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Kommentar

Pride 2020 am Samstag in Berlin: Warum unser Protest leider immer noch wichtig ist

Morgen ist Pride 2020 in Berlin – ein Protestmarsch gegen Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen, die nicht heterosexuell sind. Viele sehen in der LGBTQIA+-Welt vor allem einen bunten Karnevalsverein, schrill, laut – und mittlerweile mit einigen Rechten ausgestattet. Warum Berlin bei weitem nicht so liberal und offen ist, wie es manchmal wirkt, und warum wir protestieren müssen, schreibt Sebastian Scherer.

Die LGBTQIA+-Community hat noch einen langen Weg vor sich – Pride 2020 kann helfen, Sichtbarkeit zu schaffen. Foto: Zuma Wire

Pride 2020: Viele finden das immer noch widerlich

Ich bin weiß und schwul, das ist vergleichsweise langweilig. In der offiziellen Öffentlichkeit bin ich anerkannt als lustig-launiger Regenbogen-Mann, mit dem das Sektchen gut schmeckt und der wahrscheinlich im Berghain schlimme Sachen macht. Aber total okay, es ist ja 2020.

Ich habe fast noch Glück, dass meine Lebenswelt verhältnismäßig schlicht ist. Ich liebe Männer (beziehungsweise haargenau einen Mann), das finden viele gut, viele schwierig, immer noch viele widerlich und zum Beispiel die katholische Kirche findet es nicht so richtig gut. Kann man nicht akzeptieren, muss man aber. Es wäre ungleich schwieriger, wenn ich lesbisch wäre, weil Lesbischsein immer noch viel stereotyper behandelt wird als, inzwischen, Schwulsein. Ich könnte aber auch Trans* sein. Wer mit Menschen, die nach außen offen für alles sind, darüber spricht, wie sie transsexuelle Personen wahrnehmen, stößt häufig schnell an Grenzen. Hässliche Grenzen. Und da haben wir noch gar nicht Intersexualität gesprochen oder radikale Queerness.

Wir haben doch alles? Nein, haben wir nicht

Nun ist es so, dass es für Menschen erst einmal schwierig ist, Lebenswelten nachzuvollziehen, die nicht ihre eigenen sind und mit denen sie selten in Berührung kommen. Wer in einem 1.000-Seelen-Kaff in Niedersachsen aufwächst wie ich in den 80er Jahren, der kennt Schwule meistens nur aus dem Fernsehen. Und dann auch nur als Aidskranke oder besoffene Tunten. Die Existenz von Trans*Personen wurde komplett verheimlicht. Und Lesben fanden im Nachtprogramm in Form von Katalogmodels mit Kussdrang statt.

Was hat das mit der Pride 2020 zu tun, mit der Absicht, Sichtbarkeit zu schaffen und dem Willen, unbedingt im öffentlichen Raum wahrgenommen zu werden?

Es hat damit zu tun, dass viele Menschen inzwischen glauben, wir, die “Community”, hätten doch alles, was wir wollten. Weil wir jetzt auch in anderen Rollen im Fernsehen sein dürfen, weil die Stereotype zumindest minimal aufgebrochen sind und viele modernde Formate und Filme viel Wert darauf legen, divers zu sein.

Heiraten geht dazu auch, Kinder irgendwie auch. Aber Blutspenden? Weiterhin nicht (zumindest für Schwule), da müssen wir erst einmal ein Jahr lang keinen Sex haben. Kein Scherz! Du kannst als Hetero jedes Wochenende zum Gangbang gehen und Montag Blut spenden. Als Schwuler in monogamer Ehe müsstest du 365 Tage komplett auf Geschlechtsverkehr verzichten, um es auch zu tun. Klingt absurd? Realität.

In den vergangenen Jahren war der CSD die große bunte Party. Dieses Jahr wird sie ersetzt durch die Pride – weil die Organisatoren der ursprünglichen Parade lieber virtuell antreten im Juli. Dafür soll es politischer werden. Foto: König

Nicht angekommen, nicht frei, nicht unbeschwert

Wir sind nicht angekommen, wir sind nicht frei, wir sind nicht unbeschwert. Die Menge an Blicken, Sprüchen, vor allem aber auch ganz realer Gewalt, die LGTIQ-Menschen erfahren, kann sich ein Durchschnitts-Hetero nicht vorstellen. Manchmal erlebe ich, dass Freund*innen gereizt reagieren, wenn ich auf die Heteros schimpfe. Das liegt nicht daran, dass ich meine Freund*innen ärgern will. Das liegt vielmehr daran, dass das System nicht in unserem Sinne ist. Wir sind Außenstehende.

Wir werden, wenn wir mit unserem Freund zu nah beisammen stehen an der Bahnstation, von halbstarken Teenie-Arschlöchern angerempelt.

Wir werden, weil wir uns “wie Frauen anziehen”, in Berlin angespuckt, mit Essen beworfen, mit Gürteln geschlagen.

Wir werden angepöbelt, weil wir uns nicht „weiblich genug“ anziehen, unsere Haare kurz schneiden und ausnahmsweise mal nicht dem beschissenen Patriarchat gefallen wollen.

Politische Pride: Tragische Zustände weltweit

Die Liste ist beliebig fortsetzbar. Jeden einzelnen Tag geschehen in Berlin, geschehen in Deutschland Taten gegenüber Menschen, weil sie nicht so sind wie die meisten. Nur deshalb. Unser ganz normaler Alltag kann zur Gefahr werden, andauernd. Und damit haben wir nicht mal nach Polen geguckt oder nach Russland, wo Menschen in dauerhafter Angst um ihr Leben existieren. Oder in all die Länder, in denen Homosexuelle gehängt und gesteinigt werden. Nicht, weil sie irgendwen umgebracht haben oder so etwas. Sondern weil sie lieben.

Liebe für alle – beim CSD ging das, auch bei der Pride wird es (mit Abstand) gehen. Nur im Alltag, da sieht es leider oft anders aus. Foto: Imago Images/König

Wer nicht aufwächst mit diesem Gefühl der Ablehnung, des Ausgegrenztseins – ob wegen der Sexualität, der Hautfarbe, einer körperlichen Einschränkung, was auch immer –, der kann nicht nachvollziehen, wie wichtig es ist, dass jene, die abgelehnt wurden, um jeden Zentimeter kämpfen. Dass sie sichtbar bleiben. Dass Menschen sehen, dass sie noch so viel hassen können, wir aber nicht weggehen werden. 

Wir bleiben – aber Sicherheit ist unendlich wichtig

Es ist unendlich wichtig, dass wir mit anderen Menschen zusammenkommen, dass wir uns sicher fühlen können an Orten, an denen wir es sonst nicht tun. Und ja, das kann auch der Alexanderplatz sein, wo die Pride Parade morgen endet. Weil es auch dort nur ein paar Idioten braucht, die dir den Tag versauen.

Der CSD findet statt ohne Kundgebung, ohne Party, ohne großes Tamtam. Weil Corona-Zeit ist, weil wir die Regeln kennen, und weil wir es seit jeher gewohnt sind, uns zeitweise unterzuordnen. Damit wir nicht auffallen und sicher nach Hause kommen. Aber wir sind da. Immer.

Es ist wichtig zu protestieren. Denn es ist unser Recht, so zu sein, wie wir sind. 


  • Die Pride beginnt am Samstag um 12 Uhr am Nollendorfplatz, führt dann über Büloew-, Potsdamer-, Ebert-, Hannah-Arendt-, Wilhelm-, Behren- und Glinkastraße zu Unter den Linden bis diese zur Karl-Liebknecht-Straße wird. Ende ist dann am Alexanderplatz. Mehr Infos zur Pride Parade. Wer helfen will, kann sich bei Facebook über Spenden- und Mitarbeitsmöglichkeiten informieren.

Einer der Organisatoren, Nasser El-Ahmad, betont im Interview mit tipBerlin, dass es ein politischer Protest ist, keine Party wie sonst. Neben Themen wie Black Lives Matter und den Missständen in anderen Ländern sowie Deutschland, geht es auch um die Erhaltung wichtiger queerer Räume in Berlin. Die Club-Kultur gehört dazu – und muss gerade auch für LGBTQIA+-Communitys unbedingt erhalten werden. Die derzeitige Schließung vieler Betriebe empfindet Drag-Star Bambi Mercury als akute Bedrohung für die ganze Szene.

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