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Matana Roberts kommt zum A l’arme-Festival

Die Ahnenforscherin: Matana Roberts, gefeierte Jazz-Saxofonistin aus Chicago, dürfte mit ihrem historischen „Coin-Coin“-Projekt eines der Highlights des diesjährigen A l’arme-Festivals werden

Foto: Jason Fulford

Sie sei nicht sehr funktional an diesem Tag, gesteht Mata­na Roberts dem Publikum im Berliner Club Acud im Juni. Es ist der Todestag ihrer Mutter und Roberts bittet das Publikum um Unterstützung: Im Wechsel mit ihren Erzählungen, ihrem Spiel auf dem Saxofon und auf ihr Handzeichen hin summen die Menschen einen Ton – als Ermutigung.

Wie mühelos Roberts diese Interaktion gelingt und sie für die Dauer des Konzerts eine Sphäre von Zusammenhalt stiftet, ist verblüffend. Das Summen und Singen im Chor eint auch sie und die vier Musikerinnen, mit denen sie ihr neues Album, „Memphis“, aufgenommen hat, das im Oktober erscheint. Es ist das vierte ihres auf zwölf Kapitel angelegten Coin-Coin-Projekts, in dem sie sich mit Frauen aus ihrer Familiengeschichte auseinandersetzt und Spuren bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt. Die Namensgeberin Coin Coin war eine historisch verbürgte, befreite Sklavin, Geschäftsfrau und Landbesitzerin, die an der Wende zum 19. Jahrhundert lebte, Roberts’ Großvater ist entfernt mit ihr verwandt. Seine Frau, Roberts’ Großmutter mütterlicherseits, hatte ihr Leben lang Dokumente über die Familiengeschichte in Louisiana zusammengetragen. Diese waren nach dem Tod der Großmutter 2005 der Auslöser für Roberts, das weibliche Familienerbe künstlerisch anzutreten.

Sie rezitiert eigene Texte, in denen sie sich in die historischen Figuren hineinversetzt, sie kombiniert historische ­Fotos und Dokumente mit eigenen Zeichnungen zu Collagen, die wiederum als Partituren für ihre Musik dienen oder während ihrer Konzerte in Videoprojek­tionen aufflackern. Das vierte Album ist nun eine Hommage an ebendiese Großmutter, die aus Memphis stammte. Das Cover zeigt ein Foto von ihr als junge Frau in den 1940er-Jahren aus dem Polizeigewahrsam. Was sie daran nicht losließe, so Roberts beim Berliner Konzert, sei, dass ihre Großmutter weiterlebte – im Gegensatz zu vielen Afro­amerikanerinnen, die in den letzten Jahren in den USA Opfer von Polizeigewalt wurden und noch immer werden.

Geboren wird Roberts 1975 in Chicago, dort wächst sie auch auf. Die Musik bietet ihr Schutzräume vor der rauen Umgebung. Dank kostenloser Musikstunden an öffentlichen Schulen lernt sie Klarinette, ein Lehrer schenkt ihr ein Saxofon. Als junge Frau führt sie ein musikalisches Doppelleben: Tagsüber studiert sie klassische Klarinette, abends spielt sie in Jazzclubs. Musiker aus der Association for the Advancement of Creative Music­ians fördern sie, der Tenorsaxofonist Fred Anderson engagiert sie für die Hausband in seinem Club ­„Velvet ­Lounge“, einem beliebten Umschlagplatz für Talente und generationsübergreifendes Musizieren. Roberts erlebt Konzerte von Steve Coleman, Roscoe Mitchell, Anthony Braxton und Lee Konitz. „Für mich spricht die Geschichte aus dem Sound dieser Musiker,“ erzählte sie 2015. „Chicago ist kein einfacher Ort zum Leben. Die Menschen mussten sich erst einen Platz in der Gesellschaft erarbeiten. Du musst lernen, dich durchzusetzen. Man entwickelt eine Form von Überlebenswillen und ein Gespür, auf sich selbst aufzupassen, wie sonst an keinem anderen Ort in den Vereinigten Staaten.“

Diese Bedingungen sind ein Faktor für den unverkennbaren Ton von Musikerinnen aus Chicago. „Wenn mich etwas mit Jazz verbindet, ist es dieser eigene Sound der Saxofonisten aus Chicago. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, an meinem Sound zu arbeiten, als daran, eine bestimmte Monster-Technik zu entwickeln. Ich bin stolz auf meinen Saxofonsound. Klang steht für mich in Beziehung zu Gefühlen, zu Farben und dazu, wie ich die Dinge beim Spiel platziere.“ Nach dem Studium in Boston geht Roberts nach New York, sie spielt auf der Straße und im Kollektiv Burnt Sugar, knüpft zahlreiche Verbindungen und intensiviert die Kontakte zu Musikerinnen in Montreal. Dort spielt sie 2010 in einer Live-Session mit 15 Musikerinnen und Publikum das erste Coin-Coin-Album ein, in Montreal hat sie auch „Memphis“ aufgenommen.

Als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes verbringt Matana Roberts gerade ein ganzes Jahr in Berlin. Viel spricht dafür, dass ihr die Stadt als Rückzugsort dient, nachdem sie in den letzten Jahren Indien, Afrika, Indonesien und Japan bereist hat. Roberts gibt derzeit keine Interviews, auf der Bühne aber erzählt sie gerne Geschichten. „Ich habe 20 Jahre Haare vor einem Monat abgeschnitten,“ sagte sie im Juni, fast ein wenig verwundert über sich selbst. Und ja, dass die vielen langen Zöpfe nicht mehr ihr Gesicht umhüllen, verändert ihre Erscheinung enorm. Ihr Gespür dafür, wie sie ihren Ton und ihre Stimme ins Erleben der Besucherinnen einbettet, ist aber sicher noch dasselbe. Auch bei ihrem Solo-Konzert beim A l’arme-Festival.

Matana Roberts Radialsystem V Fr 2.8., 20 Uhr, Holzmarktstr. 33, Friedrichshain

A l’arme Festival Mi 31.7.–Sa 3.8., Radialsystem & Säälchen, VVK Tagestickets 30 €/ Festivalpass 100 €

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