50 Jahre tipBerlin-Magazin: Am 9. Januar 1972 erschien die erste Ausgabe von Deutschlands ältestem noch existierenden Stadtmagazin. Geburtstag! Kuchen! Kerzen! So schnell vergeht die Zeit. Und wir haben ja noch viel vor – gemeinsam mit euch.
Klaus Stemmler, Gründer und 25 Jahre lang Herausgeber und Verleger des tipBerlin, blickte für uns zum 30. Geburtstag des Magazins auf die Anfänge zurück. Bevor wir im Sommer unseren 50. Geburtstag mit euch feiern, lest ihr hier zur Einstimmung auf das Jubiläumsjahr noch einmal Klaus Stemmlers Text aus dem tipBerlin 13/02: Mit sechs Seiten fing alles an.
tip-Gründer Klaus Stemmler lockten die Möglichkeiten nach Berlin
„In Baden gab es schon Kultur, als in Preußen die Wildschweine ihre Ärsche noch an den Bäumen wetzten.“ Trotz dieser patriotischen Einschätzung meines Deutschlehrers entschloss ich mich, Mitte der sechziger Jahre aus der badischen Provinz auszubrechen, um mir in Berlin (West) selbst ein Urteil zu bilden. (So sah übrigens Kreuzberg damals aus). Drei Gründe gaben den Ausschlag. Ein Studienplatz an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste bei Professor Helmut Lortz, das große Kino- und Filmangebot und nicht zuletzt, ein bundeswehrfreier Ort.
Außerdem: Die politische Insel kannte keine Sperrstunde, Kommunikation pur – jederzeit, nicht nur in den zahllosen Kneipen. Die Studentenbewegung stellte Etabliertes in Frage, schaffte Solidarität. Wohngemeinschaften entstanden, auch neue Programmkinos, die sich programmatisch Off-Ku’damm-Kinos nannten. Darunter der Notausgang in Schöneberg, den ich 1971 mit einem Freund gründete.
50 Jahre tipBerlin: Sechs Seiten zum Erfolg
Berlin wurde zur Hochburg für Filmfreunde. Vergessene Filmschätze wurden ausgegraben, Experimentelles, nicht nur aus Deutschland, kam auf die Leinwand. Nichts davon spiegelte sich in der von Springer dominierten Presse wider. Programminformation: Fehlanzeige. Das war die Geburtsstunde des TIP. Auf sechs Seiten brachte ich das Programm der wichtigsten Off-Kinos unter, wählte aus dem TV wichtige Filme aus und verteilte die ersten 1000 Exemplare in Kneipen, Unis und den Kinos. Vom Schwarzen Brett an der Uni stammten die ersten Kleinanzeigen, in der bis heute bestehenden Rubrik minitips. Keine einzige war getürkt. Unter Lonely Hearts konnte man bald Chiffre-Anzeigen aufgeben, die Gleichgesinnte erreichten. Die Berliner Toleranz sollte sich auch in meinem Blatt widerspiegeln. Die ersten Schwulen- und Lesbenannoncen erschienen (und das war auch gut so), tip-intern damals heftig umstritten.
Ein Drittel redaktionelle Beiträge, ein Drittel Programm-Kalender und ein Drittel Kleinanzeigen, die Leser honorierten das Konzept. Die Auflage verdoppelte sich jährlich. 1976 druckten wir schon 26.000 Exemplare, waren stolz auf 72 Seiten und auf über 500 minitips. Wer konnte ahnen, dass die Seitenzahl auf durchschnittlich 260 Seiten anwachsen würde bei einer Auflage von 100.000 Exemplaren.
„Unverzichtbar für alle Kinofreunde“, schrieb der „Wiener“
Dass ich dem Film stets Priorität einräumte, brachte uns bald den Ruf einer kompetenten Filmzeitung ein. Praktizierte Meinungsfreiheit motivierte wichtige Filmjournalisten, bei uns ungefiltert ihre Meinung zu schreiben. Diese Kompetenz in Sachen Film beeindruckte selbst ,,Variety“ (die Mutter aller Filmzeitschriften), und der „Wiener“ schmeichelte: ,„Unverzichtbar vor allem für Kinofreunde: Stemmlers TIP“. Andere machten es sich leichter, sie übernahmen einfach ganze Passagen aus unseren Artikeln. Auch die Off-Kinos profitierten von unserer „Filmlastigkeit“. Sie richteten die Laufzeiten ihrer Filme nach dem TIP-Erscheinen aus.
Filmkritiker und tip-Autor Dr. Wolf Donner, brachte als Festspielleiter der Berlinale (hier ein aktueller Rückblick auf die Berlinale 2021) frischen Wind in das angestaubte Festival. Er bat uns, kinoverrückt wie wir waren, als offizielles Bulletin täglich den Berlinale-TIP herzustellen. Nicht als Hofberichterstatter, sondern kritisch und kontrovers – eine Herausforderung, nicht nur für uns.
Schnell stand der TIP auf wirtschaftlich gesunden Beinen. Eine Infratest-Leserumfrage stellte fest: jeder zweite Berliner zwischen 14 und 29 Jahren liest den TIP. Unser Erfolg war auch für Inserenten messbar. Im TIP waren Anzeigen nie nur lästige Werbung, sondern von vielen als zusätzliche Informationsquelle akzeptiert.
Autoren, die etwas zu sagen hatten
Wünsche konnten wir uns erfüllen: Der Literatur-TIP, von Literat Jörg Fauser (,,Der Schneemann“) zum Leben erweckt, gehörte dazu, das TIP-Filmjahrbuch, das jährlich erschien, und die wöchentliche TIP-TV-Sendung – beim ORB. Unsere Redaktion konnte verstärkt werden. Bereiche wie Literatur und Musik wurden erweitert. Autoren, die etwas zu sagen hatten, nutzten den TIP als Forum, auch Olaf Leitner seit 27 Jahren regelmäßig mit seiner Kolumne.
Der TIP, inzwischen Deutschlands größtes Stadtmagazin, strahlte über Berlins Grenzen hinweg und wurde dadurch auch für viele Redakteure zum Sprungbrett. Andere (Groß-)Verlage profitierten davon, auch Filmverleihe und Sendeanstalten. Die, die blieben, hatten einen sicheren Arbeitsplatz und haben ihn noch heute. Schön zu sehen, dass auch nach 30 Jahren das Grundkonzept besteht und weiterentwickelt wird. Von der ersten Stunde an fand ich viele engagierte Mitstreiter, die mir halfen, meine Visionen zu verwirklichen. Mein Dank und meine Glückwünsche gehen deshalb an das gesamte Team. Mögen noch viele Jubiläen Anlässe zum Feiern geben.
- Dieser Text erschien zum 30. Geburtstag des tip im Sonderseitenteil des tipBerlin 13/02 – also auch nicht zum eigentlichen Geburtstag im Januar, weil auch seinerzeit die Party erst im Sommer stattfand. Wie dieses Jahr wieder.
- Wir haben die damalige Schreibweise „TIP“ hier in der Ursprungsversion des Textes belassen.
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