Architektur

Was hat es mit dem Berliner Zimmer auf sich?

Bei Wohnungsbesichtigungen ist es euch sicher schon begegnet, vielleicht habt ihr selber eins: Das Berliner Zimmer ist ein weit verbreitetes, architektonisches Chamäleon und Herzstück vieler Berliner Altbauwohnungen. Für alle, denen es nicht sofort dämmert: So werden großzügige Räume bezeichnet, die das Vorderhaus mit dem Seitenflügel eines Gebäudes beziehungsweise den Seitenflügel mit dem Hinterhaus verbinden und nur über ein einziges Fenster zum Hof verfügen. Dementsprechend ist Licht Mangelware. Friedrich Engels sah im Berliner Zimmer eine „Herberge der Finsternis“, mittlerweile ist es aber auch bei Neubauten en vogue.

Berliner Zimmer im typischen Baugrundriss (rot). Skizze XII: Gustav Assmann, Grundrisse für städtische Wohngebäude. Mit Rücksicht auf die für Berlin geltende Bau-Ordnung, 1862

Die Entstehung des Berliner Zimmers

Das Berliner Zimmer hat seine Ursprünge bereits im 18. Jahrhundert. Mit der zunehmenden Verdichtung der Berliner Innenstadt wurden Grundstücke immer tiefer bebaut. Zunächst entstanden freistehende Seitenflügel, die nach und nach näher an das Vorderhaus heranrückten. Als Vorderhaus und Seitenflügel schließlich aufeinandertrafen, entstand an dieser Schnittstelle das Berliner Zimmer als Verbindungsglied zwischen den beiden Gebäudeteilen.

Je nach Hofumbauung lässt sich in die fünf C-, L-, O-,U- oder T-Typologie unterschieden, wobei die ersten vier vorrangig in Berlin zu finden sind.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Berliner Zimmer zu einem festen Bestandteil des „typischen“ Berliner Mietshausgrundrisses. Maßgeblich verantwortlich dafür war die Veröffentlichung des Buches „Grundrisse für städtische Wohngebäude. Mit Rücksicht auf die für Berlin geltende Bau-Ordnung“ von Gustav Assmann aus dem Jahre 1862. Denn nur etwa 5 Prozent aller Häuser in Berlin wurden damals von Architekt:innen entworfen, und das Musterbuch diente als Schablone für Baumeister:innen, die ohne architektonische Unterstützung planten und bauten.

Aber warum heißt es überhaupt Berliner Zimmer?

Berlin-typische O-Typologie des Mietshauses . Foto: Imago/Mika Volkmann

Warum Berliner Zimmer?

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Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Berliner Zimmer. Fällt euch etwas auf? Normalerweise tragen Zimmer Bezeichnungen, die seine Nutzung widerspiegeln. Nicht so beim Zimmer, dessen Name direkt auf die Herkunft hinweist, vergleichbar wie beim Berliner Porzellan und Berliner Blau. Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand der Begriff vermutlich um 1870, während er sich in der Fachterminologie erst später fest verankerte, da zuvor auch Begriffe wie Berliner Ecke oder Berliner Stube üblich gewesen waren.

Welche Funktion erfüllte das Zimmer ursprünglich?

Das Berliner Zimmer erfüllte je nach sozialem Kontext unterschiedliche Funktionen. In den bürgerlichen „Mietspalästen“ war es Teil des repräsentativen Bereichs der Wohnung und diente gleichzeitig als Durchgangszimmer. Der repräsentative Teil, gelegen im Vorderhaus, umfasste Räume wie den Salon, das Speisezimmer oder das Herrenzimmer – Bereiche, die für den Empfang von Gästen und die Darstellung des sozialen Status der Familie bestimmt waren. Die Berliner Ecke gehörte einerseits zu diesem repräsentativen Bereich, fungierte aber gleichzeitig als Durchgang zum privaten Schlafbereich. Ein langer Personalkorridor verlief brandwandseitig vom Dienstbotenteil bis in den repräsentativen Teil der Wohnung, vorbei am Berliner Zimmer, um die zwei Lebenskreise des Herrschens und Dienens strikt voneinander zu trennen.

Im Volksmund wurde der Personalkorridor auch Kegelbahn genannt – Fun Fact für alle, die noch Interior-Ideen für den langen, dunklen Schlauch gesucht haben.

In den einfacheren „Mietskasernen“ hingegen hatte die Berliner Ecke eine andere Funktion. Hier diente es häufig als abgeschlossene Wohneinheit oder als Ort der Küche für die Flurgemeinschaft. Diese Räume waren weniger repräsentativ und mehr auf die praktischen Bedürfnisse der Bewohner:innen ausgerichtet. Die Berliner Ecke war in diesen Kontexten selten ein reines Durchgangszimmer, sondern eher ein multifunktionaler Raum, der je nach Bedarf genutzt wurde.

Berliner Zimmer als BZ gekennzeichnet. Foto: Archi-de/gemeinfrei

Berliner Zimmer in Kopenhagen?

Im ausgehenden 19. Jahrhundert war Berlin als Provinzhauptstadt Preußens und Reichshauptstadt ein Zentrum architektonischer Innovation, dessen Einfluss weit über die Stadtgrenzen hinausreichte. Die in Berlin veröffentlichten Architekturzeitschriften prägten den Diskurs und stellten regelmäßig Mietshausprojekte vor, die in vielen deutschen Städten, insbesondere in den östlichen Provinzen, Nachahmung fanden. Der Typus der Berliner Mietskaserne, mit dem charakteristischen Berliner Grundriss, wurde in Städten wie Breslau, Görlitz, Posen und Stettin übernommen.

Interessanterweise fand die Bauweise auch in skandinavischen Metropolen wie Kopenhagen Anklang, wo die Wohnungsgrundrisse häufig dem Berliner Muster entsprachen. Während in Hamburg Bauweisen ohne Berliner Zimmer bevorzugt wurden, lassen sich wenn auch nur vereinzelt in Städten wie Hannover oder auch München der Berliner Grundriss samt Berliner Zimmer auffinden.

Um die Berliner Ecke zu vermeiden, gab es verschiedene architektonische Ansätze und Lösungen, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Eine Möglichkeit war die sogenannte Schlitzbauweise, die in Hamburg populär war. Diese Bauweise verzichtete auf das Berliner Zimmer, indem sie lange Korridore und eine weniger dichte Hinterhausbebauung einsetzte. In der Rheinprovinz, insbesondere in Städten wie Köln und Düsseldorf, wurde oft der Pariser Grundriss bevorzugt, bei dem das Haupttreppenhaus sowohl das Vorder- als auch das Seitenhaus erschloss und somit wortwörtlich an Stelle des Berliner Zimmers trat. In Süddeutschland, etwa in München und Stuttgart, war die Etagenhausbebauung ohne Seitenflügel verbreitet, was ebenfalls zur Vermeidung des Berliner Zimmers beitrug.

Auch in den Kaiserhöfen unter den Linden lassen sich Berliner Zimmer finden. Foto: Imago/chromorange

Friedrich Engels und das Berliner Zimmer

„diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft, & des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Dank schönstens!“

Friedrich Engels über das Berliner Zimmer

Friedrich Engels konnte dem Berliner Zimmer so gar nichts abgewinnen. 1893 schrieb er in einem Brief nach einem Besuch bei Wilhelm Liebknecht, einer der Gründerväter der SPD, in der Kantstraße: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit. Nach vorn hinaus gehen das Eßzimmer (die gute Stube, die nur bei großen Anlässen benutzt wird) und der Salon (noch vornehmer und noch seltener benutzt), die Schlafzimmer nach dem Hof.“ Engels war alles andere als begeistert von diesem Raumtypus und bezeichnete ihn als „diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft, & des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Dank schönstens!“

Bei der Beschreibung könnte man fast meinen, Engels hätte sich in einem Berliner Keller verirrt. Als lichtdurchflutet kann man sie kaum bezeichnen, und je nach Stockwerk sind Berliner Ecken auch schon mal ziemlich schummrig, aber ganz so unbewohnbar auch wieder nicht. Störender als das Zimmer selbst empfand Engels vermutlich die Bewohner:innen, die er als Berliner Philistertum betitelt. Für ihn war die Berliner Ecke auch Ausdruck der gesellschaftlichen Strukturen, die er anprangerte.

Friedrich Engels würde wohl vom Glauben an die Weltrevolution abfallen, wenn er wüsste, dass das Berliner Zimmer in den letzten Jahren besonders im hochpreisigen Segment des Eigentumswohnungsbaus an Beliebtheit gewonnen hat. Da Altbau-Etagenwohnungen mit Seitenflügeln immer seltener werden, werden sogar die gründerzeitlichen Grundrisse zunehmend neu interpretiert und in modernen Bauten integriert.

Berliner Zimmer: Herzstück der Wohnung

Berliner Zimmer: Esszimmer, Wohnzimmer und Musikzimmer in einem. Foto: tipBerlin Redaktion
Berliner Zimmer: Esszimmer, Wohnzimmer und Musikzimmer in einem. Foto: tipBerlin Redaktion

Anders als andere Räume, die klar definierte Funktionen wie Schlafen oder Essen haben, hüllt sich das Berliner Zimmer in eine geheimnisvolle Unbestimmtheit. Ob als gemütliche Bibliothek, Esszimmer und Küche oder multifunktionaler Wohnraum, die Berliner Ecke passt sich den Bedürfnissen und Lebensphasen ihrer Bewohner:innen an und ist ein faszinierendes Beispiel für die kreative Nutzung von Wohnraum, das auch in Zukunft seinen Platz in der Architektur behaupten wird – denn das einst oft ungeliebte Berliner Zimmer ist in vielen Wohnungen längst das Herzstück geworden.


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