Architektur

Stuck an Häuserfassaden in Berlin: Wo ist der Stuck geblieben?

Es ist kaum vorstellbar, dass im 20. Jahrhundert das Entfernen von Stuck an Häuserfassaden in Berlin eine gängige Praxis war. Der Grund: Man fand Stuck hässlich! Diese Ablehnung spiegelt sich in einer generellen Kritik am Stil der Gründerzeithäuser wider. Denn in vielerlei Hinsicht empfand man den nostalgischen Prunk des Historismus als verlogen. Es war aber auch schlicht einfacher und günstiger, den Stuck abzuschlagen, um der Stadt einen modernen Anstrich zu verpassen, ohne alles neu zu bauen. Eine skurrile Geschichte über den Wandel der Ästhetik.


Ein unrenovierter Altbau mit Stuck direkt neben einem renovierten und entstuckten Altbau. Entstuckte Häuser werden wegen ihrer kahlen Fassaden oft fälschlicherweise für Neubauten gehalten. Foto: Imago/Schöning

Stuck war nicht immer so beliebt

Wer in einem Altbau aus der Gründerzeit wohnt, wird von Neubau-Bewohner:innen meist um die mit Stuck reich verzierte Fassade und Zimmerdecken beneidet. In Inseraten auf Immobilienportalen werden die Ornamente daher gerne hervorgehoben, als Argument für die Wohnung.

Deshalb scheint es aus heutiger Perspektive umso unverständlicher, dass im letzten Jahrhundert Stuck verschrien war. Und das in einer Zeit, in der es, gerade vor dem zweiten Weltkrieg, viel mehr Häuser mit den Verzierungen gab als heute. Um das Stadtbild jedenfalls äußerlich der Epoche der architektonischen Moderne anzupassen, wurde zwischen 1920 und 1980 der Stuck von vielen Hausfassaden abgetragen. Das Entfernen von Stuck wurde zu einer gängigen Praxis, die in Berlin begann, da hier die wichtigsten Architekturzeitungen ansässig waren. Später fing man auch in anderen deutschen Städten an, die Fassaden ihrer Dekoration zu berauben.

Das Eckhaus blieb von der Entstuckung verschont, im Gegensatz zum Haus rechts daneben. Foto: Wikimedia/Gunnar Klack, CC BY-SA 4.0

Historismuskritik: Stuck ist hässlich

Der geistige Nährboden für die umfangreiche Entstuckung wurde durch die schon 1870 einsetzende Kritik an den Häusern aus der Gründerzeit geschaffen. Die Menschen hatten nicht mehr viel übrig für die Verzierungen. Stuck galt als hässlich und übertrieben. Vor allem unter Architekt:innen formte sich eine ausgeprägte Historismuskritik, also am Stil der Gründerzeithäuser. Der Historismus bedient sich typischerweise diversen Bauarten vergangenener Jahrhunderte und ahmt sie nach, wie die Romantik, Gotik oder Barock.

In den 1920er Jahren gab es zudem einen großen Bruch in der Stilgeschichte, es setzte die Architekturepoche des Neuen Bauens ein, die später in der klassischen Moderne mündete. Damit gab es eine Hinwendung zu einer Sachlichkeit mit schlichten, geradlinigen Formen, ohne jeglichen Schnickschnack. In logischer Folge verloren Häuser mit überbordendem Prunk, wie historistische Bauten, immer mehr an Ansehen. An den verschnörkelten Häusern wurde konkret bemängelt, dass die Ornamente des Stucks keinen Sinngehalt transportieren würden, da sie wahllos von historischen Vorbildern kopiert worden seien. Auch der damit einhergehende Anachronismus der Bauformen wurde kritisiert. Denn so gab es ein willkürliches Nebeneinander von Elementen verschiedener Epochen.

Der Historismus lügt

Man warf dem Historismus vor, die Realität in diverser Hinsicht zu verschleiern. Dabei wurde es mitunter als Lüge verstanden, dass eigentliche Mietshäuser eine Fassade haben, die vielmehr einer Palastarchitektur gleicht. Für einige bedeutete das, dass man sich für seinen Stand schämen würde, weil so die Funktion der Häuser verborgen würde. Ebenfalls wurde durch den Stuck die Konstruktionsweise an sich verdeckt. Die oft verwendeten Gipsstuck-Säulen tragen beispielsweise keine Last, sondern sind nur dekorativ, im Gegensatz zu ihrer originären Verwendung in der Antike. Die tatsächliche Bauweise ist somit von außen nicht mehr erkennbar. Doch in der modernen Architektur wollte man genau das sichtbar machen, was sich am deutlichsten später im Stahlskelettbau wiederspiegelte.

Historismuskritik hin oder her: Hätte man diesen datailreichen Stuck entfernt, wäre das ein großer Verlust gewesen. Foto: Imago/Schöning

Es wurde nicht nur kritisiert, dass die Funktion und die Konstruktion der Häuser verschleiert wurden, auch waren viele der Meinung, dass die historischen Fassaden die sozialen Verhältnisse verdecken würden. Schließlich stimmte die prachtvolle Außenansicht der Gebäude kein bisschen mit den tatsächlichen Lebensbedingungen in den Wohnungen überein, die zu der Zeit miserabel waren.

Stuck entfernen für ein modernes Stadtbild

Diese Kritik am Historismus, die zeitlich zur tatsächlichen Entstuckung etwas vorgelagert war, war dennoch nicht der alleinige Grund für das Entfernen des Stucks. Sie bildete aber den gedanklichen Hintergrund dafür und beförderte so die gesellschaftliche Akzeptanz für die Abtragung der Ornamente. Konkreter Anlass für die 1918 in Berlin einsetzende Entstuckung, waren die Träume aufstrebender Architekt:innen der Moderne wie Erich Mendelssohn und Bruno Taut, von Hochhäusern, großen Werbefassaden und Glaspalästen. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel konnten solch große Projekte aber nicht realisiert werden. So entfernte man dafür den Stuck der bestehenden Häuser, um ihnen einen modernen Anschein zu verpassen, ohne neu bauen zu müssen. Ironischerweise hat man damit genau das gemacht, was man am Historismus bemängelt hat. Mit dem Entfernen des Stucks wurden Neubauten vorgetäuscht, die es eigentlich gar nicht gab.

Entfernen von Stuck für Reklameflächen

Zwischen 1925 und 1929 gab es eine große Welle der Entstuckung, die aber nichts mehr mit einer theoretischen Reflexion der Architektur zu tun hatte. Angetrieben von der Notwendigkeit für große Reklameflächen, die man von vorbeifahrenden Autos und Straßenbahnen aus sehen sollte, wurde mehr und mehr Stuck entfernt, um für große Plakate Platz zu schaffen. Auch im Nationalsozialismus wurde die Praxis der Entdekorierung unter dem Namen der „Entschandelung“ fortgeführt und auf weitere Städte wie Danzig, Stralsund und Lübeck übertragen. Die Nazis entstuckten im Gegensatz zu davor ganze Straßenzüge, um ein einheitliches Stadtbild zu kreieren. Im geteilten Deutschland nahm das Abtragen der Ornamente noch immer kein Ende. Im Westen wollten die privaten Hauseigentümer:innen auf diese Weise der um sich greifenden Kahlschlagsanierung entgehen. Ohne Stuck wirkten die Häuser moderner und waren weniger gefährdet, abgerissen zu werden. Im Osten wollte man sich mit dem Entfernen des Stucks die Kosten für Neubauten sparen. Bedingt durch die schwache Wirtschaftskraft war das der einfachere Weg der Stadt einen modernen Anstrich zu verpassen.

War das Entfernen von Stuck ein Fehler?

Heute ziert das Haus in der Bülowstraße ein farbenfroher Anstrich, statt schörkeliger Stuck. Foto: Imago/Schöning

In den 60er Jahren gab es langsam ein Umdenken, wodurch der Historismus neu bewertet wurde. Damit formte sich auch Kritik am Entfernen des Stucks. Die Anerkennung für die Architektur des 19. Jahrhunderts wuchs wieder, was von einer aufkeimenden Skepsis gegenüber den Nachkriegsbauten begleitet wurde. Infolgedessen gab es punktuelle Erhaltungsmaßnahmen für mit Stuck verzierte Gebäude, da auch die Denkmalpflege die Gründerzeithäuser mehr und mehr wertschätzte.

Seitdem wird mit den entstuckten Häusern ganz unterschiedlich umgegangen. Einige werden im Sinne des Originalzustandes rekonstruiert, andere wurden mit gesellschaftskritischen Wandgemälden bemalt und wieder andere werden in ihrem entstuckten Zustand belassen. So sieht man, wie stark die Architektur dem jeweiligen Zeitgeist unterworfen ist und davon die Bewertung der Baukunst maßgeblich abhängt. Heutzutage gleicht das Entfernen von Stuck für die meisten wohl eher einer Todsünde.


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