Kunst statt Kommerz auf denkmalgeschützten Litfaßsäulen. Das ist die Forderung von Michael Wismar, Kunsthistoriker und Künstler, der eine von den einst 2500 historischen Berliner Anschlagsäulen vor dem Friedhof retten konnte. Seitdem lässt er regelmäßig verschiedene Künstler:innen seine grüne Hohlsäule am Gesundbrunnenplatz bespielen, alles unter dem Konzeptnamen „Litfaß goes Urban Art“.
Kunst auf Litfaßsäulen: Der Straßenraum bietet mehr als Kommerz
Verhalten, aufrecht und aus grünem Fiberglas steht sie dort. Im ersten Moment erscheint sie nicht sehr standhaft, so ganz alleine auf dem Platz vor dem Gesundbrunnen-Center. Eher so, als würde sie jeden Augenblick vom Winde verweht werden können. Aber auf den zweiten Blick hat sie etwas Charakterstarkes. Dick eingewickelt mit urbanem Kunstgekleckse glänzt sie schon fast im Rampenlicht auf dem trostlosen, versiegelten Platz am Einkaufszentrum. Tauben picken wild um die majestätische Büchse herum, schenken ihr keine Beachtung. Ein Problem der Augenhöhe. Wer den Kopf aber hebt, erkennt dass der Straßenraum neben Reklame für die Konsumgesellschaft auch großartige Kunst zu bieten hat. Na gut, zumindest hier am Gesundbrunnen.
Platz für 63 A3-Blätter
1,80 Meter hoch und 3,27 Meter im Umfang misst die zylindrische Form der Projektionsfläche, auf der die Künstler:innen sich austoben können. 63 A3 Blätter oder alles bis 1,80 Meter in der Höhe und bis zur Maximalbreite von 90 Zentimetern Armlänge kommt in Frage. Es wird plakatiert, gepinselt, collagiert und was es sonst noch so für Techniken gibt.
Für wen Michael das alles macht? Für die Augen der Allgemeinheit, aber auch als Protestaktion. Seine Grundsatzhaltung: Denkmalgeschützte Litfaßsäulen sollten nicht für kommerzielle Werbung verpachtet werden, sondern an ein Bündnis aus Berliner Kulturschaffenden und lokalen Kulturinstitutionen übergeben werden. Sie seien historisches Kulturgut und Teil des gemeinsamen öffentlichen Raums.
Von Wall zu ILG zu 2500 nackten Säulen
Angefangen hat sein Projekt 2019 mit dem Außenwerbebetreiberwechsel von der Firma Wall, die damals die historischen Litfaßsäulen bespielt haben, zu der Firma ILG, die daraufhin alle alten Säulen demontiert und stattdessen 1500 neue, modern beleuchtete Klötze aufgestellt haben. Daraus folgte: eine Stadtausschreibung, unklare Antworten und 2500 nackte Säulen, die auf Nachfrage von Michael nicht mit Kunst bespielt werden durften. So kam es schließlich zu illegalen Kunst-Aktivitäten: „Ich habe mir zehn Litfaßsäulen herausgesucht, die alle relativ nah beieinanderstanden. Die wurden dann von zehn Künstler:innen an einem frühen, vernebelten Aprilmorgen individuell gestaltet. Da waren welche dabei, die haben gesprayed. Andere haben vorher auf das Plakatpapier gemalt, oder sind gleich mit ihrem Collagenmaterial auf die Säule. Am Ende des Tages hatten wir endlich einen Kunstsäulen-Parcours auf der Boxhagener Straße und in der Umgebung“, erzählt Michael.
Im Jahr 2021, bei einem seiner üblichen Fotografie-Spaziergänge, entdeckte er in Kreuzberg plötzlich die kleine Säule, wie er sie beschreibt. Noch bevor der Vorschlaghammer von oben kam, kümmerte er sich nach Anfrage selbst um die Demontierung und den Abtransport. Die ursprünglich verschnörkelte Rundhaube musste dabei unglücklicherweise Teile ihres Krönchen lassen. So kam es, dass Michael von einem Tag auf den anderen zum Litfaßsäulen-Besitzer wurde. „Noch trägt sie keinen Namen, aber ich bin offen für Namensvorschläge. Das würde ich sogar sehr begrüßen, ehrlich gesagt. Also wenn es Leser:innenbriefe gibt – sie braucht noch einen Namen”, sagt er.
Die eigene Säule ist für Michael Wismar ein Standbein
Ein Name wäre schon mal eine gute Basis. Aber da man ja mehrere Säulen im Leben als Basis braucht, ist es ziemlich zutreffend, dass dieses “Fiberglasding”, auch als glasfaserverstärkter Kunststoff bekannt, jetzt wiederum ein Standbein in Michaels Leben darstellt, um kreative Ideen zu verwirklichen. In seiner Litfaßkarrierre hat er seit 2019 mit rund 50 verschiedenen Künstler:innen zusammengearbeitet, von nächtlichen Guerilla-Aktionen bis zu den aktuellen Konzepten. „Ich habe ein Archiv, wo ich die Sachen abspeichere, aber ich habe das nie so direkt gezählt”, sagt er. Seine Auswahl, wer und in was die Säule verwandelt werden darf, macht er intuitiv. Seine Reichweite als Kollektivmitglied im Supalife-Kiosk am Helmholtzplatz und seine generelle Vernetzung in der Street-Art-Community beschafft ihm oftmals ganz von allein neue Interessenten.
Perfektionismus bitte nur in Maßen
Genauso wie das Projekt selbst zieht auch die zylindrische Form die Artists an. Eine Herausforderung scheint es allemal zu sein, auf der Rundsäule Kunst zu schaffen. Beispielsweise für den Maler “The Krank”, der hier seine Action und Herausforderung gesucht und laut Michael auch gefunden hat. „Ich mag seine Malerei sehr gerne. Alles sehr abstrakt. Großer, breiter Pinsel. Schwarze Farbe, viel Gekleckse. Ein bisschen wie Pollocks Actionpainting“, sagt er.
“Es ist halt auch immer noch die Straße, ne. Das ist rough.”
Michael Wismar
Abgesehen von der Form gibt es noch weitere Challenges, die das perfekte Endbild zum Einstürzen bringen könnten. Das Mischverhältnis vom Kleister, keine wasserfeste Farbe, die sich dann als Schmiere über das komplette Kunstwerk zieht oder klassischerweise einfach die falsche Formatgröße. Perfektionismus ist hier wortwörtliche nur in Maßen angebracht. „Man muss sich davon verabschieden, dass das auf einer Leinwand, irgendwo im Atelierraum, fein, säuberlich geschieht. Es ist halt auch immer noch die Straße, ne. Das ist rough”, meint er.
Eine Allrounder-Säule, die für vieles steht
Die allerersten Künstlerinnen auf der grünen Litfaßsäule am Gesundbrunnen waren die sieben ukrainischen Künstlerinnen von dem Projekt “Ukraine Blaze”, die die Rundsäule im Jahr 2022 mit ihren Statements zur russischen Invasion bekleidet haben. Ob die Säule also auch politisch sei? Michael erzählt: „Die Säule steht für vieles. Sie kann politisch sein. Aber auch Experimentierfläche: ästhetisch, grafisch, verspielt, kritisch oder einfach nur naiv. Alles, bloß nicht kommerziell!“ Eine Allrounder-Säule also. Wie auch anders, wenn es nur eine von ihrer Art gibt?
Hinter der Säule stehen vereinzelte Menschen, die das Litfaß-Projekt gutheißen und unterstützen. Neben den Künstler:innen selbst gibt es beispielsweise noch die Befürworterin Marina Naproshkina. Die Belarusin und in Berlin lebende Aktivistin, Künstlerin und UdK-Professorin, hat sich um die Standortgenehmigung am Bahnhofsvorplatz gekümmert. „Sie hat mir die Genehmigung finanziert und nochmal zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt, um die Künstler:innen und mich selbst mit weiteren Projekten zu unterstützen. Also wirklich eine tolle Frau, deswegen erwähne ich sie auch immer wieder, denn die gehört einfach zum Projekt mit dazu”, sagt Michael.
Auch der ehemalige Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer mochte die Idee, die 24 übrig gebliebenen Säulen in andere Hände zu geben. Beispielsweise an verschiedenste Kulturinstitutionen, die jeweils eine Patenschaft für eine der denkmalgeschützten Litfaßsäulen übernehmen. Damit es endlich heißt: Schluss mit Werbung und Profit. „Er hat mein Projekt mit einem Empfehlungsschreiben gestärkt, fand die Idee gut. Doch die Verantwortlichen ließen sich bisher nicht davon beeindrucken. Die denkmalgeschützten Litfaßsäulen werden weiterhin für das genutzt, wofür sie auch ursprünglich aufgestellt worden sind. Dass es hier um viel mehr gehen könnte, will man scheinbar nicht zulassen.“
Die Ur-ur Enkelin von Ernst Litfaß, Klaus Lederer, Christoph Tannert und Marina Naprushkina
Sogar die Ururenkelin von Ernst Litfaß, dem Erfinder der alten Werbesäulen, ist begeistert vom Projekt. Im Zusammenhang mit den Säulen steht sie allerdings nicht mehr, trägt lediglich noch den Nachnamen. Und Christoph Tannert, der die künstlerische Leitung im Künstlerhaus Bethanien betreibt, ist genauso im „Litfaß goes Urban Art“-Fanclub. Damit sind schon mal wichtige Akteur:innen zusammengekommen, um dem ganzen mehr Schwung zu verleihen.
Tag des offenen Denkmal am Kollwitzplatz
Wie sich aber die Zukunft der 24 noch verbliebenen historischen Denkmäler genau gestaltet, und wie unser öffentlicher Raum generell genutzt und von Konsumzwang zurückerobert wird und kann, bleibt weiterhin mit viel Diskussionspotenzial verbunden. Darüber wird Michael gemeinsam mit der Soziologin Séverine Marguin von der TU Berlin und der SPD-Bundestagsabgeordneten Helge Lindh am 16. Juli im Bum in Kreuzberg debattieren.
Dass Michael also weiterhin alle Schrauben dreht, die zu drehen sind, um zu zeigen, dass Kunst auf denkmalgeschützten Litfaßsäulen besser kommt als Werbung, steht außer Frage.
Wie auch schon im vergangenen Jahr wird er zum Tag des offenen Denkmals am 8. und 9. September die zwei Säulen am Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg bespielen. Bis dahin gibt’s aber erstmal regelmäßig vielschichtige Kunst auf der grünen Säule am Gesundbrunnen.
- Litfaß goes Urban Art Mehr dazu findet ihr auf der Website
- Denkart Podiumsdiskussion im Bum, Paul-Lincke-Ufer 21, Kreuzberg, 16.7., 19-21 Uhr
Mehr dazu
Von den Anfängen bis zur Gegenwart: Die Geschichte der Berliner Litfaßsäule in Bildern. Wie damals die Multimedia-Künstlerin Tina Zimmermann die Rundsäulen 2019 zu Grabe getragen hat, erfahrt ihr hier. Ernst Litfaß hat übrigens auch etwas mit den historischen Café-Achteck-Urinalen zu tun – mehr zu den verschörkelsten Toiletten der Stadt lest ihr hier. Auch jenseits von Litfaßsäulen gibt es viel Kunst in Berlin zu sehen: Hier sind die Tipps für aktuelle Ausstellungen.