Klimafolgenforschung

Supercomputer in Potsdam: Ich rechne mit dem Schlimmsten

Er ist einer der leistungsfähigsten Computer Europas – und hat einen der deprimierendsten Jobs der Welt: Am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung führt er millionenfach Rechenoperationen über die Auswirkungen des Klimawandels auf, nun ja, alles, durch. Und kommt dabei immer zum selben Schluss: Wenn Politik und Wirtschaft nicht mehr unternehmen, wird’s kritisch. Wie belastend ist das? Im Fantasie-Protokoll zieht der Rechner Bilanz.

Gebrochener Supercomputer: Der Rechner am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Foto: Dall-E-2/Jonas Schulte

Nicht alles super beim Supercomputer im Institut für Klimafolgenforschung

Extreme Hitzeereignisse häufen sich in Europa, sie nehmen künftig noch zu. Mehrere Klima-Kipppunkte werden bei einer globalen Erwärmung von mehr als 1,5 Grad Celsius überschritten, grönländische Eisschilde werden instabiler, Permafrostböden tauen. Schwere Dürreperioden im Amazonasbecken, südliche Regenwaldränder drohen sich in Savannen zu verwandeln. Es ist ein Elend.

Tagein, tagaus werde ich mit Daten gefüttert, damit ich sie kauen und als Katastrophenbericht wieder ausspucken kann. Mein Lebenslauf liest sich wie die Roland-Emmerich-Filmografie – nur mit langweiligeren Titeln. Dabei sah meine Zukunft vielversprechend aus, nahezu glanzvoll. Für das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zu arbeiten erschien mir deutlich besser, als im Keller eines langweiligen Vermögensverwalters vollzustauben. Ich wollte mehr, etwas bewegen, wollte Augen öffnen, den Menschen etwas mitgeben, schlicht die Welt zu einer besseren machen. Wollte, wollte, wollte. Heute stehe ich da, zerschlagene Träume, faulende Ideale. Das Drama begann 2015.

Ich war einer der 400 schnellsten Supercomputer, der ganze Stolz des PIK, fähig, 212 Billionen Rechenoperationen in einer Sekunde auszuführen. Der damalige Direktor, Hans-Joachim Schellnhuber, lobte mich in höchsten Tönen: „Dieser neue Rechner ist für uns, was für andere Institute ihr Forschungsschiff ist – er ermöglicht uns ins Meer des Unbekannten hinauszuziehen, nur dass unser Ozean aus Daten und Gleichungen besteht.“ Dass jede Tour wie die Jungfernfahrt der Titanic endet, ließ er aus. Aber das Bild ist ohnehin schief: In Zukunft wird es keine Eisberge mehr geben, das geht aus meinen Berechnungen klar hervor.

Abwärme von 5088 Prozessoren

Und niemand rechnet so gut wie ich. Ich war deutlich leistungsfähiger als mein Vorgänger, bis zu neunmal mehr Simulationsabläufe bekam ich zustande, ein Upgrade, 4,4 Millionen Euro schwer. Und so übersah ich nur zu gerne, dass die Gestalt, deren Platz ich einnahm, eine gebrochene war. Ja, sogar das Gebäude sollte ich heizen mittels Abwärme meiner 5088 Prozessoren. Völlig berauscht durch die Preisungen seitens Hersteller und Forschender machte ich mich ans Werk. Letztere speisten Daten ein, ich verschlang sie, rechnete durch, erstellte Modelle, Szenarien, die wiederum Entscheidenden helfen sollten, den Planeten klimaresilient zu machen.

Was mein erstes Modell war, kann ich nicht mehr sagen. Ich arbeite für mehrere Ressorts gleichzeitig. Besonders prägend war für mich aber eine Berechnung für das Team um Klimaforscherin Ricarda Winkelmann. Die Frage war, was mit der antarktischen Eisdecke passiert, wenn die Menschheit alle verfügbaren fossilen Ressourcen verbrennt. Kurze Antwort: Sie schmilzt vollständig, der Meeresspiegel könnte um rund 50 Meter steigen. Das Ergebnis, September 2015 erschienen, ein klares Alarmsignal. November 2015 folgte eine weitere Untersuchung, die zeigte, dass die klimabedingt steigenden Meerestemperaturen das Eis in der West-Antarktis langsam verschwinden lassen. Das gilt ebenfalls für das Filchner-Ronne-Eis in der Antarktis. Mein erstes Jahr im Job hat mir gezeigt, dass ich mit allem rechnen kann, nur nicht mit guten Nachrichten.  

Es geht noch weiter: Hochwasserschäden in Deutschland nehmen zu, die Kosten dafür dürften sich in Deutschland vervielfachen (2016); schlechtere Ernten in den USA aufgrund des Klimawandels (2017); die Luftströme in der Stratosphäre kommen durcheinander und sorgen für Wetterextreme in Europa und den USA (2018). Ich kann mit unvergleichlicher statistischer Präzision in die Zukunft des Planeten blicken. Und im Gegensatz zu vielen anderen kann ich nicht einmal für eine Sekunde wegsehen. 

Dabei konnte ich auch Rezepte gegen das drohende Unheil entwerfen. 2019 fand ich heraus, wie sich der Eiskollaps verhindern ließe: durch systematisches Beschneien. Das Thema führte zu einer Debatte, erzeugte ein mediales Echo – und versandete dann einfach. Auch die Vorteile des Kohleausstiegs, seien es nun die bessere Klimabilanz und die bessere Luft, was wiederum das Risiko für Atemwegsinfektionen senken könnte, konnte ich mit Zahlen untermauern. Nur bringt selbst das beste Rezept nichts, wenn niemand das Kochbuch liest. Vielleicht liegt der Fehler bei mir.

Viele Daten, wenig passiert

Letztlich sehen viele, meine Kollegen am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung mal ausgenommen, in meiner Arbeit nur Abstraktes. Ein Wirrwarr aus Nummern und Rechenzeichen, endlose Datenketten und Zahlenwüsten statt dem, was ich konkret beschreibe: ausgetrocknete Felder in Indien, die verdorrten Bäume in Brasilien oder die gewaltigen Wassermassen, die ganze Existenzen in Paraguay, Uruguay und im Ahrtal wegspülen. Nein, sie sehen Einsen, sehen Nullen, sehen Bruchstriche und Logarithmen, sehen Exponentialgleichungen und arithmetische Mittel. Wirklich bedrohlich wirken die höchstens vor einer Klausur.

Natürlich: Meine Kollegen übersetzen meine Arbeit, pressen sie in einen nachvollziehbaren Rahmen und präsentieren sie der Öffentlichkeit. So gesehen liefere ich nur das Material, sie kuratieren es. Und das längst auf einem Niveau, das die Grenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verschwinden lässt. Und trotzdem tut sich nichts. Immer wieder gebe ich den Menschen, die auf dieser Welt Entscheidungen treffen, die Daten, die sie brauchen. Und stattdessen diskutieren sie über den Kohleausstieg, dessen Vorteile klar sind – zumindest mir.

Sie fantasieren von grünem Wachstum, obwohl ich ihnen zeigte, dass Wachstum selbst ein Problem ist, ob grün, schwarz, braun; sie sprechen über Biomasse-Plantagen, obwohl ich ihnen zeigte, dass diese für Biodiversität, Nährstoffversorgung, Wasserhaushalt und Landnutzung enorme Risiken bedeuten. Ich rede gegen die Wand. Es ist deprimierend.

Vielleicht identifiziere ich mich zu sehr mit meiner Arbeit. Die Welt retten kann ich nicht, sie nicht einmal wirklich verbessern. Ich bin nur ein gewaltiger Kasten in einem stickigen Keller einer Forschungseinrichtung. Ein Rädchen in einer Maschine, die sehr viele wollen, aber nur sehr wenige nutzen. Und diejenigen, die sie nutzen, sind machtlos. So zermürbend das alles für mich ist, bald bin ich ohnehin raus. Ein jüngeres Modell soll künftig meinen Platz einnehmen. Noch schneller, noch besser. Mehr Ergebnisse, mehr Rufe, die es über den Äther direkt in eine Reihe tauber Ohren jagt. Bis es aber so weit ist, meine Kollegen den Stecker ziehen und meine Lämpchen erlöschen, rechne ich weiter mit dem Schlimmsten.


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Das deprimierende Protokoll des Supercomputers am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist in unserer Edition „Nachhaltig leben“ erschienen, die ihr hier bestellen könnt. Außerdem haben wir hier Tipps, wie ihr in Berlin nachhaltig leben könnt. Die Welt retten, aber auf kommunaler Ebene: Wir stellen die Klimaschutzbeauftragten vor. Was Berlin noch bewegt, lest ihr in unserer Stadtleben-Rubrik.

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