arbeitsagentur – eine Analyse der eigenen Persönlichkeit. In den Jobcentern beraten Fachleute zudem über Kurse und sonstige Trainingseinheiten im Weiterbildungssektor. Da gibt es Schulungen, die Neustarter per Bildungsgutschein für umme erwerben können – zertifiziert worden sind sie von der Arbeitsagentur. Jenem öffentlichen Riesenkomplex, dessen Chefin eine alte Bekannte aus der deutschen Sozialdemokratie ist, nämlich Andrea Nahles, ehemals SPD-Vorsitzende. Daneben existieren Angebote, für die die Menschen selbst blechen müssen, von VHS-Unterricht bis Fernstudium.

Manche Abenteurer mit besonders ambitionierten Plänen erreichen ihr berufliches Ziel ohne professionelle Beratung. Selbst wenn man in jungen Jahren nicht in einer Alma Mater eingeschrieben war.

Den Beruf wechseln nach einem seelischen Tief

Die Frau, deren Karrieresprung für derlei Autonomie steht, wohnt in Neukölln. Sie ist Mutter eines Sohnes und hat einfach in der Mitte ihres Lebens noch ein Studium abgeschlossen – und danach ihr berufliches Arkadien gefunden. Über ihre Philosophie sagt die 57-Jährige: „Alter ist keine wirkliche Kategorie für mich.“

Während ihrer vorherigen Station bei einer Personalentwicklungsfirma hatte die Lebenskünstlerin „eine Mischung aus Burnout und Boreout“ empfunden. Es war schon die zweite Jobperiode in ihrer Vita, ausgeübt nach einer Umschulung – nachdem sie sich zuvor als Krankenschwester aufgeopfert hatte.

Andrea Hamm hat in den mittleren Jahren noch einmal studiert – und damit auch ihren Beruf wechseln können. Foto: Dirk Michael Deckbar

Studiert hatte Andrea Hamm daraufhin Druck- und Medientechnik an der Berliner Hochschule für Technik, die einmal Beuth-Hochschule hieß. Nach neun Semestern meisterte sie ihren Master-Abschluss. Prüfungen, Scheine und Noten im Expresstempo.

Heute ist sie Referentin für medizinische Datenanalyse bei der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, einem Verein mit über 9.000 Mitgliedern. Dessen Ziel: eine bessere Behandlung der Zuckerkrankheit. Was ihre Stelle mit ihrer neu gewonnenen Expertise im Medienbereich zu tun hat? In ihrem Job hat sie viel mit Social-Media-Programmen zu tun; sie organisiert Online-Workshops für Ärztinnen und Ärzte, etwa über Zoom. Das Brutto-Einkommen in ihrem neuen Job ist fast doppelt so hoch wie in ihrem einstigen Beruf.

In ihrer Umbruchsphase hat sie allerdings auch enorme Willensstärke bewiesen: Gerade einmal 1.000 Euro hatte sie während ihres zeitraubenden Studiums verdienen können, mittels eines Postens als studentische Hilfskraft. Hinzu kam Sparschweingeld. In der Summe ein schmales Budget. Der Sohn, der währenddessen selbst studierte, unterstützte die Entscheidung seiner Mutter. Deren Lerneinheiten mussten effizient und zielstrebig sein. „Ich bin echt gut im Organisieren“, nennt Andrea Hamm ihr vielleicht größtes Talent.

Dank des Jobs bei einer gemeinnützigen Organisation wie der Deutschen Diabetes Gesellschaft ist sie in Einklang mit sich selbst. „Ich bin ein glücklicher Mensch“, sagt sie.

*Name von der Redaktion geändert


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