Holger Bergmann vom antifaschistischen Kunst-Bündnis „Die Vielen“ über die Forderung, das Kriegsende zu würdigen und den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum dauerhaften und bundesweiten Feiertag zu machen, und die Stream-Aktionstage des Bündnisses am 8. und 9 Mai.
tipBerlin Weshalb fordern „Die Vielen“ in einer Petition, den 8. Mai dauerhaft und bundesweit zum Feiertag zu machen?
Holger Bergmann „Die Vielen“ meinen, es ist Zeit zu zeigen, dass die Bewohner*innen der Bundesrepublik bereit sind, eine Erinnerungskultur aus vielfältigen Perspektiven zu schaffen, um am 8. Mai gemeinsam die Befreiung zu feiern. Deshalb haben wir die Forderung der KZ-Überlebenden Esther Bejarano nach einem bundesweiten Feiertag unterstützt und bislang gemeinsam mit dem VVN (Bund der Vereinigten Verfolgten des Naziregimes, Anm. d. Red.) rund 95.000 Unterschriften für die Petition gesammelt.
Bietet doch gerade dieser Tag die Gelegenheit, „über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken“ , wie Esther Bejarano schreibt: „Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit. Damit Auschwitz nie wieder sei – und dieses Land sich ändert!“
„Wir feiern den Sieg der sowjetisch-jüdischen Soldatin und der amerikanischen schwarzen Soldaten über Nazi-Deutschland“
tipBerlin Jan Philipp Reemtsma konstatiert, die meisten Deutschen hätten 1945 das Kriegsende als vernichtende Niederlage empfunden und angesichts der begangenen Verbrechen Angst vor der Zukunft gehabt. Weshalb feiern Sie den „Tag der Befreiung“?
Holger Bergmann Hans Rosenthal, der zu Lebzeiten sehr bekannte Berliner Quiz-Moderator, hat als Jude das NS-Regime überlebt. Er erinnert sich in seiner Biographie daran, wie er nachts, während bei Bombenangriffen der Alliierten die Sirenen in Berlin heulten, aus seinem Versteck, einer Gartenlaube, kam und sich auf das Gras legte: „Da war das Leben fast schön.“ Natürlich wollen wir feiern, dass Nazi-Deutschland im Mai 1945 besiegt wurde, es ist der zentrale Tag in der Historie dieses Landes. Aber natürlich auch ein Tag, an dem Deutschland den von Deutschen im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen sehr nahe ist.
Angesichts der besiegten Nation gab es kein Verstecken und keine Gesetze mehr, die das Morden, aufgebaut auf Lügen des Nationalsozialismus, weiter rechtfertigten. Es ist zu feiern, dass Hitler-Deutschland, der Nationalsozialismus, die Großeltern in der Wehrmacht, die Nachbarn, die die jüdischen Wohnungen geplündert haben, die Denunzianten und diejenige, die stillschweigend oder laut jubelnd vom Unrecht profitiert haben, dass all diejenigen nicht gesiegt haben.
tipBerlin Der Historiker Götz Aly weist seit Jahren darauf hin, dass die Soldaten der Roten Armee den Nationalsozialismus unter hohen Opfer besiegt hätten. Müssen wir uns am 8. Mai bei der früheren Roten Armee der früheren Sowjetunion bedanken?
Holger Bergmann Die alliierten Streitkräfte haben gemeinsam erst die Perspektive für eine demokratische Gesellschaft gelegt. Sie haben nicht überall Freiheit gebracht. Wir wissen alle, wer der Oberkommandierende der Roten Armee war und welches unmenschliche Herrschaftssystem sich mit Josef Stalin verbindet. Es gilt den Menschen zu danken, die als Befreier kamen für die jüdische Bevölkerung und die Überlebenden in den Vernichtungslagern: Juden, Homosexuelle, Kommunisten, Sinti und Roma, NS-Gegner, Christen, Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen.
Keine Frage, wir müssen der Roten Armee und den anderen Alliierten dankbar dafür sein
Keine Frage, wir müssen der früheren Roten Armee und den anderen Alliierten dankbar dafür sein, dass sie Deutschland am Weitermorden gehindert und das größte Verbrechen der Menschheit, die Shoah, beendet haben.
tipBerlin Nach einer aktuellen Umfrage teilen 53 Prozent der befragten Bundesbürger die Aussage, es sei Zeit, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationsozialismus zu ziehen“, unter AfD-Wählern sind es 80 Prozent der Befragten. Weshalb teilen Sie diese Aussage nicht?
Holger Bergmann Alle, die von Schlussstrich sprechen, meinen häufig eine Kontinuität von Teilen des Unrechts. Der Nationalismus führt zu einer begrenzten Perspektive auf die Bevölkerung eines Landes und unterstützt die Ausgrenzung von Menschen. Er ist Wegbereiter für Antisemitismus, Rassismus und Gewalt. Es gibt längst einen Schluss des Nationalsozialismus. Das war der Sieg, der Sieg der sowjetisch-jüdischen Soldatin oder der amerikanischen schwarzen Soldaten über Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945. Daran gilt es zu erinnern.
tipBerlin Wie wollen Sie den Tag der Befreiung feiern?
Holger Bergmann Bereits am 7. Mai um 16 Uhr werden „Die Vielen“ rund 95.000 Unterschrift für eine gesetzlichen Feiertag am 8. Mai an den Bundestag übergeben. In einem Glänzenden Stream werden am 8. und 9. Mai die länderübergreifenden Aktionen gebündelt und online zugänglich gemacht. Am 8. Mai von 18 bis 24 Uhr zeigt der Live-Stream Aktionen und Beiträge der über 4.400 Unterzeichner der Erklärungen der Vielen in Deutschland und Österreich. In diesem digitalen Möglichkeitsraum werden große und kleine Projekte Platz finden und vielfältige Stimmen zu Wort kommen. Anlässlich des Europatags haben die Musiker*innen Bernadette La Hengst und Barbara Morgenstern die „Ode an die Freude“ umgeschrieben und eine alternative Europahymne der Vielen verfasst, die zu einem offenen und solidarischen Europa aufruft.
Und 2021 sind wir dann wieder europaweit auf den Straßen
Am 9. Mai ab 12.30 Uhr werden Unterzeichner*innen die über 34 regionalen Erklärungen der Vielen gemeinsam verlesen und Chöre und Musiker*innen in ganz Deutschland anschließend die alternative Europahymne Zuhause von ihren Fenstern und Balkonen singen, diese streamen und über die Sozialen-Medien verbreiten. Und 2021 sind wir dann wieder europaweit auf den Straßen und feiern den Tag der Befreiung und den Europatag, auf das der Rechtsextremismus nie wieder regiert und für ein Europa der Vielen.
Mehr Informationen zu dem Bündnis „Die Vielen“ finden sich auf der Webseite des Kunst-Bündnisses.
75 Jahre Kriegsende
Regisseur Volker Heise über seinen Film „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“. Mehr zum Film und Kriegsende: 12 Filme, die man jetzt sehen sollte. Julia Franke hat die Ausstellung „Von Casablanca nach Karlshorst“ kuratiert, wir haben mit der Berliner Kulturwissenschaftlerin darüber gesprochen. Spaziergang vom Wannsee zum Neuen Garten: Spuren von Krieg und Totalitarismus. Treptower Park: Idyllisch am Spreeufer, nachdenklich am Sowjetischen Ehrenmal. An diesen wichtigen Orten in Berlin und Brandenburg wurde Geschichte des Zweiten Weltkriegs geschrieben.
Die Kulturprojekte Berlin haben ein umfangreiches Programm zum Thema „75 Jahre Kriegsende“ vorbereitet. Informationen dazu findet man hier.