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8. Mai 1945/2020

75 Jahre Kriegsende: Regisseur Volker Heise über seinen Film „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“

Der für seine Dokus wie „24h Berlin“ bekannte Regisseur Volker Heise hat mit „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ nun eine Fernseh-Dokumentation zum Kriegsende gemacht. Darin verwebt er historische Tagebücher, Briefe, Filme und Fotos zu einem beeindruckenden Panorama aus Augenzeugenberichten. Wir haben mit Volker Heise über das Kriegsende, Archive und Flüchtlingskrisen heute und damals gesprochen.

Der Berliner Regisseur Volker Heise hat den Dokumentarfilm „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ für den RBB produziert. Foto: rbb/Annette Hauschild /Ostkreuz

Volker Heise, geboren 1961 in Hoya, kam zum Politik-Studium nach Berlin. Er arbeitete zunächst als Radio-Journalist, dann entwickelte er Doku-Formate fürs Fernsehen. Seine erste Regiearbeit „Schwarzwaldhaus 1902“ machte ihn schlagartig bekannt. 2009 realisierte er „24h Berlin, später „24h Jerusalem“ und er fungierte als Berater bei „24 h Europe“.

tipBerlin Herr Heise, Sie beginnen in der Silvesternacht 1944. Es ging also von Anfang an um das ganze Jahr 1945, nicht nur um die Zeit nach der Befreiung?

Volker Heise Das gehört zum Jahr dazu. Wir wollten auch noch mitnehmen, wie die meisten Berliner am Anfang noch gedacht haben. Viele meinte ja sehr lange, der Krieg wird nicht verloren, und haben sich auf der sicheren Seite gesehen. Ich hatte auch ein wenig die Nase voll von Filmen wie „Der Untergang“, die eigentlich immer nur von Hitler im Bunker erzählen und von den Ruinen, aber nicht auch mal Dahlem oder Köpenick in den Blick nehmen. Bei uns kommen Hitler und Goebbels auch vor, aber das ist nicht das Wesentliche.

Berlin war nie so international wie zum Kriegsende im Mai 1945

tipBerlin Eine der Protagonist*innen, Brigitte Eicke, damals 18, ist der heimliche „Star“ Ihres Films. Wo fanden Sie ihre Aufzeichnungen?

Volker Heise Die sind als Buch erschienen („Backfisch im Bombenkrieg“, Matthes & Seitz). Sie hat das Tagebuch nur geschrieben, um Steno zu lernen, später auch Schreibmaschine. Dadurch haben ihre Aufzeichnungen etwas sehr Direktes.

75 Jahre Kriegsende: Flüchtlinge an der Siegessäule im Tiergarten im Mai 1945
„Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ von Volker Heise – Flüchtlinge an der Siegessäule im Tiergarten. Foto: rbb/robert capa/international center of photography/Magnum Photos/Agentur Focus

tipBerlin „Berlin 1945“ ist eine auffällig vielsprachige Erzählung. Sie zitieren Menschen aus aller Welt, die damals in der Stadt waren.

Volker Heise Berlin war nie so international wie im Mai 1945, als die ganzen Zwangsarbeiter noch da sind. Manche wollen auch nicht zurück in die Sowjetunion, laufen dann Richtung Westen, werden aber zurückgeschickt. Es gab kein europäisches Land, außer vielleicht Spanien, aus dem keine Zwangsarbeiter in Berlin waren. Dazu kommen die Soldaten, bei den Engländern und Franzosen sind ja Soldaten aus den damaligen Kolonien dabei. Die ganze Welt war damals in Berlin. 

75 Jahre Kriegsende: Straßenverkehr an einer Kreuzung in Berlin-Schöneberg im Mai 1945
Straßenverkehr an einer Kreuzung in Schöneberg, Foto: rbb/bpk/Hanns Hubmann

tipBerlin Der Film erwähnt ein erschütterndes Detail: Am Schlesischen Bahnhof kommt eine Lore mit Kindern an, die unterwegs erfroren sind. Das erinnert an die schlimmsten Bilder aus den jüngeren „Flüchtlingskrisen“.

Volker Heise Die große Flüchtlingswelle kommt so September, Oktober 1945 auf Berlin zu. Die meisten können nur ein, zwei Tage bleiben und werden sofort weitergeschickt. Die sowjetische Armee konnte diese Menschen auch nicht mehr ernähren, die hatten selber Hunger. Das war eine Extremsituation, mit der die Alliierten nicht gerechnet hatten. Wir haben unser Büro in der Lehrter Straße übrigens in einem Gebäude, das damals eine Flüchtlingsunterkunft war. Da haben sie die Toten reihenweise rausgetragen.

tipBerlin Wo fanden Sie die Bilder?

Volker Heise Die Archivsituation ist mal mehr, mal weniger gut. Das Bildmaterial ist in der Regel Propagandamaterial, und zwar von allen Seiten: Deutschland, Sowjetunion, USA, England, Frankreich. Das war uns auch klar. Da haben wir gleich zum Anfang mal den Ton weg­gezogen, damit man überhaupt einen neuen Zugang zu den Bildern kriegt. Wir mussten diese Filme zerlegen und neu zusammensetzen und dann mit den Tagebüchern zusammenbringen, sodass ein drittes Bild entsteht.

Berlin hat nach dem 8. Mai kaum noch eine Rolle gespielt

Aus deutscher Perspektive wurde in Berlin nur bis März, April aufgenommen. Danach wurde von Russen viel in Berlin gedreht. Und dann kam der amerikanische, französische und englische Blick dazu. Insgesamt ist die Materialdecke dünn. Auch bei Fotos. Die Engländer und Amerikaner waren dann schnell im Pazifik, Berlin hat nach dem 8. Mai kaum noch eine Rolle gespielt. Wir haben aber Archive in allen alliierten Ländern konsultiert. Damit haben wir dann schon viel abdecken können. Dazu kam deutsches Privatmaterial.

tipBerlin Es gibt also wenigstens zum Teil auch Aufnahmen von Zeitzeugen? Wo findet man sie?

Volker Heise Bei Privatleuten, die in der Szene bekannt sind, und auch bei Sammlern. Die haben 8mm- und 16mm-Filme aus der Zeit. Mal hat man Glück, und es passt zu dem, was man erzählen will. Öfter passt es nicht. Das Zusammenspiel von Text und Bild war eine ziemliche Fummelei. Wir haben immer mit dem Text angefangen, ich habe tagelang sortiert, um aus dem Berg an Material eine Geschichte zu finden. Meistens haben mich die Kollegen vom Schnitt dann mit ihrer Umsetzung überrascht.

tipBerlin Sie haben sicher auch das heutige Berlin durch dieses Projekt neu sehen gelernt. Gibt es einen Ort, an dem das besonders anschaulich wird für Sie?

Volker Heise Hallesches Tor. Wir haben eine Sequenz, wo da ein russischer Panzer steht und ein Soldat rausgeholt wird. Das ist ein Ort, da bin ich jeden Tag, Hallesches Tor und Yorckstraße. Und dann sieht man das so kaputt und zerstört. Wenn ich während des Schnitts durch die Stadt ging, sah ich sie plötzlich fast wie eine Kulisse und hat ein großes Gefühl von Vergänglichkeit. Das ist jetzt pathetisch, aber ich musste manchmal richtiggehend aufs Land flüchten. Man hängt ja auch an dieser Stadt, und wenn man sieht, was sie sich einmal selbst zugefügt hat, welche Selbstzerstörung hier gewaltet hat, das nimmt einen schon mit.

Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt Fr 8.5., 20.30 Uhr im rbb, 5.5.–2.8., Arte-Mediathek


75 Jahre Kriegsende

Julia Franke hat die Ausstellung „Von Casablanca nach Karlshorst“ kuratiert, wir haben mit der Berliner Kulturwissenschaftlerin darüber gesprochen. Spaziergang vom Wannsee zum Neuen Garten: Spuren von Krieg und Totalitarismus. Treptower Park: Idyllisch am Spreeufer, nachdenklich am Sowjetischen Ehrenmal. An diesen wichtigen Orten in Berlin und Brandenburg wurde Geschichte des Zweiten Weltkriegs geschrieben.

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