Ein Pop-up-Lokal in der Oderberger Straße verspricht 10.000 Portionen Nudeln für Franz Kafka. Wer steckt dahinter? Und was hat der 100. Todestag des berühmten Schriftstellers mit der chinesischen Küche zu tun? Ein Besuch.
10.000 Nudeln für Kafka: Ein Kunstprojekt des Paper Tiger Theater Studios
Dem einen oder anderen ist in der Oderberger Straße vielleicht schon ein türkisblaues Plakat aufgefallen, auf dem das Gesicht von Franz Kafka mit einer Buddha-Pose verschmilzt. Das dazugehörige Lokal verspricht „10.000 Nudeln für Kafka“. Bloß ein neues Restaurant, das mit dem berühmten Schriftsteller wirbt? War Franz Kafka insgeheim Liebhaber von Dan-Dan-Nudeln?
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Hinter der Adresse steckt das Paper Tiger Theater Studio, ein chinesisch-deutsches Theaterkollektiv. Das Kollektiv feiert den bedeutenden Schriftsteller Franz Kafka mit dem Projekt „10.000 Nudeln für Kafka“: Das dreimonatige Performance-Projekt läuft seit dem 3. Juni, dem hundertsten Todestag von Franz Kafka, und soll am 26. September 2024 enden, dem Datum, an dem Kafka vor 101 Jahren in Berlin ankam. Aufgetischt werden Nudeln mit frischem Gemüse, wahlweise mit Rind, Schweinefleisch oder Tofu, es gibt auch kalte Vorspeisen wie chinesischen Gurkensalat oder verschiedene Dumplings.
Franz Kafkas Liebe zur chinesischen Literatur
Und warum chinesische Nudeln? Warum überhaupt die Schnittstelle zu China? Nun, Kafka selbst war „im Grunde Chinese“ – zumindest getreu einem Zitat des 1924 verstorbenen Schriftstellers. Tatsächlich hatte Kafka ein anhaltendes und tiefes Interesse für die chinesische Kultur. Die Literaturwissenschaft hat Bezüge zwischen Kafkas Texten und der chinesischen Literatur hergestellt: In der Germanistik spricht man von einem etwa ab 1917 entstehenden „China-Komplex“ in Kafkas Werk, zu dem bekannte Texte wie „Beim Bau der Chinesischen Mauer“, das darin enthaltene Fragment „Eine kaiserliche Botschaft“ oder „Ein altes Blatt“ gehören. Auch verschiedene biografische Quellen belegen Kafkas Verbundenheit mit der chinesischen Kultur und Literatur.
Warum haben die Künstler:innen sich als Ort für ein Projekt zum Thema Kafka aber nun ausgerechnet eine Berliner Nudelbar ausgesucht? Die Erklärung: Das Projekt erforscht die Grenze zwischen Kunst und Alltag, indem es alltägliche Handlungen wie das Essen in einen künstlerischen Kontext stellt. Zehntausend Besucher:innen sind dazu eingeladen, durch das gemeinsame Essen von Nudeln gewissermaßen selbst zu Performern zu werden. Im Innenraum der Nudelbar ist eine interaktive Ausstellung zu Kafka zu sehen, mehrere Werke hat unter anderem der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei beigesteuert.
10.000 Nudeln für Kafka: Essen für Fremde überall auf der Welt
Im Rahmen des Projekts sind die Besucher:innen außerdem dazu eingeladen, jemandem in Berlin eine Portion Kafka-Nudeln zu schenken. Die Teilnehmer:innen können die Person, die sie einladen möchten, kreativ beschreiben. Diese Beschreibungen werden online und am Nudelstandort angezeigt. Wenn die beschriebene Person erscheint, erhält sie die Nudeln kostenlos. Auf dem Instagram-Account des Projekts sind Beispiele für diese Nudel-Geschenke zu finden: Jemand verschenkt eine Portion Nudeln an einen Palästinenser, jemand anderes an eine Person aus der Ukraine. Ein weitere Portion Nudeln mit Beef soll an jemanden gehen, der sich bemüht, vegetarisch zu leben, sich aber nach Fleisch sehnt.
Gleichzeitig wird über Erinnerungskultur und die Relevanz von Kafka in der heutigen Zeit reflektiert: In der Stadt, in der Kafka selbst vor seinem Tod gelebt hat, sollen die Besucher:innen damit Teil einer künstlerischen Inszenierung werden, die sich auf einer Metaebene mit Kafkas komplexer Gedankenwelt auseinandersetzt. Fast schon kafkaesk, sozusagen. Wer mag, kann einen Brief an Frank Kafka schreiben und ihn in einen kleinen Briefkasten werfen; die eigene Adresse soll angegeben werden, vielleicht erhält man Post von Kafka zurück. In der interaktiven Ausstellung im Innenraum können Besucher:innen ein Kafka-Zitat vor einem iPad einsprechen, das daraufhin ihre Mimik digital in Kafkas Gesicht verwandelt.
Kafkas Tagebuch: Fragen von Identität und Zugehörigkeit
1923 verbrachte Kafka sein letztes Jahr in Berlin und erlebte seine glücklichsten Momente, bevor sich 1924 seine Tuberkulose verschlimmerte und er nach Prag zurückkehrte, wo er wenige Monate später starb. Das hundertste Jahrestag von Kafkas Tod hat 2024 weltweite Gedenkveranstaltungen ausgelöst. In Reflexion seiner eigenen Zweifel rund um Identität und Zugehörigkeit, die sich in Kafkas Tagebüchern wiederfinden, sind Besucher:innen des Pop-ups eingeladen, sein Tagebuch in mehreren Sprachen fortzuschreiben, um Parallelen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Konflikten zu ziehen.
Das Paper Tiger Theater Studio ist eine renommierte Theatergruppe, die sich durch ihre innovative und künstlerisch anspruchsvolle Arbeit in der Theaterszene einen Namen gemacht hat. Gegründet im Jahr 1997 vom chinesischen Regisseur Gebing Tian, hat das Studio seinen Sitz 2019 nach Berlin verlegt. Ihr Ziel ist es, die Grenzen traditioneller Theaterpraktiken zu überschreiten und neue Ausdrucksformen zu finden. Dabei legen sie großen Wert auf interkulturellen Dialog und Zusammenarbeit und arbeiten häufig an der Schnittstelle von Performance, Bildender Kunst und Installationen – wie auch in diesem Sommer in der Oderberger Straße.
- 10.000 Nudeln für Kafka, Oderberger Str. 14, Prenzlauer Berg, Mo-Fr 12-22:30 Uhr, Sa-So 12-23 Uhr, bis 26.9., weitere Informationen und Details zum Projekt finden sich auf der offiziellen Website des Paper Tiger Theater Studios.
Mehr Kunst und Ausstellungen in Berlin
Auf der Spur des Schriftstellers: Wir besuchen die Stationen aus Kafkas Leben. Knallpink und streng limitiert: „Kafka in Berlin“ – Siebdruck von Kat Menschik. 1924 ist Kafka gestorben, Flat White im hippen Café gab es zu der Zeit noch nicht, trotzdem war Kafka vielleicht der erste Hipster der Stadt. Nicht nur Kafka lebte hier. Wir zeigen euch, wo Schriftsteller in Berlin gelebt haben. Wer sich zurückträumen will in die Stadt zu Kafkas Zeit, findet hier Berliner Orte für 1920er-Jahre-Nostalgie. Blick nach vorn: Die wichtigsten Ausstellungen im Kunstjahr 2024. Überblick verloren? Sobald die Infos da sind, steht hier das Wichtigste zur Berlin Art Week. Geht immer: Wir zeigen euch wichtige Ausstellungshäuser, Galerien und Museen für Kunst in Berlin. Gut zu wissen: Am Museumssonntag ist der Eintritt kostenlos, jeden ersten Sonntag im Monat. Keine Kunst, sondern Sci-Fi-Saga: Das erwartet euch bei der „Star-Wars“-Fan-Ausstellung „The Fans Strike Back“ im Napoleon Komplex.
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