Der ahorn Space am Hermannplatz in Neukölln versucht, neue Wege im Umgang mit dem Tod aufzuzeigen. Charlotte Wiedemann weiß: Das Angebot, das sie unterbreitet, mag ungewöhnlich sein und Mut erfordern. Doch es lohne sich. Für alle.
Neu, direkt am Hermannplatz: der ahorn Space
Da ist etwas, neuerdings, am Hermannplatz, das zum Stehenbleiben zwingt. Das Passanten nicht unbemerkt an sich vorbeiziehen lässt: ein seltsamer Eingang, zwischen Mobilfunkanbieter und Shisha-Store, verputzt in kleinen, schwarzen Fliesen, die Lettern des früher ansässigen Geschäfts herausgerissen. Anstelle klarer Durchsicht ist ins Schaufenster ein Statement geprägt: „Wann der Tod in dein Leben kommt, kannst du kaum beeinflussen. Wie du mit ihm umgehen willst, dagegen schon.” Worum geht’s hier? Das zu erklären – dafür steht Charlotte Wiedemann bereit, Verantwortliche des ahorn Space, dessen Tür sich da öffnet.
ahorn Space, das verweist auf die bekannte Bestattungsgruppe “Ahorn”. Dass man hier in ein herkömmliches Bestattungshaus tritt, wird aber sehr schnell ausgeräumt werden. Charlotte Wiedemann bringt ihren Anspruch auf einen Punkt: „Das hier ist ein Kreativraum.“ Dieser mutet hell an, aufgeräumt und schick, so, wie man Co-Working-Spaces kennt.
Das Handwerk einer „Death Doula“
Wiedemann ist “Death Doula”, Sterbeamme. Death Doulas verstehen sich als Begleiter, Kraftspender und Wegweiser für Menschen, die den eigenen Tod (oder den geliebter Menschen) vorbereiten möchten, oder für jene, deren Ableben unmittelbar bevorsteht. Die entsprechende Praxis kann in einschlägigen US-amerikanischen Vereinen erlernt werden. Wiedemann bezeichnet die Lektionen dort als „holistisch, philosophisch – aber auch mit medizinischen und juristischen Elementen“. Ausbildungen in Deutschland seien pragmatischer und beschränkten sich oft auf ehrenamtliches Engagement während des akuten Sterbeprozesses.
Der Service einer Death Doula bedeutet: Vertrauen schaffen und individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Das sieht, je nach Person, sehr unterschiedlich aus. Es kann bedeuten, Menschen Gesprächspartnerin in emotionalen oder auch spirituellen Fragen zu sein, zu erarbeiten, was mit ihren digitalen Spuren, Konten, Accounts einmal geschehen soll, umfasst aber auch die Vermittlung zu Künstler:innen, die Begräbniszeremonien entwickeln, Musiker:innen oder Florist:innen. All das gerne lange vor Sterbeprozessen – so seien Zuversicht und ein sensibler Umgang mit dem Tod möglich.
Begegnungen mit Tod und Endlichkeit als Bewusstseinserweiterung
Es lohnt sich, genau diesen Gedanken noch einmal zu vergegenwärtigen, denn mit ihm trifft man ins Herz des noch jungen Angebots am Hermannplatz. Charlotte Wiedemann glaubt: In den offenen Zeiten, diesseits des akut-nahenden oder gar eingetretenen Todes, liegt vergessenes Potential. „Natürlich vermitteln wir auch Sterbebegleitung. Doch vor allem geht es uns um Bewusstseinserweiterung; um die Menschen, die sich gerade auf den Tod einlassen müssen oder wollen.”
Um zu demonstrieren, wie das aussehen kann, führt Wiedemann ins Untergeschoss des ahorn Space, ins Zwielicht eines kühleren Raumes: das Experimentierlabor. Auf dem Boden haben Künstler:innen aus echter Grab-Erde, Moos und weiteren Bestandteilen eine erwachsenengroße Liegestätte geschaffen. „Abends, im Kerzenschein, hat das natürlich noch eine andere Wirkung“, ergänzt sie. Einige Menschen hätten sich bereits hineingelegt.
Unsere Gesellschaft war schon mal so weit, zu sagen: Memento mori. Das ist heute weg, sollte aber wiederbelebt werden. Die Einstellung: ‘Ich lebe mein Leben, und dann ist gut’, die hatten wir jetzt lange
Charlotte Wiedemann
Und dies nur ein Format von vielen, um Tabus um Tod und Endlichkeit herauszufordern: „Unsere Gesellschaft war schon mal so weit, zu sagen: Memento mori. Das ist heute weg, sollte aber wiederbelebt werden. Die Einstellung: ‘Ich lebe mein Leben, und dann ist gut’, die hatten wir jetzt lange. Und wohin hat sie uns geführt? Meine Erfahrung ist, dass die Auseinandersetzung mit Sterblichkeit eine radikale Ehrlichkeit in uns hervorbringt. Es kommt eine Sensibilität für eigene Grenzen auf, Grenzen anderer, planetare Grenzen, Endlichkeit der Menschheit an sich.”
Der Tod hilft, das Wesentliche zu sehen
Wer bereit sei, sich dieser Erfahrungsdimension zu stellen, so Wiedemann, könne mit dem ahorn space unterschiedliche Wege einschlagen und Zugänge finden: „Zum Beispiel lade ich ein, zu fragen: Wenn du noch ein Jahr, einen Monat, einen Tag zu leben hättest, was tust du? Wer soll bei dir sein? An welchem Ort? Wo auf keinen Fall? Welche Mahlzeit wäre schön? Es geht ganz schnell und wir sind beim Wesentlichen, bei uns selbst.“
Zur Sommerzeit bot Wiedemann Endlichkeitsmeditationen auf Musikfestivals an. Darin lenke man den Blick auf die Zerfallsprozesse des eigenen Körpers, stelle sich gar vor, wie dieser eines Tages verwesen und in der Natur aufgehen werde. „Wir waren 50 Leute”, erinnert sie sich, „und, ja, einige haben danach geweint. Aber nicht aus Deprimiertheit, sondern weil auch Erinnerungen an Verstorbene hochkamen. Das Feedback war: Solche Räume für Endlichkeit gibt es kaum. Aber wir wollen sie.”
Junge Menschen interessieren sich für einen Beruf in der Branche
Viele junge Menschen sind bereits am Hermannplatz vorbeigekommen – auch, weil sie an einer Laufbahn interessiert sind. Wiedemann versteht das so: In der Krisenhaftigkeit der Welt ist die Vorstellung, mit der eigenen Arbeit Sinn und Zuversicht zu stiften, äußert attraktiv. Auch an Social-Media lässt sich das Interesse ablesen. “Der Tod und wir” wird schon länger von der Ahorngruppe betrieben und zählt auf TikTok knapp eine Viertel-Million Follower. Der Content besteht fast ausschließlich aus der Beantwortung von Community-Fragen. Wiedemann erklärt dort zum Beispiel, dass man den Körper eines verstorbenen Menschen deutlich länger zuhause behalten darf, als die meisten wissen. Dafür seien nur wenige Dinge zu beachten (etwa Unterlagen und Kühlung) – Kein hastiges Entfernen der Leiche, sondern achtsames Abschiednehmen.
Lange ist der “ahorn Space” noch nicht eröffnet, Wiedemann hat aber schon viele unterschiedliche Menschen begrüßt: Junge Menschen Mitte 20, dann Pflegende, Ältere, Eltern, auch Einsame. Wiedemann erinnert sich an eine ältere Dame: „Angehörige gab es bei ihr nicht mehr. Sie hatte sich schon länger gefragt, was einmal mit ihr werden soll, wenn es so weit ist. Später hat sie mir einen selbstgebackenen Kuchen vorbeigebracht.”
Virtuelle Gedenkräume, als Avatar trauern: gibt es längst
Wie mit dem Tod umzugehen ist, welche gesellschaftliche Rolle er spielt und wie man ihn begehen will – Fragen, so Charlotte Wiedemann, die für viele Menschen relevanter werden. Ihr entgeht nicht, dass bereits digitale, virtuelle Lösungen in Gedenk- und Bestattung-Kontexten erprobt werden. Auch ein deutsches Unternehmen bietet virtuelle Erinnerungsräume an, die gestaltet und mit Avataren erkundet werden können. Charlotte Wiedemann bleibt zurückhaltend, doch offen: “Mir persönlich ist Berührung, Geborgenheit, Wärme wichtig. Das sehe ich dort bisher nicht. Zentral wird sein, wirklich neue Formen zu finden, die die digitalen Möglichkeiten ausreizen, statt Bekanntes zu reproduzieren. Aber eine Kerze online anzünden? Dann lieber nicht”.
Der ahorn Space fängt gerade erst an
Die neue Adresse am Hermannplatz fängt jedenfalls gerade erst an – weitere Formate kommen: “Trauer Hours” sollen Menschen in der Anonymität Berlins zusammenbringen, Filmscreenings und Ausstellungen sind geplant. Auf der ahorn-Website vernetzen sich Professionals und Künstler:innen mit ihren Angeboten deutschlandweit. Konventionelle Häuser, so vermutet Wiedemann, werden sich anpassen, werden Neues ausprobieren müssen. Sie ist überzeugt, dass es einen Platz gibt für den Endlichkeits-Blick in unserem Leben und versteht ihre Arbeit als Gegen-Pol zu anderen modernen Erscheinungen: „Longevity – mir fällt es schwer, mich auf sowas einzulassen. Die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit: das sortiert mein Leben.”
- ahorn Space Hermannplatz 8, Neukölln, Mo–Fr 10–15 Uhr, mehr Infos hier
Charlotte Wiedemann kann damit nichts anfangen, viele andere Menschen in Berlin schon: Longevity ist ein Hype-Thema. Es sind melancholische, besinnliche Orte: Besondere Friedhöfe in Berlin, die ihr besuchen solltet. Sie erzählen Stadtgeschichte: Berühmte Gräber in Berlin – zu Besuch bei Knef, Dietrich, Brecht. Auch als Ausflug geeignet: Radtour zu Berliner Friedhöfen entlang bedeutender Gräber.