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Fotoprojekt

Obdachlose in Berlin: Debora Rupperts besondere Bilder

Die Fotografin Debora Ruppert porträtiert seit Jahren Obdachlose in Berlin und hört sich ihre Geschichten an. Ein Gespräch über Notlösungen und nachhaltige Maßnahmen. Und darüber, was ein Blick oder ein Gruß bewirken kann.

Obdachlose in Berlin – Atanas Aleov, in der Notübernachtung am Containerbahnhof, Friedrichshain: „Menschen sagen, ich sehe aus wie Jesus“. Foto: Debora Ruppert

Obdachlose in Berlin: „Viele wachsen mir sehr ans Herz“

Laut einer Zählung im Januar 2020 leben rund 2.000 Menschen ohne Obdach auf Berlins Straßen. Expert:innen schätzen die Zahl viel höher ein, denn die Zählung war mit vielen Hindernissen verbunden. Obdachlose in Berlin: Wie hoch auch immer die aktuelle Zahl ist, der Plan des alten wie auch des neuen Senats sieht vor, dass sie bis 2030 bei Null liegen soll. Wie kann das erreicht werden und was brauchen wohnungslose Menschen, um wieder Anschluss an die Gesellschaft zu bekommen?

tipBerlin Debora Ruppert, Sie porträtieren seit mehr als zehn Jahren obdachlose Menschen in Berlin. Wie gewinnen Sie als Fotografin deren Vertrauen?

Debora Ruppert Ich gehe nicht mit der Kamera um den Hals auf die Leute zu. Ich stelle mich vor, rede mit ihnen und erzähle meist erst beim zweiten oder dritten Treffen, was ich mache. Dann bringe ich meine schwarze Fotomappe mit, zeige meine Bilder, und frage, ob sie bei dem Fotoprojekt „KEIN RAUM“ mitmachen möchten – um selbst aktiv auf Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen und etwas von ihrer Geschichte zu erzählen.

tipBerlin Entstehen über die Treffen auch emotionale Verbindungen, sogar Freundschaften?

Debora Ruppert Viele wachsen mir sehr ans Herz. Manche sehe ich wirklich oft, über Jahre hinweg. Einer, der Udo, war plötzlich weg. Ein Jahr später war ich in Hamburg, bog um eine Ecke – und da saß er. Es passiert oft, dass Leute verschwinden: Sie verstecken sich, leben in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez oder im Wald, sind auf Entzug oder im Gefängnis wegen Schwarzfahrens. So geraten sie aus meinem Blickfeld – und natürlich mache ich mir dann Sorgen.

Obdachlose in Berlin – Sabrina, in der Notübernachtung am Containerbahnhof, Friedrichshain: „Ich weiß oft nicht, wohin“. Foto: Debora Ruppert

tipBerlin Welcher Verlust ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?

Debora Ruppert Besonders getroffen hat mich der Tod von Omar. Er lebte auf dem Arnimplatz, in meinem Kiez, so habe ich ihn ständig getroffen und sehr liebgewonnen. Das war so ein ganz Lauter, der oft sang oder rumschrie und einen Bollerwagen und zwei, drei Hunde um sich herum hatte. Er sah immer ein bisschen gefährlich aus, war aber sehr liebenswert. Omar starb bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 2019, nach 30 Jahren Leben auf der Straße. Die genaue Ursache ist unklar. Seine italienische Großfamilie hat ihn nach Hause geholt und dort beerdigt. Sie haben mir Fotos geschickt – eines meiner Bilder stand neben der Urne.

tipBerlin Was ist die häufigste Ursache für Obdachlosigkeit?

Debora Ruppert Oft ist es ein sich bedingender Kreislauf: Du hast beispielsweise eine psychische Erkrankung oder eine Sucht und kannst aufgrund dessen deinen Alltag nicht mehr bewältigen. Dann landest du auf der Straße, hast keinen Rückzugsraum mehr, keine medizinische Versorgung. Du hast kein Umfeld, das sich um dich kümmert – und all das verstärkt die psychische Erkrankung oder die Sucht. Auf der Straße ist man ohne Rückzugsmöglichkeit, man kann nicht durchschlafen, ist ständig in Angst – das macht viel mit der Psyche, es ist ein Teufelskreis.

Debora Ruppert: „Die Leute brauchen eine eigene kleine Wohnung“

tipBerlin Was muss sich ändern?

Debora Ruppert In den letzten Jahren hat die Kältehilfe die Plätze aufgestockt und regelmäßig wurde mitgeteilt, dass noch Plätze frei seien. Das liegt aber nicht daran, dass es wenige Leute auf der Straße gibt, sondern daran, dass viele aus Prinzip nicht in diese Einrichtungen gehen – oder erst bei unter minus 15 Grad. Weil sie Angst vor Übergriffen oder Diebstahl haben. Das sind Massenunterkünfte, in manchen rollen die Bewohner ihren Schlafsack auf dem Boden aus und liegen wie Heringe nebeneinander. In anderen gibt es auch Betten, aber immer Mehrbettzimmer. Eine Notübernachtung ist, wie der Name schon sagt, als Notlösung gedacht. Es soll die Leute vor dem Kältetod bewahren – und das ist extrem wichtig und richtig. Den Leuten eine eigene kleine Wohnung zu geben, wäre aber viel günstiger, als sie in diesem System aus Notübernachtungen zu halten. Ähnlich habe ich es bei Geflüchteten erlebt: Die Unterbringung im Heim ist ungleich kostenintensiver, als ein eigenes kleines Apartment anzumieten.

Elli, Suppenküche Franziskanerkloster, Pankow: „Ich suche eine Wohnung“rbahnhof, Friedrichshain: „Ich weiß oft nicht, wohin.“ Foto: Debora Ruppert

tipBerlin Berlin hat sich viel vorgenommen. Die bisherige Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) wollte bis zum Jahr 2030 Obdachlosigkeit in der Stadt überwinden, so steht es auch im neuen Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und Linke. Die beiden Schlüssel dazu heißen: „Housing first“ und „24/7-Einrichtungen“. Erklären Sie doch kurz, was sich dahinter verbirgt und wie Sie den Erfolg einschätzen.

Debora Ruppert Das Konzept „Housing First“ besagt, dass die Unterbringung in einer eigenen Wohnung an keine Bedingungen geknüpft wird. Erst kommt die Wohnung, und dann kann man schauen: Wollen sie versuchen, clean zu werden, einen Job zu finden oder Hartz IV zu beantragen? Dieser Ansatz ist absolut sinnvoll und wichtig, denn wer ein Safe Space hat, entwickelt plötzlich wieder neuen Mut.

Berliner Obdachlose: 24/7-Einrichtungen sind wichtig

tipBerlin Der Senat beruft sich dabei auf die guten Erfahrungen im Corona-Winter 2019/20 …

Debora Ruppert Im vergangenen Jahr mussten ja einzelne Notübernachtungen wegen Covid schließen oder, aufgrund der Abstandsregelungen, die Anzahl der Schlafplätze reduzieren. Der Senat hat schnell reagiert und leerstehende Hostels angemietet. Dort konnten Menschen über die Kälteperiode hinaus bleiben. Viele Sozialarbeiter:innen haben mir erzählt, dass sie das sehr beeindruckt hat: Leute, die in diesen Hostels waren – wo sie Privatsphäre, ein eigenes Bett, Waschräume und feste Mahlzeiten hatten – hätten sich teilweise psychisch sehr schnell stabilisiert. Sie mussten nicht, wie in der Notunterkunft, morgens mit allem Gepäck wieder aufbrechen, den ganzen Tag durch die Stadt streifen und sich abends neu anstellen. Sie konnten bleiben. Und da hieß es dann plötzlich: „Ach, ich würde doch ganz gerne mal einen Personalausweis oder Hartz IV beantragen.“ Als ihre Grundbedürfnisse nach Wärme, Schutz, Essen und Trinken gesichert waren, ist in ihnen etwas aufgestanden. Der Wille, das Leben ein Stück weit wieder zu organisieren, kam zurück. Also: Der Ansatz, die Idee aus dem Corona-Winter weiterzutragen und Ganztagsplätze, sogenannte 24/7-Einrichtungen, auszubauen, ist super und echt wichtig, um nachhaltig etwas zu verändern.

Thomas, vor einer Bankfiliale in Prenzlauer Berg: „Viele Einrichtungen haben geschlossen, und ich bekomme keine saubere Kleidung mehr“. Foto: Debora Ruppert

tipBerlin Die Corona-Zeit hat für die Obdachlosen aber natürlich auch Schattenseiten.

Debora Ruppert Oh ja, im vergangenen Winter besonders, weil einfach vieles zu war. Am Ostbahnhof gibt es eine Duschstation, die im ersten Lockdown schließen musste. Es war schwierig, eine Toilette zu finden, auch Suppenküchen hatten ihre Essensausgabe nach draußen verlagert. Aus Parks wurde man in der Zeit oft vom Ordnungsamt vertrieben. Ein Mann, Maxx, hat mir erzählt, dass viele sich auf die Friedhöfe zurückgezogen haben – weil sie da einfach in Ruhe sitzen konnten. Ein anderer, Thomas, erzählte mir, dass er erstmals erleben musste, wie sich die Leute in der Bahn von ihm wegsetzten – weil er sich nicht mehr duschen und auch seine Kleidung nirgends mehr waschen konnte.

tipBerlin Was kann jede:r einzelne von uns tun, wie kann man helfen?

Debora Ruppert Man kann zum Beispiel versuchen, zu ein oder zwei Personen, die dauerhaft im eigenen Kiez auf der Straße leben, eine Beziehung aufzubauen. Einfach mal Blickkontakt aufnehmen, „Hallo“ sagen oder fragen, wie es geht. Irgendwann kennt man dann den Namen, und wenn es kälter wird, bringt man vielleicht abends eine Kanne Tee vorbei oder einen Schlafsack. Was den Leuten wirklich hilft, sind persönliche Beziehungen. Dass sich jemand persönlich kümmert. Wir denken bei Obdachlosigkeit immer an die materielle Armut, aber es ist auch eine emotionale, soziale Armut. Bei allen Menschen, die ich erlebt habe, die den Absprung geschafft haben, war immer eine soziale Beziehung der rettende Anker. Jemand, der gesagt hat: „Hier ist meine Hand, wir gehen zusammen.“

Die Fotografin Debora Ruppert und ihre Ausstellung „KEIN RAUM“

Lebt seit 2007 in der Stadt: Debora Ruppert. Foto: Nadine Stenzel

Debora Ruppert ist 40 Jahre alt, stammt aus einem Dorf nahe Frankfurt a. M. und lebt seit 2007 in Berlin. Sie hat Theologie und Philosophie studiert und 2005 die Fotografie für sich entdeckt. Nach einzelnen Ausstellungen und Aufträgen wagte sie 2015 den Schritt in die Selbstständigkeit.

  • Ihre Ausstellung „KEIN RAUM – Begegnungen mit Menschen ohne Obdach“ ist noch bis 13.1.2022 im Zentrum am Zoo, Hardenbergplatz 13, Charlottenburg, zu sehen. 

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