Die Schule in Berlin steht wegen Corona still. Wir sprachen mit der Berliner Lehrerin Mirjam Wimmer über die Herausforderungen des digitalen Unterrichtens, Schüler*innen aus „schwierigen Familienverhältnissen“, eine fehlende Linie der Senatsschulverwaltung, das Abitur 2020, den Umgang der Medien mit dem Thema und die Frage, was passieren wird, wenn die Schulen bald wieder öffnen.
tipBerlin Frau Wimmer, Sie sind Lehrerin an einem Gymnasium in Berlin. Wie haben Sie bisher die Corona-Zeit und die Schließung der Schulen erlebt?
Mirjam Wimmer So und so. Ich fand es sehr angenehm, dass es so still war, denn Schule ist ein lautes Geschäft und ich kann Lärm schlecht ertragen. Zu Hause zu arbeiten ist ja für Lehrer*innen nichts Außergewöhnliches, das machen wir fast täglich, nur eben nicht ausschließlich. Da meine Tochter aus dem Haus ist, hatte ich keine doppelte Belastung und war auch insofern privilegiert.
Corona und Schule in Berlin: Ich denke, da kam es auf beiden Seiten auch zu frustrierenden Momenten
tipBerlin Aber Unterrichten wie vor der Corona-Krise ging nicht. Wie haben Sie reagiert?
Mirjam Wimmer Gut war auf jeden Fall, dass ich ein paar Ideen weiterdenken und Sachen für die Schule ausprobieren konnte. Diese wären sonst wahrscheinlich im normalen Schulalltag untergegangen. Verunsichernd fand ich, nicht zu wissen, welche Aufgabenformate gut funktionieren und welche nicht. Ich denke, da kam es auf beiden Seiten auch zu frustrierenden Momenten. Bei Lehrern und Schülern. Und die Kommunikation per Schul-Cloud, E-Mail und Telefon ist halt aufwändig.
tipBerlin Wie hat denn die Kommunikation funktioniert?
Mirjam Wimmer Ich habe ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Die Schüler*innen der Oberstufe arbeiten und kommunizieren sehr zuverlässig. Ich habe gesehen, dass es dann schwierig wurde, wenn ich neue komplexe Textsorten als Aufgabe gestellt habe, mit denen sie nicht vertraut sind. Etwa die Aufgabe „Schreiben Sie eine Rezension“ (zu einer Inszenierung, die sie sich im Internet ansehen konnten).
Ich muss selbst erst Erfahrungen damit sammeln, wieviel Neues ich den Schüler*innen zumuten kann und wo die Grenzen liegen, wenn es darum geht, sich neue Inhalte zu erarbeiten. Ich möchte jedenfalls nicht Klausuren schreiben lassen und dort Aufgabenarten stellen, die wir nicht zuvor im „normalen“ Unterricht besprechen konnten.
Einige taten schlicht nichts und tauchten gewissermaßen ab
tipBerlin Und wie lief es in den anderen Klassenstufen?
Mirjam Wimmer In der Sek I lief es deutlich schleppender mit dem Unterricht. Zwar haben wir Klassenlehrer alle Schüler*innen mindestens einmal angerufen. Aber eher um Kontakt zu halten und den Kindern zu zeigen, dass wir anwesend sind und auch sie uns erreichen können. Was die Erledigung von Aufgaben angeht, waren unsere Erfahrungen ebenfalls sehr unterschiedlich. Einige wenige arbeiteten durchweg zuverlässig und flott, einige taten schlicht nichts und tauchten gewissermaßen ab. Sie waren also auch telefonisch nicht zu erreichen und dazwischen gab es alles mögliche. Vermutlich liegt die größte Herausforderung für die meisten darin, sich die Arbeit sinnvoll einzuteilen und die Portionen dann strukturiert abzuarbeiten.
Unterricht ist ohne regelmäßigen direkten Kontakt extrem unbefriedigend
tipBerlin Lässt sich sagen, dass die Herausforderungen sowohl technischer, organisatorischer wie auch sozialer Natur waren?
Mirjam Wimmer Es ist nicht schön, gewissermaßen in den leeren Raum hinein Aufträge zu verteilen und dann nur zögerlich Resonanz in Form von erledigten Arbeitsaufträgen oder auch Nachfragen zu bekommen. Und ich mag es überhaupt nicht, immer wieder nachzufragen, was los ist und dann keine oder eine sehr zeitverzögerte Antwort zu erhalten. Ich kann dann nur rätseln, was bei den einzelnen Schüler*innen los ist. Unterricht ist ohne regelmäßigen direkten Kontakt extrem unbefriedigend und man kann ihn mit 30 Siebtklässlern auch diversen Gründen nicht in als Videokonferenz abhalten.
tipBerlin Warum nicht?
Mirjam Wimmer Viele unserer Schüler*innen sind technisch unzureichend ausgestattet. Zwar haben alle ein Handy, aber nicht alle besitzen einen Rechner. Nicht jeder Haushalt hat einen Rechner und einen Drucker. Auch weiß ich nicht, ob alle WLAN haben. Die dürftige technische Ausstattung vieler Schüler*innen limitiert dann die Art und Weise, wie man Aufgaben stellen kann.
tipBerlin Was hätten Sie sich von der Politik, den Lehrerverbänden, den Eltern und den Schüler*innen selbst für diese Zeit gewünscht?
Mirjam Wimmer Ich denke, dass alle Beteiligten sich so gut schlagen, wie es ihnen eben gerade möglich ist. Und ich erwarte absolut nicht, dass die Lösungen, die angeboten werden, in der sich ständig verändernden Situation, sofort perfekt funktionieren. Insofern habe ich wenig zu beklagen. Zumal an unserer Schule zwischen (erweiterter) Schulleitung und dem Kollegium die Abstimmung wirklich gut funktioniert, alle leicht zu erreichen sind und ich Antworten auf Fragen bekomme.
tipBerlin Hatten Sie datenschutzrechtliche Bedenken hinsichtlich des Online-Unterrichts?
Mirjam Wimmer Nicht, was meine eigene Schule betrifft. Unser Datenbeauftragter arbeitet extrem sorgfältig und akribisch, pflegt unsere Server und ist findig darin, einfache gute Lösungen bereitzustellen, die datenschutzrechtlich unbedenklich sind.
tipBerlin Andere Schulen hatten da mehr Probleme?
Mirjam Wimmer Was an anderen Schulen läuft, möchte ich hier nicht beurteilen. Aber ich bin mir sicher, dass viele Berliner Schulen in puncto Datenschutz häufig nicht sorgfältig arbeiten. Beispielsweise hat die Mehrzahl der Lehrkräfte bis heute keine dienstliche E-Mail-Adresse- Und auch datenschutzrelevante Informationen per Whatsapp zu verschicken, ist unter Lehrkräften weit verbreitet.
Schule ist ein Ort, an dem Leben stattfindet, und zwar meistens ziemlich prall
tipBerlin Die Schulschließung betraf Schüler*innen aus „schwierigen Familienverhältnissen“ besonders stark. Sie wurden quasi allein gelassen und die Schule konnte keinen Augenmerk auf etwaige Missstände haben. Würden Sie dem zustimmen?
Mirjam Wimmer Ob die Schule ein Augenmerk auf etwaige Missstände zu Hause hat, ist ganz häufig auch in normalen Zeiten sehr abhängig vom Spirit und der Struktur der einzelnen Schule. Auch in Abhängigkeit zur jeweiligen Schulform. An Schulen, in denen gute Schulsozialarbeit in multiprofessionellen Teams stattfindet, fallen den Pädagog*innen mehr Schüler*innen auf, die zuhause oder auch sonst Probleme haben, und sie kümmern sich um sie. Die aktuelle Situation verschärft bestehende Probleme, weil die Kontaktaufnahme zwischen Pädagog*innen und Schüler*innen so massiv erschwert ist.
tipBerlin Die Schule fehlt also.
Mirjam Wimmer So sehr Schule in mancher Hinsicht eine Zwangsinstitution ist, ist sie immer auch oder sogar vor allem anderen ein sozialer Ort, an dem Schüler*innen ihre Freunde treffen. Also ein Ort, an dem Leben stattfindet und zwar meistens ziemlich prall. Insofern hat die Schule eine ganz wichtige Funktion für die allermeisten Schüler*innen und auch Lehrer*innen. Auch für diejenigen, die ein schönes oder zumindest gut verträgliches Zuhause haben.
Besonders hart trifft diese lange Schulschließung jetzt wohl Schüler*innen aus sozial benachteiligten Familien
tipBerlin Aber dennoch dürften die Corona-Maßnahmen diese Schüler*innen weniger hart treffen.
Mirjam Wimmer Sicher. Besonders hart trifft diese lange Schulschließung jetzt wohl Schüler*innen aus sozial benachteiligten Familien. Weil es oft einen Zusammenhang zwischen mangelnder Strukturiertheit im Alltag bei gleichzeitigem Fehlen von Beschäftigungs- und Bildungsangeboten zu Hause gibt. Diese Kinder und Jugendlichen sitzen jetzt zuhause und sollen sich komplett selbstständig schulisch organisieren. Und zwar ohne dass sie eine Einsicht in den Sinn und Nutzen der Übung haben. Denn die bekommen, wenn überhaupt, lediglich ein knappes Feedback im Klassenchat. Wie soll das gehen?
tipBerlin Die Berliner Lehrer*innen sind sehr unterschiedlich mit der Corona-Situation umgegangen. Das Spektrum reicht von Funkstille bis zu vorbildlichem Engagement und nahezu täglichem Austausch mit der Klasse. Woran liegt das?
Mirjam Wimmer Viele Lehrkräfte sind selbst Mutter oder Vater und die meisten Lehrkräfte sind Lehrerinnen. Und ich mutmaße, dass auch in Lehrer*innenhaushalten ein Großteil der Familien- und sonstigen Care-Arbeit an den Frauen hängt. Lehrkräfte konnten nach meinen Informationen ihre eigenen Kinder erst seit 20. April in die Notfallbetreuung schicken. Diejenigen unter ihnen, die also wie viele andere Eltern auch zuhause vom Homeoffice aus arbeiten, sind also einer mehrfachen Belastung ausgesetzt. Denn genau das, worüber andere Eltern stöhnen, nämlich jetzt obendrein noch den Lehrer für die eigenen Kinder spielen zu sollen, betrifft natürlich auch Lehrer*innen selbst.
Überforderung könnte bei einigen von uns ein Faktor sein
tipBerlin Das ist sicherlich die Situation. Dennoch müssen alle anderen, die in Homeoffice sind, auch ihren Job machen.
Mirjam Wimmer Klar. Es gibt natürlich immer auch recht unterschiedliche Auffassungen unter Lehrkräften darüber, was unsere Aufgaben sind und wo diese anfangen und wo diese enden. Es gibt Lehrer*innen, die sich ganz deutlich auch in der Erziehungsrolle sehen, während andere lieber ihre Fächer unterrichten als ihre Schüler*innen.
tipBerlin Das müssten Sie jetzt etwas genauer erläutern.
Mirjam Wimmer „Everyone you meet ist fighting a battle you know nothing about“, postete unlängst ein Freund auf Facebook und ich glaube, das ist Teil der Antwort. Überforderung könnte bei einigen von uns ein Faktor sein. Wenn Schüler*innen abtauchen und dafür Gründe haben, die wir im Einzelnen nicht kennen, dann kann das eben auch bei Lehrer*innen der Fall sein. Menschen verhalten sich eben oft so, wie es die jeweilige Situation erlaubt oder ermöglicht und die jetzige Situation wird von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich erlebt und bewertet. Das zeigt sich ja nicht nur bei den Lehrkräften.
Hilfreich ist es auf jeden Fall, wenn die Schulleiter*innen sich mit ihrem Kollegium abstimmen und dann eine klare Linie formulieren, wie die Lehrerinnen den Kontakt pflegen sollen bzw. in welchem Rahmen Unterricht stattfindet, Aufgaben erteilt und Hilfestellung geleistet wird.
Die Schule in Berlin arbeitet auch jenseits von Corona eigenverantwortlich
tipBerlin Warum gab es aber keine einheitliche Linie, etwa seitens der Senatsschulverwaltung, wie Lehrer*innen sich in dieser Zeit verhalten sollen?
Mirjam Wimmer Die Schulen arbeiten glücklicherweise in vieler Hinsicht eigenverantwortlich und es ist die Aufgabe der Schulleiter*innen bzw. deren Stellvertreter*innen, den Unterricht bestmöglich zu organisieren.
tipBerlin Die Schule und Corona waren in den Medien immer wieder ein Thema. Hat Sie die Berichterstattung eher geärgert oder waren Sie eher einverstanden?
Mirjam Wimmer Im Lauf der letzten Wochen ist die Berichterstattung ziemlich differenziert geworden, insbesondere in der „taz“ und in der „SZ“ konnte man interessante Artikel lesen, die die komplexe Situation angemessen betrachten. Einzelne Sottisen fallen da eher wenig ins Gewicht.
Grundsätzlich nervt es immer, wenn über Schule aus der „Aber mein Kind“- Perspektive oder, noch schlimmer, aus der „Mein Mathelehrer in der neunten Klasse war ganz furchtbar“-Perspektive geredet oder geschrieben wird. Und wirklich schlimm ist es, dass zwar in jüngerer Zeit oft und irgendwie pflichtschuldig auf sozial benachteiligte Kinder hingewiesen wird, diese aber in der Wirklichkeit keine große Lobby haben.
Erfreulich fand ich die gestrige Intervention des Philologenverbands, die individuelle technische Ausstattung der Schüler*innen zu fördern, indem der Digitalpakt dahingehend geöffnet wird.
Die Situation dieser Pandemie ist vor allem eine Art Brennglas
tipBerlin Nun sollen die Schulen in den nächsten Tagen bzw. Wochen wieder öffnen. Freuen Sie sich darauf oder finden Sie das kommt zu früh?
Mirjam Wimmer Ich freue mich darauf, meine Schüler*innen und meine Kolleg*innen wiederzusehen. Und ich bin wirklich gespannt darauf, wie wir uns in der Schule organisieren und mit den aktuellen Einschränkungen und Auflagen umgehen. Ob die Öffnung zu früh kommt, will ich nicht beantworten. Das kommt ja stark darauf an, aus welcher Perspektive man die Frage beantwortet und auf die Situation, in der man steckt.
tipBerlin Vor welchen praktischen Problemen werden wegen Corona Schulen in Berlin stehen, wenn der Unterricht wieder losgeht?
Mirjam Wimmer Die Situation dieser Pandemie ist vor allem eine Art Brennglas. Natürlich wird es genügend Seife und Desinfektionsmittel geben. Und jede Schule wird die Aufsichten so gut organisieren, dass alle Beteiligten gut umeinander herumkommen. Soviel Organisationstalent und Achtsamkeit traue ich nun wirklich allen Beteiligten zu. Aber es zeigt sich noch einmal deutlich, ähnlich wie in anderen sozialen Bereichen, wo dieses reiche Deutschland spart.
tipBerlin Sie denken an den recht bedenklichen Zustand der Berliner Schulen?
Mirjam Wimmer Es ist ja nun nichts Neues, dass viele Berliner Schulen marode und, was Hygiene und Sauberkeit angeht, regelrecht runtergekommen sind. Ich hoffe sehr, dass die großen Elterninitiativen der letzten Jahre, die immer wieder auf den erbärmlichen baulichen und dreckigen Zustand der Schulen aufmerksam gemacht haben, jetzt noch einmal einen Schub bekommen.
Vielleicht wächst ja die Einsicht bei den Schulträgern, dass ausreichend Toiletten, Waschbecken und Hygieneartikel, ebenso wie eine Reinigung, die diesen Namen verdient, zur Grundausstattung einer Schule gehören. Ebenso, wie es dazu gehört, die Leute, die eine Schule putzen, ordentlich zu bezahlen.
Ich wünsche jeder Abiturientin und jedem Abiturienten alles Gute!
tipBerlin Das muss noch gefragt werden: Was genau passiert jetzt mit den Berliner Abiturient*innen?
Mirjam Wimmer Die gehen jetzt hoffentlich vorbereitet und optimistisch in ihre Abiturprüfungen, bekommen hoffentlich gut gestellte Abituraufgaben, die sie erfolgreich bearbeiten können, schreiben hoffentlich ein passables oder gutes Abitur und sind dann stolz auf sich. Ich wünsche jeder Abiturientin und jedem Abiturienten alles Gute!
tipBerlin Letzte Frage: Glauben Sie, wir werden als Gesellschaft etwas aus der Corona-Krise lernen?
Mirjam Wimmer Es ist immer schlecht, mir eine solche Frage zu stellen, weil ich leider in punkto Menschheit und Gesellschaft als Ganzes notorisch pessimistisch bin. Natürlich hätte ich da viele Ideen und Wünsche und ich werde mich auch für diese einsetzen, gerade was das Thema Bildungs(un)gerechtigkeit betrifft. Aber global gedacht bin ich skeptisch.
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