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Berliner Geschichte

30 Jahre Räumung der Mainzer Straße: Kiezkrieg ’90

Der Ex-Besetzer: „Es war blanker Überlebenskampf.“ Der Ex-Polizist : „Wie kommen wir hier heil raus?“ Vor 30 Jahren wurde die besetzte Mainzer Straße in Friedrichshain geräumt. Es war die größte Schlacht im Berliner Häuserkampf. Was ist an diesem 14. November 1990 passiert?

Im Mai 1990 hatten rund 250 meist junge Menschen einen ganzen Straßenzug mit zwölf leerstehenden, verfallenden Häusern in der Mainzer Straße in Friedrichshain besetzt. Die Räumung der Häuser am 14. November 1990 durch mehr als 3.000 Polizist*innen ging mit einer Straßenschlacht einher, wie es sie davor und danach in Berlin nicht mehr gab. Unser Longread zum 30. Jahrestag.

Wir haben drei Beteiligte zu getrennten ­Gesprächen getroffen. Sie beleuchten Vorgeschichte und Eskalation in der Friedrichshainer Straße von beiden Seiten der Barrikaden.

  • Der damalige Polizist Karl-Heinz Godolt war Bereitschaftsführer der Einsatzbereitschaft 54 in der Friesenstraße.
  • Der damalige Polizist Winfried Trübe war Godolts Bereitschaftstruppführer.
  • Der Ex-Hausbesetzer Andreas „Pinus“ Winter war Sprecher der Mainzer Straße.

Die Gespräche führten Andreas Baum und Erik Heier.

30 Jahre Räumung der Mainzer Straße: dreitägige Eskalation. Foto: imago images / Stefan Trappe
30 Jahre Räumung der Mainzer Straße: dreitägige Eskalation. Foto: Imago Images/Stefan Trappe


DAVOR:
Besetzung, Projekte, Polizei-Kameradschaft, Neuland, Nachbarn, Neo-Nazis

Andreas Winter, Besetzer Ich gehörte in Kreuzberg zu einer Männergruppe und zur Anti-IWF-Kampagne. Wir haben schon lange vor dem Mauerfall darüber diskutiert, ob wir nicht was besetzen können. Aber im Westen war alles dicht. Direkt nach dem Mauerfall bin ich nach Friedrichshain rüber, weil es in West-Berlin eine ungeheure Wohnungsnot gab, eine fast noch größere als heute. Dann wurde ich angesprochen: Wir haben das Haus jetzt. Willst du mitmachen?

Karl-Heinz Godolt, Polizist In der Zeit hatte ich eine Hundertschaft Polizisten zu leiten. Im Schnitt waren immer 60 Leute im Dienst. Wobei: Zu besonderen Einsätzen waren wir mehr, weil niemand dienstfrei nehmen wollte. Keiner wollte Urlaub nehmen, alle wollten dabei sein.

Winfried Trübe, Polizist Das war eben Kameradschaft. Als das mit den großen Demonstrationen losging, ‘87 etwa, haben wir fast keine Krankmeldungen mehr gehabt.

Andreas Winter, Besetzer Es waren ja vor allem Projekte, die im Mai 1990 in die Mainzer-Straße-Häuser eingezogen sind. Das berühmteste Projekt war der Tuntentower in der Mainzer Straße 4. Daneben lag das Frauen- und Lesbenhaus, so etwas wie die vor wenigen Wochen geräumte Liebig34.

Die Nummer 8, wo ich gewohnt habe, galt als Orga-Haus. Wir haben Öffentlichkeitsarbeit gemacht und mit den Nachbarn gesprochen. In der Mainzer 7 war der Späti. In Nummer 6 hatten wir den Fuhrpark. Die hatten die meisten Autos, vor allem große, auch eine alte Wanne. Und die Mainzer 5, das waren die Handwerker. Wenn es was zu reparieren gab, ging man da rüber, da gab es eine Werkstatt und Leute, die das konnten. Die Mainzer 9 war ein bisexuelles Haus, da war auch die Zentrale. Und in der Nummer 10 und 11, da wollten die einfach nur schön wohnen.

Winfried Trübe, Polizist Vor der Räumung spielte die Mainzer Straße überhaupt keine Rolle für uns. Im Westteil hatten wir die Besetzerszene ja mehr oder weniger im Griff.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Unsere Direktion war ursprünglich zuständig für Kreuzberg, Neukölln und Teile von Tempelhof. Mit der Wiedervereinigung erstreckte sich das Gebiet plötzlich bis Marzahn und Hellersdorf. Für uns war das Neuland. Wenn wir da durchgefahren sind, durch die Mainzer Straße, gab es schon mal einen Stinkefinger. Aber an und für sich hatten wir kein schlechtes Gefühl. Allerdings wussten wir, dass ein Teil von denen aus dem Westteil in den Osten gezogen war. Da war uns schon klar, so eine richtig tolle Entwicklung wird es nicht geben.

„Für die Nachbarn waren wir ein Kulturschock“, sagt der Besetzer

Andreas Winter, Besetzer Zu 80 Prozent waren wir in der Mainzer Straße Kreuzberger und damit beschäftigt, vor Ort nicht allzu unbeliebt zu sein. Für die Nachbarn waren wir schon ein Kulturschock. Die eine Straßenseite der Mainzer hat tagsüber gearbeitet und nachts geschlafen und bei uns war es genau umgekehrt. Beschwerden gab es querbeet. Von „macht nicht so viel Müll und seid nicht so laut, ansonsten ist es okay“ bis zu „geht doch zurück, wo ihr hergekommen seid“. Es wurde sogar eine Bürgerinitiative gegründet gegen die Besetzung. Aber man konnte mit den Leuten reden, das war gar kein Problem.

Gegenüber gab es eine DDR-Rentenausgabestelle. Die Rentner sind einmal im Monat gekommen und haben ihr Geld in bar abgeholt. Denen haben wir ein paar Stühle vor die Tür gestellt und irgendwann war das eine Rechtsberatung: Wie bekomme ich das in D-Mark ausbezahlt? Muss ich was beantragen? Bekomme ich überhaupt eine Rente?

Karl-Heinz Godolt, Polizist Was im Inneren der Häuser los war, wussten wir nicht.

Nach der Räumung der besetzten Häuser rückt ein Bulldozer an, um die Barrikaden abzuräumen. Foto: imago images / Werner Schulze

Andreas Winter, Besetzer Im Mai wurden wir von einem SED-Funktionär der Kommunalen Wohnungsverwaltung angesprochen, Dr. Seifarth. Der hat offen gesagt, dass er von Westdirektoren abgesägt wird. Und bis das passiert, sei er bereit, alles zu unterschreiben. Er hat uns Rahmenmietverträge und Einzelmietverträge angeboten. Ich bin durch die Häuser gelaufen und habe angesagt, dass es die Möglichkeit gibt, zu unterschreiben. Bis wir allerdings basisdemokratisch abgesprochen hatten, dass man überhaupt darüber diskutieren könnte, auch mit Dr. Seifarth, war der abgesägt. Das war definitiv eine verpasste Chance. Ich könnte mich bis heute in den Arsch beißen dafür. 

Karl-Heinz Godolt, Polizist Es ist ja auch nicht so, dass alle Polizisten der Meinung sind, dass Haus­besetzer Verbrecher sind. In Kreuzberg war ich auch in Häusern drin, die waren instandbesetzt. Die haben sich bemüht, aus diesen Wohnungen was Vernünftiges zu machen. Dagegen hat doch keiner was. Ist ja auch ein Problem in Berlin: Es gibt kaum billigen Wohnraum.

Winfried Trübe, Polizist Aber wenn der Eigentümer sagt, das ist mein Haus und ich möchte wieder darüber verfügen, ist die Behörde verpflichtet, was zu machen. Sie darf ja keine strafbaren Handlungen dulden.

Andreas Winter, Besetzer Mit den Volkspolizisten im Viertel hatten wir ein großartiges Verhältnis. Einmal sprach mich einer an, der stellvertretende Leiter der Wache in der Wedekindstraße. „Wir haben Erkenntnisse“, sagte der, „dass am Wochenende 150 Hooligans Ihre Straße überfallen. Wir sind leider nur 17 Leute auf der Wache. Aber Sie können sich ja wehren. Sie sind ja aus dem Westen.“ Wir haben die Hooligans schön in die Straße reinlaufen lassen. Auf ein Zeichen fiel dann von den Balkonen alles runter, was runterfallen konnte. Dann gab es ein zweites Zeichen und aus zehn Häusern rannten je 20 Leute, mit Schlagstöcken, alle vermummt, und haben sie die ganze Straße runtergeprügelt. Da standen dann die 17 Vopos – sichtlich verunsichert.

DIE RÄUMUNG:
Soli-Demos, Wasserwerfer, Bagger, ­Barrikaden, Feuer, Gehwegplatten, SEK

Ein Großaufgebot der Polizei räumt die Mainzer Straße. Foto: imago images / Werner Schulze

Andreas Winter, Besetzer Wir haben die ersten Gerüchte von einer Räumung kurz vor der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 gehört. Als die West-Berliner Polizei wieder Zugriff bekam.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Für uns kam die Mainzer Straße erst zwei Tage vor der Räumung ins Gespräch.

Winfried Trübe, Polizist Richtig los ging es aber erst nach der Räumung eines Hauses in der Pfarrstraße in Lichtenberg am 12. November. Da haben wir gehört, dass in der Mainzer Gräben gebuddelt wurden. Dass die sofort mit dem Steine­schmeißen anfingen und dass man aufpassen ­musste.

Andreas Winter, Besetzer In der Tat wurde nach den Räumungen am 12. November spontan von der Mainzer Straße aus der Berufsverkehr auf der Frankfurter Allee lahmgelegt. Dann kamen die Polizeieinheiten der geräumten Häuser zurück und versuchten, die Barrikade in den Griff zu kriegen. Was ihnen nicht gelungen ist. Da hat sich eine furchtbare Eigendynamik entwickelt. Die Bullen kamen nicht zurande, sie hatten ja vorher drei harmlose Räumungen gehabt. Da waren die Besetzer, ohne sich zu wehren, mit ihrer Matratze vor die Tür gekommen und die Sache war erledigt. Ich habe das Gefühl, mit dieser Einstellung sind sie auch zur Mainzer gekommen. Stattdessen haben die richtig Zunder bekommen.

„In der Mainzer Straße brannten die Feuer sofort“, sagt der Polizist

Winfried Trübe, PolizistIm Grunde kannten wir das aus dem Westteil. Aber da haben sie immer ein bisschen gewartet mit den Steinen. In der Mainzer Straße brannten die Feuer sofort. Im ganzen Umkreis ist es eskaliert, überall.

Andreas Winter, Besetzer Um die Dynamik der Dreitageschlacht zu verstehen, muss man wissen, dass wir das ganze halbe Jahr davor von Nazi-Übergriffen trainiert worden waren. Wir hatten relativ schnell Wachen, rund um die Uhr besetzt, weil immer mal ein Nazi-Auto durch die Straße fuhr, manchmal nur mit 80 Sachen, um jemanden anzufahren, manchmal, um auf die Häuser zu schießen, mal mit Leuchtspur-, mal mit richtiger Munition. Wegen der Nazis hatten wir Nagelbretter hinter den Haustüren.
Und es war für uns Normalität, dass wir Steine aus dem Fenster werfen mussten. Es gab als Grundidee das Prinzip Hafenstraße (besetzte Häuser in Hamburg, Anm. d. Red.): Man baut eine richtig fette Barrikade, dann geht man zum Regierenden Bürgermeister und sagt: „Lass uns mal reden.“ Wir hatten ja breite Unterstützung von den Bürgerrechtlern und vom Bezirksbürgermeister, Helios Mendiburu. Der hat versucht, bei der Demo zu vermitteln – und sich auch ganz tapfer von den Wasserwerfern wegspülen lassen.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Das kann ich nicht bestätigen und nicht bestreiten. Aber das kann passieren.

Winfried Trübe, Polizist Der Wasserwerfer wird auch nicht eingesetzt von einer Sekunde zur anderen. Sondern es werden Androhungen gemacht. Wer dann da noch steht – das sehen die da oben in den Wasserwerfern nicht. Die fegen die Leute weg, dass sie hinfallen.

Andreas Winter, Besetzer Den Bagger haben uns Leute aus dem Kiez hingestellt. Da gab es sofort Leute, aus der Bevölkerung, nicht von uns, die gesagt haben: „Mache ich gern.“ Und die haben dann die Gräben gezogen. Nachdem die Polizei Montagnacht zunächst aufgegeben hatte und wir zur Ruhe kamen, aber niemand bereit war, mit uns zu reden und mit denjenigen, die als Vermittler auftraten, auch nicht, ist Stückchen für Stückchen die Erkenntnis durchgesickert, dass geräumt wird.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Am Dienstag, 13. November, haben wir gehört, dass Kräfte aus dem Bundesgebiet angefordert sind.

Andreas Winter, Besetzer Am Dienstag herrschte Totenstille. Der komplette Kiez war polizeifrei. Richtig gespenstisch. Am Mittwoch bekamen wir sehr früh einen Anruf von einem Taxifahrer, der an der Polizeiwache in der Wedekindstraße stand und sagte: Es geht jetzt los.

Ehemaliger Besetzer Andreas „Pinus“ Winter: „Wir hatten ja einen gelebten Traum zu verteidigen.“ Foto: Erik Heier

Karl-Heinz Godolt, Polizist Für uns hieß es einfach nur: Am 14. November ist sechs Uhr Dienstbeginn.

Winfried Trübe, Polizist Ich war bestimmt schon um fünf auf der Dienststelle. Und es war saukalt.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Wir sind dann geschlossen zu dem Einsatz gefahren.

Winfried Trübe, Polizist Getrennt fahren bringt nichts, denn auf einmal stehen dann welche dazwischen, dann kommen die hinteren nicht mehr hin.

„Jedes Haus hatte eine Barrikadenfalltür“, sagt der Besetzer: gegen Neonazis

Karl-Heinz Godolt, Polizist Wir standen dann Mainzer Ecke Boxhagener. Ich hatte nur einen etwas kleineren Wasserwerfer dabei. Der war vorgesehen zum Ablöschen von Einsatzfahrzeugen. Zur Not auch von Einsatzkräften. Wie die Hausbesetzer sich verteidigen würden, war uns nicht bekannt. Es hatte vorher keine gute Aufklärung gegeben. Aufklärung kann ich nur machen, wenn ich jemanden in der Szene drin habe. Und diese Szene war natürlich zutiefst misstrauisch.

Andreas Winter, Besetzer Jedes Haus hatte eine Barrikadenfalltür zwischen Erdgeschoss und erstem Stock. Wir hatten bei uns einen Zimmermann im Haus. Der hat eine amtliche Falltür gebastelt. Zum Schutz gegen Nazis. Wir waren ungefähr zu zehnt, um die einzuhängen, die wog eine Vierteltonne. Bei Naziangriffen war die öfter mal runtergegangen, wie eine Zugbrücke bei einer Burg. Dass die Bullen das unlustig fanden, verstehe ich.

Winfried Trübe, Polizist Es wusste keiner, was sich hinter den Türen abspielte. Irgendwann kam eine Meldung: „Vorsicht, nicht in die Häuser rein. Die haben Klappen, wenn ihr die Türen öffnet, kriegt ihr die vor den Kopf gehauen.“

Andreas Winter, Besetzer Es war blanker Überlebenskampf. Wir hatten ja einen gelebten Traum zu verteidigen. Wir alle haben da ein halbes Jahr lang dran geackert, auf allen Ebenen. An einem Projekt, in dem 200 Leute zusammenlebten. Es ging gar nicht bloß um die Häuser. Es ging wirklich um unser Leben.

Winfried Trübe, Polizist Wir sollten dann die Eindringkräfte an die Häuser führen, aber wir kamen mit unseren Fahrzeugen nicht über die Gräben. Also zu Fuß. Von oben flogen Steine, Gehwegplatten, halbe Schornsteinteile. Wir hatten die Schilde über den Köpfen. Hat nichts genutzt. Dann waren besondere Schilde angefertigt worden, aus Holz. Flog die erste Gehwegplatte drauf, zerbrachen die.

Dann musste schnell gehandelt werden, drei, vier Mann in die Hauseingänge, um einen reinzubringen. Das war hochgefährlich. Weil wir nun auch von der anderen Seite beworfen wurden. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass auf den Dächern große Glasballons standen, die sie mit Benzin befüllen wollten. Wenn sie die angesteckt hätten, dann wären wir da unten alle verbrannt.

Andreas Winter, Besetzer Eine harmlose, mit Apfelmost gefüllte Weingallone, die zur Gärung auf dem Dachboden stand. Es war aber eine völlig schwachsinnige Aktion von den Bullen, mit Pressspanplatten über den Köpfen da rein zu wollen. Dann flogen da fünf Mollis auf die Platten, die brannten, und dann brannten Bullen. Heute finde ich das unerträglich.

Die Räumung der Mainzer Straße löste auch ein politisches Erdbeben aus: Die Alternative Liste verließ die rot-grüne Koalition und beendete damit auch die Bürgermeister-Karriere von Walter Momper (SPD). Foto: imago images / Peter Homann

„Oh Scheiße, wir müssen ja rein“, sagt der Polizist

Winfried Trübe, Polizist Wenn das von oben so auf die Schilde kracht, denkst du schon: „Oh Scheiße. Wir müssen ja rein, damit sie von oben nicht mehr werfen können.“ Und als die ersten Halbschornsteine flogen, habe ich gedacht oha, wenn jetzt was fällt, gehen wir kaputt. Angst ist es nicht, aber man hat unheimlichen Respekt.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Wer Angst hat, ist in dem Beruf falsch.

Andreas Winter, Besetzer Es ist aber eine Grenze überschritten worden. Man hätte an dem Punkt sagen müssen: So, wenn die bereit sind zu sterben, dann heben wir unsere Hände. Und sagen: „Seht mal. Ihr verheizt gerade eure jungen Polizeibeamten.“

Karl-Heinz Godolt, Polizist Ich sag Ihnen ganz ehrlich: Mir war bei diesem Einsatz nicht wohl. Ich habe lange gedacht Das ist das erste Mal, dass wir uns blutige Köpfe holen und wieder abziehen müssen.

Winfried Trübe, Polizist Wie kommen wir hier heil raus?

Andreas Winter, Besetzer Ich möchte mich, und das sage ich, glaube ich, auch im Namen der Mainzer Straße, dafür entschuldigen, dass es fliegende Gehwegplatten gab und brennende ­Bullen.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Der ganze Einsatz ist nicht ganz so abgelaufen wie geplant. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass das SEK in die Häuser rein konnte, dort möglichst alle Räume befriedet und alle ruhig stellt. Was immer man da­runter versteht. Dann sollte die Kripo rein, Personalien aufnehmen, Festnahmezettel ausfüllen. Dann sollten sie uns zugeführt werden. Das hat alles nicht so geklappt.

Winfried Trübe, Polizist Das SEK kam auch nicht rein. Jetzt standen wir da, von oben flog alles Mögliche. Wie kommen wir jetzt in das Haus rein? Bis einer von den Kollegen in Zivil auf die glorreiche Idee kam, über das Baugerüst auf die Dächer zu steigen. Und in die Häuser einzudringen. Hinten waren die ja eingerüstet. Da war natürlich das Gegenüber überrascht. So konnten die auf den Dächern keine Steine mehr werfen oder Glas, was sie da alles hatten. Für die Polizei war das auch Glück.

Andreas Winter, Besetzer Wir waren darauf vorbereitet, dass irgendwann irgendeine Art von Räumung stattfindet. Dass das aber im Bürgerkrieg endet, haben wir uns nicht vorgestellt. Das haben wir so nicht gewollt. Es ist deshalb einiges von dem, was wir hätten tun können, nicht durchgeführt worden. Und das Waffenarsenal war umfangreicher als das, was geflogen ist.

Ehemalige Polizisten Winfried Trübe (l.), Karl-Heinz Godolt zur Räumung der Mainzer Straße: "Das war schon wie Häuserkampf." Foto: Erik Heier
Ehemalige Polizisten Karl-Heinz Godolt (l.), Winfried Trübe zur Räumung der Mainzer Straße: „Das war schon wie Häuserkampf.“ Foto: Erik Heier

Karl-Heinz Godolt, Polizist Was uns dann geholfen hat, war eine Wasserwerferstaffel aus Schleswig-Holstein. Der Typ, der die geführt hat, war ein Genie. Der hat mit einem Handfunkgerät drei Wasserwerfer dirigiert. Wir konnten dann mit den Wasserwerfern die Leute auf den Balkonen treffen. Wenn da einer geschmissen hat, hieß es: „Komm, gib dem mal ’nen Kurzen!“ Dann verschwanden die von den Balkonen. So konnten wir die Leute überhaupt über die Hindernisse bringen. Das war schon wie Häuserkampf. Wenn Warnschüsse gefallen sein sollten – unsere Einheit war daran nicht beteiligt. Aber es ist immer eine gefährliche Situation, wenn Polizisten in die Defensive geraten. Und wenn einer von den Kollegen nervenschwach ist, dann kann das passieren.

Andreas Winter, Besetzer Die Schüsse hat kaum jemand mitbekommen. Das war ein größeres Schlachtfeld. Und wir haben einen Dreifrontenkrieg geführt, an drei verschiedenen Barrikaden. Bei der einen Barrikade kam an: „Die Nummer eins wackelt.“ Dass da geschossen wird, dass da Bullen brennen, bekommt nicht jeder mit. Jeder war ja woanders.

Winfried Trübe, Polizist In der Situation gab es bei uns die ersten Verletzten, aber nicht viele, zum Glück.

„Wenn das SEK kommt, kannst du nicht mehr weglaufen“, sagt der Besetzer

Andreas Winter, Besetzer Als wir uns in die Häuser zurückgezogen hatten, kam das SEK rein, vor allem über die Dächer. Das war die große Lehre für alle weiteren Räumungen danach: „Du musst dich im Haus schützen.“ Wenn das SEK kommt, kannst du nicht mehr weglaufen. Du musst dann alles über dich ergehen lassen. Das sind Kampfmaschinen.

Winfried Trübe, Polizist Ja, es hieß im Nachhinein, dass das SEK die Leute etwas unsanft angefasst hat.

Andreas Winter, Besetzer Der Tuntentower war schlauer als wir. Die haben sich im Hof gesammelt. Draußen gab es Fotografen, weshalb deren Festnahme eine relativ friedliche Angelegenheit war. In den Wannen kam es dann allerdings wieder zu Übergriffen.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Die SEKs sollten eigentlich nur sicher stellen, dass die, die drin waren, ruhig blieben. Auch mit bedrohlichem Auftreten, zur Not auch „eine geben“. Ich weiß nicht, was das SEK mit denen alles gemacht hat, die waren jedenfalls nicht mehr in den Räumen, in die sie gehörten. Was leider die Strafverfolgung hinterher kaputt gemacht hat. Falls die SEKs sehr brutal gewesen sein sollten – ja, das ist manchmal so. Aber es gab eben diese Falltüren, die mit Nägeln gespickt waren und Stahltüren, die unter Strom gesetzt waren.

Winfried Trübe, Polizist Erst als die SEKs über die Dächer reingekommen waren, wussten wir, der Einsatz war erfolgreich.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Es war ein ganz schönes Durcheinander. Aber irgendwann konnten wir den Kräften auch das Mittagessen zukommen lassen. Das gehört auch dazu. Das ist ein großes Problem im Einsatz, die Versorgung.

Nach der Räumung werden viele Besetzer abgeführt. Es gibt zahlreiche Verletzte. Foto: Imago Images/Peter Homann
Nach der Räumung werden viele Besetzer abgeführt. Es gibt zahlreiche Verletzte. Foto: Imago Images/Peter Homann

DANACH:
Räumungsdepressionen, Korpsgeist, Rückkehr in die Mainzer Straße, Stille

Andreas Winter, Besetzer Das Ganze war ein ungeheures Trauma. Nicht nur für uns, auch für die Polizei.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Der Einsatz war schon brisant. Aber bei mir hat sich nie jemand gemeldet, der das schlecht verkraftet hätte. Man hat immer mal welche, die solche Einsätze nicht aushalten. Aber dass jemand davon einen psychischen Schaden davon getragen hätte: Nein.

Andreas Winter, Besetzer Ich habe in meinem persönlichen Leben nie wieder etwas Vergleichbares erlebt. Die ersten fünf Jahre haben wir überhaupt nicht darüber geredet. Nach 15 Jahren bin ich mit einem sehr guten Kumpel, der hatte damals in der Mainzer 7 gewohnt, durch die Stadt gefahren, und der kürzeste Weg ging durch die Mainzer Straße. Da ist der auf der Stelle ausgestiegen und hat sich bitter bei mir beschwert, was mir einfiele, durch die Mainzer Straße zu fahren.

Ich bin heute immer sehr empathisch mit Opfern von Flugzeugunglücken oder ähnlichen Ereignissen. Im November hat man sowieso seine Herbstdepression in Berlin. Bei uns kam dann noch eine zweite hinzu, die Mainzerräumungsdepression am 14. November. Das höre ich auch von Überlebenden von Katastrophen, dass sie an Jahrestagen erst mal zwei Wochen nicht arbeitsfähig sind. Als vor wenigen Wochen die Liebig34 in meinem Kiez geräumt wurde, kam auch bei mir alles wieder hoch.

Winfried Trübe, Polizist Diese Einsätze sind nicht ohne. Aber je härter sie sind, desto mehr sind die Kollegen füreinander da. Korpsgeist, heißt es immer so schön. Aber das war so, und es hat auch Spaß gemacht, mit solchen Leuten zusammenzuarbeiten.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Ich will das nicht bestreiten. Bei solchen Einsätzen gibt es immer den Einen oder Anderen, der zu viel zulangt. Es gibt sicherlich Leute, die auch Spaß daran haben. Aber es sind nicht viele. Die meisten fühlen sich in solchen Situationen nicht wohl. Wenn einer von meiner Einheit wirklich richtig übergriffig geworden wäre, dann hätte ich das geahndet.

„Ich habe nie einen der Besetzer aus der Mainzer Straße getroffen“, sagt der Polizist

Andreas Winter, Besetzer Es gibt unter uns heute nur ganz wenig Kontakt. Das liegt einmal daran, dass wir es verkackt haben. Schon als sich die Gewalt am ersten Tag aufgeschaukelt hat. Und daran, dass es erheblich traumatisierender war als eine normale Räumung. Aufgrund meiner persönlichen Lebensgeschichte habe ich das traumatisch einigermaßen gut aufgearbeitet. Ich bin da aber eher eine Ausnahme.

Am 1. Juli 2017 war ich zum ersten Mal wieder in einem der Häuser in der Mainzer Straße. Das war großartig. Ich hab meine Söhne angerufen. Die waren innerhalb von zwei Stunden da und haben mich abgefeiert.

Karl-Heinz Godolt, Polizist Ich habe nie einen der Besetzer aus der Mainzer Straße getroffen. Und jetzt, 30 Jahre danach, ist es ein bisschen spät.

Winfried Trübe, Polizist Die wollen ja wahrscheinlich auch nicht mit uns sprechen. „Ihr habt uns damals auf den Kopf gehauen“, oder wie auch immer. Da kann ich auch nicht sagen: „Ich persönlich war das gar nicht. Ich habe nur gemacht, was man mir gesagt hat.“ Wenn du zur Arbeit gehst und der Chef sagt: „Mach’ die Schraube hier rein“, musst du es auch machen.

Andreas Winter, Besetzer Es war, kurz gesagt, das beste halbe Jahr unseres Lebens. Stell dir vor, du triffst deine Traumfrau und beschließt, sie zu heiraten. Und drei Tage vor der Hochzeit wird sie vom LKW überfahren und ist tot. Etwas in dieser Größenordnung ist uns passiert.


Berlin besser verstehen

Der Mit-Autor der Geschichte um die Mainzer Straße, der Journalist und Buchautor Andreas Baum, hat selbst vor einigen Jahren mit „Wir waren die neue Zeit“ einen mitreißenden Roman über die Besetzungen des Jahres 1990 geschrieben, wie der andere Autor dieser Geschichte, Erik Heier, seinerzeit in seiner Bücherkolumne lobte.

Auf die Räumung der Mainzer Straße 1990 blicken wir in dieser Fotogalerie zurück. Wir erzählen euch noch mehr Stadtgeschichte in Bildern: besetzte Häuser in Berlin. In der Stadt wurde auch Kriminalgeschichte geschrieben. Diese 12 Verbrechen wühlten Berlin auf.

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