Ringen ist eine der ältesten Sportarten der Welt. Ein Verein in Moabit vereint sportliche Erfolge und Integration: Bei den Hauptstadtringern kämpfen geflüchtete Jugendliche um Medaillen und finden ein neues Zuhause.
Hauptstadtringer: Sport und Integration
Bevor das Training losgeht, verkündet Trainer Christian Kebschull gute Nachrichten: Die Jungs haben beim Ringer-Turnier am Wochenende zuvor in Belgien gut gekämpft. Erste und zweite Plätze für Shaheer und Salahuddin, Zarif und Luka. Ein beachtlicher Erfolg für die Kämpfer vom Verein Hauptstadtringer, denn beim „Gebrüder Saitiev Turnier“ traten rund 200 Sportler aus zwölf Nationen im Alter von 16 bis 22 Jahren an. Es ist ein heißer Dienstagnachmittag, in der Turnhalle eines Oberstufenzentrums in Moabit stehen zwei Trainer und etwa 20 Ringkämpfer:innen unterschiedlichen Alters, von der weißblonden Erstklässlerin bis zum schwarzgelockten Oberstufenschüler, auf der Kampfmatte. Die anderen applaudieren ihren Kameraden, die aus Leidenschaft am Ringen hier stehen – und weil sie wegen Krieg und Verfolgung ihre Heimatländer verlassen mussten.
Sie gehören zu den vielen Kindern und Jugendlichen, die nach einer Flucht aus Afghanistan, der Ukraine oder dem Iran in Berlin gelandet sind und sich ihr Leben fern von Freunden und teilweise Familie neu aufbauen müssen. Ein Sportverein ist der vielleicht beste Ort dafür. Bei den Hauptstadtringern e.V. gelingt im Kleinen, woran es im Großen oft hapert: Integration und Gemeinschaft.
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Die Hauptstadtringer sind schnell gewachsen
Kebschull klatscht in die Hände, jetzt wird gearbeitet. Zum Aufwärmen laufen die Sportler:innen mehrere Runden um die kreisrunde Kampffläche auf der Ringermatte. „Wir wollen gerade in Berlin ein interkulturelles Miteinander führen, wo, wenn nicht hier?“, umreißt der Mitgründer und 1. Vereinsvorsitzende eine der Motivationen für die Vereinsgründung im Februar 2020, in der Frühphase der Corona-Pandemie. Weitere Leitgedanken seien die Stärkung des Selbstbewusstseins von Jungen und Mädchen und die Förderung ihrer Bewegungsfähigkeit. In der Krise geboren, ist der Verein von anfangs zehn auf mittlerweile etwa 75 Trainierende im Alter von sechs bis etwa zwanzig Jahren gewachsen. Drei Mal die Woche findet das Training statt. Zu Meistertiteln in regionalen und überregionalen Einzelturnieren gehört auch der erste Platz in der Brandenburg-Liga 2023, den sie gleich bei der ersten Teilnahme holten.
In seiner Heimatstadt Frankfurt/Oder besuchte Kebschull, 41, die Sportschule des Olympiastützpunktes Brandenburg und trainierte bei Maik Bullmann, der als bislang letzter Deutscher 1992 olympisches Gold im Ringen gewann. Seinen Traum von der Profi-Karriere musste Kebschull wegen zu häufiger Verletzungen in seinen 20ern begraben. Heute will er zurückgeben, was er vom Sport bekam. „Ich habe durch das Ringen viel von der Welt gesehen und bin privilegiert aufgewachsen“, sagt er. „Es ist mein Ansatz, Kindern die Freude an diesem Sport näherzubringen und Werte wie Disziplin, Respekt und ein Miteinander zu vermitteln.“
Beim Sport funktioniert das, was in der Gesellschaft oft schwerfällt
Während der Aufwärmübungen spricht niemand – bis auf Shaheer. Der 18jährige steht in der Mitte, führt Übungen etwa für die Hüfte oder den Nacken vor, die anderen gruppieren sich im Kreis um ihn herum und machen sie nach. Shaheer ist einer von ungefähr zehn Jungs im Team, die aus Afghanistan geflüchtet sind. Schon sein Großvater war Ringer, sein Vater hat sogar international Medaillen erkämpft, auch Shaheer selbst begann bereits als Sechsjähriger mit dem Mattensport. Seit der Rückkehr der radikalislamistischen Taliban an die Macht im Jahr 2021 muss sich sein Vater, der für die Polizei gearbeitet hatte, verstecken. Als ältester Sohn war auch Shaheer nicht sicher. Ganz allein kam er nach Berlin, sein Betreuer im Heim hat ihn auf die Hauptstadtringer aufmerksam gemacht. Er ist einer der besten Kämpfer im Verein, an dem für ihn so viel hängt.
Souverän auf der Matte, ist der muskulöse Kämpfer mit den weichen Gesichtszügen beim Gespräch etwas schüchtern. Sein Deutsch sei noch nicht so gut, sagt er. Ihm gefalle am Ringkampf besonders, dass er seinen Kopf und seinen Körper gleichermaßen einsetzen müsse. Neben der Schule steht viermal die Woche Kampftraining an, dazu drei Tage Kraft- und Ausdauertraining. „Ringen ist mein Leben“, sagt Shaheer. Der Einsatz zahlt sich aus, bei Wettkämpfen wie den Berliner, Norddeutschen und Mitteldeutschen Meisterschaften sicherte er sich stets einen Platz auf dem Siegertreppchen. Sogar der afghanische Exil-TV-Sender „Afghanistan International“ aus London berichtete über seine Erfolge. Zuhause sei die Familie stolz, sagt der ehrgeizige Athlet. Ihr Schicksal lastet, wie bei vielen geflüchteten Minderjährigen, auch auf seinen Schultern. „Irgendwann möchte ich zu den Olympischen Spielen. Ich will für Deutschland antreten“, sagt Shaheer. Er träumt von der Staatsbürgerschaft. Ohne die kann er nicht bei den Deutschen Meisterschaften antreten, selbst wenn er sich qualifizieren würde.
Ringerverein als Ersatzfamilie
Gerade für Kinder mit Fluchterfahrung wie Shaheer ist der Verein eine Art Ersatzfamilie. Ob es um die Organisation von Schulplätzen geht oder gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Trainings, das ehrenamtliche Engagement hört nicht in der Halle auf. „Ich bin sehr glücklich darüber, dass diese Kinder zu uns gekommen sind, sie sind eine absolute Bereicherung“, sagt Kebschull. „Wir versuchen, ihnen so gut wie wir können, Sicherheit und Annahme zu geben.“ Dieses Jahr veranstalten sie erstmals ein durch Crowdfunding finanziertes Sommersportcamp in Brandenburg für diejenigen, die nicht mit ihren Eltern in den Urlaub fahren können.
Das Training ist in vollem Gange, da betritt ein groß gewachsener junger Mann die Turnhalle. Er schüttelt die Hände der am Rand stehenden Kämpfer. Davyd trainiert heute nicht mit, er ist nur vorbeigekommen, um „Hallo“ zu sagen. Für ihn sei der Verein wie sein Zuhause, sagt der Ukrainer. „Ich habe hier viele Freunde gefunden, deutsche, ukrainische, afghanische. Wenn man in ein fremdes Land kommt, weiß man nicht, was man machen soll. Dieser Ort hat mir Halt gegeben.“ Beim ersten Training vor zwei Jahren habe er noch kein Deutsch gesprochen, erzählt er. Jetzt bereitet er sich auf sein Abitur vor. Davyd möchte Wirtschaft studieren.
Dem Ringkampf will der 19-Jährige weiterhin treu bleiben. Immerhin ist er Mitteldeutscher Meister in der Gewichtsklasse bis 60 Kilogramm im griechisch-römischen Stil. In dieser Variante sind nur Griffe am Oberkörper erlaubt, im Freistil ist der gesamte Körper Angriffsfläche und die Beine dürfen für Techniken genutzt werden. „Es ist ein anstrengender Sport und in Wettkampfsituationen sehr emotionsgeladen. Dein Training und deine Konzentrationsfähigkeit allein sind entscheidend, wenn du auf die Matte trittst“, schwärmt Davyd.
Ringen hat Tradition in Berlin
Gerungen wird fast überall auf der Welt, das macht den Ringkampf vielleicht zur multikulturellsten aller Sportarten. Er wird in verschiedenen Formen und Stilen auf allen Kontinenten praktiziert, wobei jede Kultur ihre eigenen Traditionen und Techniken einbringt. Gerade die Jungs aus der Ukraine gehören zu den starken Kämpfern im Verein und gewinnen regelmäßig bei Wettkämpfen. In ihrer Heimat sowie im gesamten post-sowjetischen Raum ist der Ringkampf eine verbreitete und stark geförderte Sportart, die viele Spitzensportler hervorbringt. Ebenso in den USA und im Iran.
Auch wenn Ringen in Deutschland kein Nationalsport ist, hat die Sportart auch hierzulande eine Tradition. Die ersten Deutschen Meisterschaften wurden 1893 ausgetragen, drei Jahre später gewann der Wahlberliner Carl Schuhmann bei den ersten Olympischen Spielen seit der Antike in Athen die Goldmedaille. In Berlin gibt es 14 Vereine, davon ist der Ringerverein SV Siegfried Nordwest 1887 der älteste. Verglichen mit Basketball, Volleyball oder Fußball bleibt Ringen allerdings eine Randsportart in der Hauptstadt, was es wiederum erschwert, an Sponsoren zu kommen, wie Christian Kebschull berichtet. In Brandenburg sehe es schon besser aus. Aber die ressourcenstarken und damit für Athleten attraktive Vereine residieren eher in Süddeutschland.
Zurück auf der Matte geht es ins Techniktraining, bei dem verschiedene Griffe, Würfe und Hebel geübt werden. Jegliche Form von Schlägen, Tritten und Würgen ist beim Ringen verboten. Die strengen Regeln machen es zu einer vergleichsweise sicheren Kampfsportart. Jetzt stehen sich Pauline, 19, und Egor, 14, in Kampfstellung auf der Matte gegenüber, die Knie gebeugt, die Arme vor dem Körper. Die anderen schauen zu. Hier kämpfen auch Jungen mit Mädchen, solange es von Körpergröße und -gewicht passt. Beide halten sich gegenseitig an den Schultern fest, Pauline schnellt vor, ergreift ihren Gegner zwischen den Beinen, packt seinen Oberkörper auf ihre Schultern und wirft ihn im Bogen auf die Matte.
Beim Ringen kommt es an auf Leistung und Charakter
Iwan Pitschugin, der zweite Trainer, ist nicht ganz zufrieden. Pauline hätte sich mit dem Oberkörper auf ihren Gegner legen und ihn so fixieren können, sagt er. Pitschugin macht vor, wie es besser geht, erklärt die Technik, während sich Egor zum dritten Mal auf die Matte werfen lässt.
Auch dass Pitschugin hier steht, ist Glück im Unglück. Der ehemalige Profi-Ringer war in den 90er-Jahren mit seiner Familie von Nowosibirsk nach Berlin emigriert, um hier in einem Verein zu kämpfen. Seit dem Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen liegen die Geschäfte des russischstämmigen Unternehmers auf Eis. Zufällig stieß er auf ein Gesuch des Vereins nach einem Trainer mit Russischkenntnissen für geflüchtete ukrainische Kinder. „Mir war sofort klar: Wer, wenn nicht ich?“, sagt der 64-Jährige mit den für Ringer charakteristischen „Blumenkohlohren“. Diese verknorpelten Plattohren entstehen durch mehrmalige Blutergüsse in der Ohrmuschel, bei denen verletzte Gewebe wuchert und neuen Knorpel bildet, eine Art Erkennungszeichen für Kampfsportler. Eigentlich hatte Pitschugin schon zu Beginn seiner Ringer-Karriere vorgehabt, Trainer zu werden. Dass es unter diesen Umständen geschieht, hätte er wohl niemals für möglich gehalten. Nur wenige hundert Meter weiter, am Hauptbahnhof, sei der Krieg präsent gewesen, erzählt er. Er hält kurz inne, bevor er weiterspricht. „Die Kinder kamen hier an, ihre Mütter warteten und wir haben angefangen zu arbeiten.“
Mit dem neuen Trainer kam ein Schwung an Erfahrung und Ambition in den Verein. Pitschugin lehrt Techniken aus seinen Trainings in Russland, die hier in Vergessenheit geraten oder nicht mehr angesagt waren. Nur der strengen Autorität, die er von dort gewohnt war, zieht er jetzt ein freundschaftliches Verhältnis seinen Schülern gegenüber vor. „Ich möchte Kinder mit Potential zu guten Athleten heranziehen, die mit einer schönen Technik ringen, die uns Trainern und den Zuschauern Freude macht. Ringen ist ein ästhetischer Sport“, sagt er.
Auf der Matte bleibt keine Zeit zum Nachdenken
Ein, zwei Deutsche-Meister-Titel hält er für möglich. Deswegen trainiert er mit einigen zusätzlich am Wochenende und besucht andere Berliner Clubs für neue Sparringspartner. Vier bis fünf Mal die Woche müsse trainieren, wer Erfolg haben will. Die Bewegungsabläufe müssten im Körper einprogrammiert sein wie ein Betriebssystem auf einem Computer, erklärt der Trainer. Auf der Matte sei keine Zeit zum Nachdenken. Aber, betont Pitschugin, als Trainer sei es wichtig, seine Schützlinge zu Sportlern heranzuziehen, die gut gewinnen und verlieren können, einander unterstützen und respektieren.
Während der Traum von Olympia in einigen Hauptstadtringern schwingt, steht als nächstes erst einmal die Titelverteidigung in der Brandenburg-Liga im September an. Im letzten Teil des Trainings wird es intensiv: mit Kampfübungen. Dabei wird eine bestimmte Situation 30 Sekunden lang ausgekämpft. Niemand spricht, es herrscht volle Konzentration, um den richtigen Moment für den Angriff abzupassen. Eine Bewegung folgt auf die andere, Greifen, Heben, Werfen. Um einen Kampf zu gewinnen, muss man den Gegner mit beiden Schultern auf den Rücken legen, bis der oder die Ringrichter:in abpfeift. Oder man gewinnt nach Punkten. Eigentlich würde jetzt noch Freikampf folgen, aber nach eineinhalb Stunden ist es für heute genug.
Zum Abschluss kommen alle in einem Kreis zusammen, legen sich gegenseitig die Arme auf die Schultern, und stimmen ihren Schlachtruf an: „Wir sind ein – Team! Aus der Mitte von – Berlin!“
- Weitere Informationen zum Hauptstadtringer e.V gibt es hier
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