Rap

Überholspur, Fullspeed: Octavian spielt im Berghain

Octavian war obdachlos. Er schien sich im Drogensumpf verloren zu haben. Doch dank seinem grandiosen Mixtape „Spaceman“ (und etwas Glück) entwickelte er sich innerhalb nur eines Jahres zu einem der wichtigsten Rapper Großbritanniens – und spielt nun im Berghain. Warum hat seine Musik diese Aufmerksamkeit verdient? 

Foto: Will Robson Scott

Pop lebt auch von Geschichten über Außenseiter, Konflikte, widerspenstige Talente, die ganz unten waren, sich hochkämpfen mussten und schließlich mit musikalischen Glanztaten ein Happy End feiern. Die Vorstufe eines solchen Happy Ends ist folgende Situation: Ein angetüdelter Drake (Sie wissen schon, „Hotline Bling“, „One Dance“, der berühmteste Rapper der Welt), ein angetüdelter Drake also, der mitten in der Nacht auf einer Afterparty der Golden Globes einen fremden Song in sein Handy rappt, dazu tanzt und die Aufnahme davon seinen knapp 50 Millionen Instagram-Followern zum Fraß vorwirft.

Hochgeladen wurde das Video im Januar 2018, veröffentlicht wurde „Party Here“, ein von reduzierten Melodien, wirr klöppelnden Drums und einem alles überstrahlenden euphorischen Singsang geprägter Song, den Drake kurz anstimmte, schon 2017. Aufgenommen hatte ihn der Rapper und Sänger Octavian aus London, dessen Musik vorher kaum jemand hören wollte. Doch zu Beginn seiner Karriere vor knapp vier Jahren war er ohnehin mit viel existenzielleren Problemen konfrontiert als mit mangelnder Aufmerksamkeit: Octavian war pleite, arbeitslos und wohnungslos.

Mit drei Jahren zog Octavian, Wurzeln in Angola, geboren in Frankreich, mit seiner Mutter von Lille in den Südlondoner Bezirk Camberwell. Damals waren Camberwell und das angrenzende Peckham ungemütliche, von Kriminalität geprägte Gegenden. Gangmitglieder schossen aufeinander, bis es Tote gab. Junge Menschen verkauften Drogen. Als Octavian 14 Jahre alt war, setzte ihn seine Mutter in diesem Bezirk vor die Tür. Es gab Streit. Ein Zusammenleben war nicht mehr möglich. Auf den Weg gab sie ihm, das sagt Octavian heute zumindest in mehreren Interviews, nur folgende Worte: „Entweder du kommst ins Gefängnis oder du kommst groß raus.“

Octavian sollte und musste sich von da an alleine durchschlagen. Er lebte auf der Straße, schlief in Dealerwohnungen. Der Gefängnisaufenthalt war in dieser Zeit realistischer als der Durchbruch. „Scared/ Guess what/ Mummy I said, guess what?“, singt er heute auf „Scared“, in dem er diese von Ängsten geprägte Zeit verarbeitet. Doch dass er Musiker werden wollte, wusste Octavian schon damals.
Trotzdem quälte sich Octavian jeden morgen von seinem provisorischen Schlafplatz aus in die Schule. Nicht in irgendeine Schule, sondern in die renommierte BRIT School for Performing Arts, an der schon Adele, Amy Winehouse und King Krule ihren musikalischen Stil herausbildeten. Auch Octavian begann zu lernen, zu experimentieren und vor allem zuzuhören. Er hörte den Gesang und die Soundscapes von James Blake und Bon Iver, aber auch harten Drill- und Grime-Rap von Chief Keef und Skepta. Die BRIT School hat Octavian irgendwann verlassen („Kreativität kann man nicht lernen“, sagte er als Begründung); die Einflüsse aus dieser Zeit sind in seiner heutigen Musik jedoch noch immer zu hören.

Als Dealer auf Raves gelauscht

2016, Octavian war gerade am herkömmlichen Arbeitsleben in Form eines Jobs in einem Schuhladen gescheitert und wieder ganz unten. Ein Freund nahm ihn bei sich auf. Das erste Mixtape „22“ erschien im selben Jahr, die EP „Essie World“ ein Jahr darauf.

Schon auf diesen beiden roh produzierten Veröffentlichungen ist zu hören, wie divers Octavians Musik klingt. Er hat all seine Einflüsse zu einem im unbedingt positivsten Sinne eklektischen Supermix verarbeitet. Sein Sound vereint den harten Rap, der in Camberwell lief, mit der Musik der sensiblen Coolkids mit den schönen Stimmen (die in der BRIT School angesagt waren) und Spielarten britischer Tanzmusik wie UK Garage, die auf jenen Raves liefen, auf denen Octavian früher Drogen verkauft hat, um sich über Wasser zu halten. Dieser Soundmix funktioniert und er elektrifiziert – nicht nur den Kanadier Drake, sondern die gesamte britische Rapszene, die bisher vor allem für das bassdominierte Subgenre Grime wahrgenommen wurde. Und Octavian macht eben gerade kein Grime. Das ist erfrischend.

Kurz nachdem der bekennende Grime-Liebhaber Drake zu „Party Here“ vor seinem Smartphone herumgetanzt hatte, nahm das Happy End für Octavian erst so richtig Fahrt auf. Einige Wochen später schleppte ihn der neue Artistic Director von Louis Vuitton, Virgil Abloh, mit nach Paris. Plötzlich stand Octavian für eines der wichtigsten Modehäuser der Welt auf dem Laufsteg. Es folgten ein Label­deal und vor allem ein riesiger Online-Hype um Octavian. Millionen von Klicks. Mittlerweile hat er seine eigene Wohnung, lebt zusammen mit zwei Freunden, mit denen er kreativ sein kann. Vor einigen Monaten, so erzählte es Octavian dem Musikmagazin The Fader, traf er nach Jahren der Funkstille sogar wieder auf seine Mutter. Ihre Ansage hat sich im besten Sinne bewahrheitet.

Das Beste an Octavian ist, und das ist ein großes Glück, eben nicht seine Außenseiter- und Erfolgsgeschichte, nicht der Weg zum Happy End, der sich als Story doch so toll nacherzählen lässt. Das Beste an Octavian ist seine Musik. Sein erstes Mixtape unter der Beobachtung der Massen, „Spaceman“ von 2018, erfüllt alle Erwartungen an Octavians Hybrid-Sound. Funky Dance-Sounds dominieren auf „Lightning“, harter Straßenrap auf „Break That“, selbstreflexiver Rnb auf „Stand Down“. Zusammengehalten wird die Mischung von Octavians Stimme und von seiner enormen Präsenz auf den Songs. Mal rappt er mit dunkler Stimme, mal singt er beseelt, mal säuselt er melancholisch und mal lallt er mit alienhafter Autotune-Stimme, während er den Weg zum Happy End verarbeitet.

„Go faster in my ride (go faster, go faster)“, singt Octavian auf dem Song „Move Faster“ und beschreibt das Motto seiner Karriere damit ganz gut. Es geht schneller, immer schneller. Fotoshootings, Features, Singles, Videoshoots, ein Album in Planung, eine Europatour, ein Berlin-Gig, der natürlich im Berghain stattfinden muss. Octavian ist auf der Überholspur am romantischen Happy End vorbeigerast, weil er gar keine Lust auf ein schnelles Ende hat. Auch dann nicht, wenn es noch so happy ist.

Berghain Am Wriezener Bahnhof, Friedrichshain, Di 19.2.,20 Uhr, VVK 24,85€

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