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Berlin verstehen

Kunstkritisch betrachtet: Die Ästhetik des Berliner Sperrmülls

Sperrmüll gehört in Berlin zum Stadtbild dazu. Ausrangierte Sofas, olle Röhrenfernseher, versiffte Kühlschränke und andere nicht mehr benötigte Haushaltsgegenstände stehen in den Straßen herum. Oft kleben die findigen Ausmister ein „Zu verschenken“-Schild an die temporäre Installation, also würden sie in ihrer grenzenlosen Güte, der Menschheit damit etwas zurückgeben.

Hier sind 12 schöne Fotos vom Sperrmüll in Berlin, den man mit viel gutem Willen auch als Kunst im öffentlichen Raum begreifen könnte, als eine ortsspezifische Intervention. Kann man so sehen, muss man aber nicht.


Bunte Mischung

Sperrmüll in Berlin am Gesundbrunnen.
Sperrmüll am Gesundbrunnen. Foto: Imago/Jürgen Ritter

So kommt eines zum anderen. Eine soziale Dynamik entsteht. Einer stellt was raus und gleich begreift der gesamte Kiez instinktiv, dass man seinen Kram einfach dazu stellen kann. Alte Sessel, Müllsäcke, Regalbretter, alles wird auf den Haufen geworfen. Wo etwas liegt, da kann noch mehr liegen, lautet die geheime Devise. Sehr schön ist die im Blausack verpackte Toilette. Ob da wohl der Verhüllungskünstler Christo als Inspiration diente?


Analoge Technik im Blümchenbeet

Sperrmüll in Berlin: Abgestellter alter Fernseher in der Erich-Weinert-Straße in Prenzlauer Berg.
Abgestellter alter Fernseher in der Erich-Weinert-Straße in Prenzlauer Berg. Foto: Imago/Petra Schneider

Den technischen Fortschritt erkennt man an dem aussortierten und auf die Straße gestellten technischem Gerät. Einst lagen Faxgeräte, Nadeldrucker und klobige Röhrenmonitore überall herum. Dann kamen die Röhrenfernseher. So wie dieses Exemplar, dass jemand noch 2019 in Prenzlauer Berg herausgestellt hat. Schön arrangiert im Blümchenbeet trifft so analoge Technik auf Stadtnatur.


Blaues Sofa vor weinroter Wand

Illegal entsorgte Möbel am Straßenrand in der Lüderitzstraße in Wedding.
Illegal entsorgte Möbel am Straßenrand in der Lüderitzstraße in Wedding. Foto: Imago/Müller-Stauffenberg

Man beachte das fein ausbalancierte Farbspiel. Blaues Sofa vor weinroter Wand, dazu ein Einkaufswagen als Symbol des modernen Konsumverhaltens. Klug kombinierte Kunstinstallation im Stadtraum, die durch die perspektivische Drehung des mittleren Objekts zu einem dringlichen Erlebnis wird. Selbstverständlich ist das Werk auch interaktiv, so können etwa Hunde an die Seitenpolster urinieren und es ist konzeptuell stets erweiterbar um weiteren Sperrmüll, der in der Nachbarschaft so herumliegt. Hier hat der Wedding die Nase vorn!


Der Sackberg

Sperrmüll in Berlin: Müllsäcke in der Adam-von-Trott-Straße unweit des Flughafens Tegel.
Müllsäcke in der Adam-von-Trott-Straße unweit des Flughafens Tegel. Foto: Imago/Jürgen Ritter

Da haben sich die Schöpfer wenig Mühe gegeben, schnöde Müllsäcke wurden hier lieblos auf einen Haufen geworfen und drum herum nur etwas loser Unrat drapiert. Man merkt sogleich, es waren Anfänger im Spiel. Allerdings ist die Adresse, an der der Sackberg installiert wurde zu beachten. In die Adam-von-Trott-Straße kommt man nicht jeden Tag!

Adam von Trott war übrigens Widerstandskämpfer im Dritten Reich und an dem Hitler-Attentat um Stauffenberg beteiligt.


Sessel im Wald

Sperrmüll in Berlin: Sessel im Wald am S-Bahnhof Schönholz.
Sessel im Wald am S-Bahnhof Schönholz. Foto: Imago/Rolf Zöllner

Wunderschön gedämpfte Farben, der Sessel in einem Waldstück am S-Bahnhof Schönholz mahnt uns zum Innehalten. Er symbolisiert die Vergänglichkeit. Hier haben in minimalistischem Arrangement die Schöpfer ein herausragendes Werk kreiert. Da möchte man doch Goethe zitieren: „Verweile doch, du bist so schön.“


Altes Paar auf rotem Plüsch

Plausch im Kreuzberger Kiez.
Plausch im Kreuzberger Kiez. Foto: Imago/Rolf Kremming

Joseph Beuys sprach immerzu von der sozialen Plastik. Von Kunstwerken also, die die Gesellschaft irgendwie mit eingebunden haben. Nun ist der Sperrmüll im Stadtbild ohnehin in ständigem Dialog mit den Passanten, hier aber, in dieser Kreuzberger Szenerie, wird er liebevoll von einem älteren Paar angenommen. Eine kurze Rast im hektischen Großstadttrubel.


Verloren am Stadtrand

Sperrmüll in Berlin: Sperrmüll, abgeladen am Rande einer gesperrten Straße.
Sperrmüll, abgeladen am Rande einer gesperrten Straße. Foto: Imago/Marius Schwarz

Eine Sitzgarnitur samt Tisch wurde hier in der Peripherie der Stadt aus dem Transporter gewippt und sich selbst überlassen. Wie verloren wirken die Objekte in dieser Stadtrand-Ödnis. Ob man den Rest dem Zufall überlassen wollte?

Vielleicht können die aussortierten Möbel auch als Behausung für wilde Tiere dienen, man stelle sich nur das Glück einer kleinen Marderfamilie vor, die hier einziehen könnte. So geht moderner Tierschutz!


Zu verschenken!

Zu verschenken – schäbiger Stuhl an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg.
Zu verschenken – schäbiger Stuhl an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg. Foto: Imago/Marius Schwarz

Danke. Danke. Danke. Der gütige Mensch, der diesen Stuhl in der Schönhauser Allee abgestellt hat, sollte einen Orden bekommen, Kinder sollten ihm Blumen bringen und nach einem langen und glücklichem Leben sollte die Stadt Berlin ihm ein Ehrengrab spendieren. Wer so einen Schatz mit der Welt teilt, ist nicht weniger als ein Heiliger.


Sperrmüll-Logik

Sperrmüll in Berlin: Müllcontainer mit darum liegender Müll in Friedrichshain.
Müllcontainer mit darum liegender Müll in Friedrichshain. Foto: Imago/STPP

Auch hier waren richtige Genies am Werk. Man möchte sich in die Köpfe der Leute hineindenken. „Ah, da steht ein Glascontainer, da stelle ich den alten Tisch und die Kartonreste und die Bretter und den ganzen anderen Plunder einfach dazu, den holt dann schon jemand ab“, dachte sich da jemand und so kam es zu diesem schönen Arrangement in Friedrichshain. Toll!


Matratze an Wäscheständer

Sperrmüll-Klassiker: Matratze und Wäscheständer.
Sperrmüll-Klassiker: Matratze und Wäscheständer. Foto: Imago/STPP

Hier an dieser Ecke sehen wir einen Berliner Klassiker der Sperrmüll-Kultur. Die ausgediente Matratze, noch nicht besprüht, lehnt sanft an der Häuserecke, an ihr schmiegt sich der ungewollte Wäscheständer, der aufgrund seiner Dimensionen nicht in die handelsübliche Mülltonne passt und daher oft den Weg auf die Straße findet. Leider haben die Urheber das „Zu verschenken“-Schild vergessen.


Freier Blick

Sperrmüll in Berlin: Ausrangierte Matratze in der Wisbyer Strasse in Prenzlauer Berg.
Ausrangierte Matratze in der Wisbyer Straße in Prenzlauer Berg. Foto: Imago/Seeliger

Der moderne Mensch ist immer im Stress, hastig läuft er über die Straße, starrt auf sein Smartphone und hat nie Zeit für die kleinen Dinge des Lebens. Wie etwa die kontemplative Betrachtung dieser Matratze mit „Überall Zuhaus“-Schriftzug in der Wisbyer Straße in Prenzlauer Berg. Dabei haben die Macher gegenüber einen Stuhl gestellt, auf dem man sitzend den freien Blick aufs Werk hat.


Kunst am Bau

Sperrmüll in Berlin: Das ist schon fast Kunst: Matratze im Hinterhof in Mitte.
Das ist schon fast Kunst: Matratze im Hinterhof in Mitte. Foto: Imago/Steinach

Das Beste zum Schluss. Diese Matratze im Format 160 mal 200 Zentimetern lehnt an einer Hinterhofwand in Mitte. Man beachte das Einwirken der Natur, den blassgrünen Streifen, der am Mauersockel erkennbar ist und sich über die Matratze in gleicher Höhe erstreckt. Ein grandioses Zusammenspiel, das der Künstler so vorhergesehen haben muss. Daher verleihen wir den Berliner Sperrmüllpreis an dieses anonyme Genie.


Was uns auch noch bewegt:

Alle wollen nach Kreuzberg. Das haben auch Immobilienmakler verstanden und wollen Eigentumswohnungen mit schlimmsten Makler-Sprech verkaufen. Das Resultat: Die Einheiten in einem Block aus den 1950er-Jahren sind nun Mid-Century-Wohnungen. Suchen ist anstrengend. Zum Berliner Wohn-Irrsinn gehört auch die WG in Mitte, 27 Euro pro Quadratmeter. 

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