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Badekultur in Berlin und Umland: Ein Sittengemälde der Gegenwart

So viel Badeglück gibt es nirgendwo sonst im deutschen Binnenland: Berlin und Brandenburg bilden die wasserreichste Region der Republik. Freibäder erweitern die Freizeitlandschaft. Dort sind anthropologische Konstanten sichtbar, ob der menschliche Drang, Landschaften zu verändern oder die Neigung, Menschen mit anderen Hintergründen misstrauisch zu begegnen. Was man über dieses Faszinosum im Sommer wissen muss – und inwiefern die Bassins auch eine politische Dimension verströmen. Eine Spurensuche in der Lausitz, dem Neuköllner Columbiabad und an anderen Tiegeln.

Die Krumme Lanke im gediegenen Westen Berlins: Hier laben sich besonders Familien am kühlen Wasser. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Am besten fährt man ins ehemals größte Braunkohlerevier der Welt, um das Momentum dieser Wasserregion zu erleben. Schnurstracks über die B96 in südlicher Richtung, jene Bundesstraße, die eine Fluchtroute für Berlinerinnen und Berliner darstellt in die Mark und schließlich in die Lausitz. Dort, an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen, weitet sich ein 800-Hektar-Gewässer, dessen Formation dem einstigen Bergbau abgerungen worden ist: der Großräschener See.

Das Wasser ist königsblau, und der Uferstreifen atmet das Flair einer Marina irgendwo an der Küste – mit Seebrücke, einem kleinen Hafen und Badestrand, knapp einen Kilometer lang. Eine Infrastruktur wie ein unbetretenes Filmset. Sie ist erst in jüngerer Zeit entstanden.

Thomas Zenker, der örtliche Bürgermeister, ein SPD-Mann, will in diesem Sommer das Schwimmvergnügen freigeben – auch wenn Toiletten oder ein Stand für Bademeister:innen noch fehlen. „Auf eigene Gefahr“ soll der Sprung in dieses Becken erlaubt sein.

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Baden in Berlin und Brandenburg: Wanne vom Reißbrett

Früher haben Bagger in der Grube fossile Rohstoffe abgetragen; bereits 2007 ist der Krater von Transformationsweltmeistern der „Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft“ (LMBV) geflutet worden – wie in anderen Jahren übrigens weitere Gruben in der Lausitz. Wegen starker Niederschläge in den vergangenen Jahren ist die Zeitfolge am Großräschener See, dieser Wanne vom Reißbrett, beschleunigt worden: Der Pegel hat schon jetzt jenen Stand erreicht, der für den Badebetrieb nötig ist. Ursprünglich sollte erst 2026 Premiere sein.

Das menschengemachte Gewässer zeigt die Vielfalt an Seen und anderen Bademöglichkeiten in Berlin und Umland. 

Mehr als 3.000 Seen verteilen sich auf die Flächen von Berlin und Brandenburg, der wasserreichsten Gegend in der Republik. Darunter sind alte Bekannte, die noch aus der Ur- und Frühgeschichte stammen, von Ahrensdorfer See bis Zootzensee. Aber eben auch Grabungen in der Erdoberfläche infolge des menschlichen Raubbaus an der Natur, man könnte sie auch lapidar „Baggerseen“ nennen. Hinzu kommen die Beckengevierte mit Chlorwasser von nebenan: Freibäder, vor allem populär in der Großstadt.

Ganz schön viel Riviera, um sich in den heißen Monaten abzukühlen. Die Gewässer stillen viele Bedürfnisse. Sie sind Regenerationsorte für jene, die im Sommer weder in den Balearen noch in Bali faulenzen. Ihre Mythen bieten Inspirationen für Stoffe im Film („Hai-Alarm am Müggelsee“ von Leander Haussmann), in Romanen („Pfaueninsel“ von Thomas Hettche) oder in der Popmusik („Der Schatz im Plötzensee“, ein 2022 erschienenes Konzeptalbum des Rappers Falko Luniak).

Sie künden auch, wie im Lausitzer Seenland, von geologischen Umwälzungen im Anthropozän. Sie sind außerdem Projektionsflächen für gesellschaftliche Debatten. Im vergangenen Sommer steigerte Randale im Neuköllner Columbiabad mediale Reichweiten im Sommerloch. Kai Wegner, CDU, der Regierende Bürgermeister, nutzte den Spin für eine Selbstinszenierung als oberster Sheriff.

Jemand, der sich speziell mit Seen auskennt, ist Sebastian Hoppe. Täglich beobachtet der 42-Jährige, ein Ingenieur und Biotechnologe, im Landesamt für Gesundheit und Soziales die ökologische Entwicklung der 39 Binnengewässer in Berlin. Mit seinem Team kanalisiert er Erkenntnisse des Landeslabors Berlin-Brandenburg, einer Behörde der Messgeräte und Mikroskope, in handfeste Infos fürs Badepublikum. In diesem Ampelsystem, das die Zielgruppe online abruft, steht das Licht fast überall auf Grün, jedenfalls Mitte Juni. „Zum Baden geeignet“, lautet der Befund. An Badestellen von der Unterhavel bis zum Weißen See. Nur in Schmöckwitz, an dem Refugium am Zeuthener See, ist die Lage für Badende misslich. Die Ampel leuchtet gelb, vom Sprung ins Nass wird abgeraten. Das Hindernis: Die Sichtweite ist wegen Algen gering. Trübe Suppe also. Ein Risiko, falls Rettungsschwimmer:innen eine ertrinkende Person bergen müssten.

Die Wasserrutsche im Sommerbad Pankow punktet mit spektakulären Serpentinen. Foto: Imago/Olaf Wagner

Alles in allem attestiert Sebastian Hoppe den Gewässern jedoch eine „sehr gute Badequalität“. Natürliche Gewässer hätten eine gewisse Selbstreinigungsfähigkeit, lässt der Fachmann wissen. Das größte Malheur der vergangenen Jahre: ein Badeverbot am Tegeler See im Juni 2021, für etwas mehr als zehn Tage. Blaualgen hatten sich weitflächig im Wasser verbreitet. Deren Pflanzenteile können Toxine absondern. Mehrere Hunde waren gestorben.

Immer wieder erreichen E-Mails und Anrufe die Lageso-Abteilung des Sebastian Hoppe. Ein Naturphänomen als Spiegel der Befindlichkeiten einer Stadtgesellschaft. Da fühlt sich eine Person von Wasserpflanzen gestört. Jemand anders ärgert sich über inflationären Müll. Und eine Abiturientin will in der Schule ein Referat über die Krumme Lanke halten.

Badekultur: Die Folgen der Mischwasserkanalisation

Die Binnengewässer in Berlin sind zudem den Triebkräften des Klimawandels ausgeliefert – beispielsweise wegen Wetterextremen. Ein typisches Szenario: Wenn es stark und lange regnet, laufen Rohre und andere Behältnisse im Untergrund über. Eine Folge der Mischwasserkanalisation. Die dreckige Brühe ergießt sich dann in Spree und Unterhavel. Eine technische Hilfe: An der Unterhavel ist an fünf Stellen ein Frühwarnsystem entwickelt worden. Fachleute leiten dabei aus Parametern wie Fließgeschwindigkeit oder Regenmenge fundierte Prognosen ab, ob heftige Verschmutzungen zu erwarten sind. Wer Ströme und Schnellen untersucht, begibt sich in eine Auseinandersetzung mit Naturgewalten.

Wie aber steht es um den Stellenwert von Kraulen, Sonnencreme und Pommes in gesellschaftspolitischen Fragen?

Resonanzräume für hitzige Diskussionen bilden vor allem die Freibäder in Berlin. Immer wieder im Gerede ist dabei das Bad am Columbiadamm in Neukölln. Also das Sommerbad in jenem Multikulti-Viertel, das CDU- und AfD-Wähler außerhalb des S-Bahnrings fürchten. Wegen so genannter „Clan-Kriminalität“ und Parallelgesellschaften.

In der Tat: Im Columbiabad war es im Sommer 2023 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Badegästen und Mitarbeitern gekommen. Ebenso traurig: So hoch war der Krankenstand wegen der psychischen Belastung, dass das Bad für eine Woche geschlossen werden musste. Die allgemeine Lage war energiegeladen. Großaufgebote der Polizei, alarmistische Schlagzeilen, Lokalpolitiker im Law-and-Order-Modus. Am Ende kulminierte das Schauspiel in einer nationalen Debatte.

Danach mussten Besucherinnen und Besucher an den Eingängen des Columbiabads ihre Personalausweise vorzeigen – wie auch an anderen Freibädern in Berlin. Die Pforten von Freizeitstätten als Checkpoints wie in einem Krisengebiet.

Baden in Berlin und Brandenburg: Die Debatte ums Columbiabad in Neukölln

Ein Anruf bei Claudia Blankennagel, die eine Pressefrau bei den Berliner Bäderbetrieben ist. Ein Die-Hard-Job, zumal Reporterinnen und Reporter ziemlich ausdauernd am Sachsendamm 61 in Schöneberg anrufen. Das Landesunternehmen betreibt insgesamt 26 Freibäder und vier Kombibäder in der Hauptstadt. Auch jenseits des Columbiabads gab es im vergangenen Sommer vereinzelt Stress, etwa im Kreuzberger Prinzenbad.

Doch wie viel Ärger machen diese Anlagen wirklich?

Claudia Blankennagel sagt: „Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden.“ Sie konstatiert: „Ich würde mir mehr Präzision in der Debatte wünschen – auch wenn natürlich jede Straftat eine zu viel ist.“ 

Die Zahlen relativieren die Aufregung. 1,5 Millionen Badegäste besuchten die Freibäder der Berliner Bäderbetriebe (BBB) in der vergangenen Saison. Dabei sprachen die Hausherren und – damen gerade einmal 163 Hausverbote aus.

Zu 310 Straftaten ist es gekommen, das geht aus einer Grünen-Anfrage im Abgeordnetenhaus hervor. Vor allem Diebstähle und Sachbeschädigungen (223), aber auch 87 Körperverletzungen und andere Gewaltvorfälle. Gesetzesverstöße, die bedauerlich sind. Doch den Untergang des Abendlands belegen diese Statistiken keineswegs – erst recht, wenn man das bigger picture betrachtet.

Der Werbellinsee während der blauen Stunde: eine himmlische Erfahrung. Foto: Imago/Panthermedia

Freibäder in Metropolen sorgen manchmal für Reibung. Dort drängen sich unter sengender Sonne die Menschenmassen, dicht an dicht. Erholungssuchende aus allen Milieus, Wohnlagen und Altersgruppen. In diese Pulks mischen sich zudem Jungshorden, die pubertieren. Sie befinden sich in einer Lebensphase, in der die Grenzen zwischen Schabernack und Delinquenz fließend sind.

Ein Schwenk auf eine Brauchtumsveranstaltung im bajuwarischen Raum, die sakrosankt ist: Beim vergangenen Oktoberfest in München ist ein ganz anderes Kaliber von physischer Gewalt zum Vorschein gekommen. 1.093 Straftaten sind verbucht worden. Darunter 268 Körperverletzungen, 73 Sexualdelikte, sechs Vergewaltigungen – sowie 26 Angriffe auf Polizeibeamte. In den Talkshows sind politische Beobachter stumm geblieben.

Badekultur: Die Mehrheitsgesellschaft setzt auf Abschottung

So erzählt das Gezeter um die Freibäder von rassistischen Doppelstandards. Freigelegt wird das kollektive Unbewusste in Zeiten einer Migrationspolitik, die auf Abschottung setzt. Claudia Blankennagel von den Bäderbetrieben macht auch die Erregungsspiralen in Sozialen Medien mitverantwortlich.

In diesem Sommer müssen Besucherinnen und Besucher übrigens an den Kassenhäuschen wieder ihre Persos hervorkramen. Ebenso wühlen Security-Leute in Rucksäcken. Doch dieses Sicherheitsregime gibt ein verzerrtes Bild ab. Freibäder sind vor allem urdemokratische Begegnungsorte. Die common grounds einer Gesellschaft, die sonst in Grüppchen zerfällt. Dasselbe gilt für die Badestellen an Seen in Berlin und Umgebung.

Die Gepflogenheiten an diesen Wasser-Oasen beeinflussen sich manchmal wechselseitig. Da ist etwa das FKK-Baden, eine Gewohnheit, die vor allem zu DDR-Zeiten verbreitet war, auch in den Vorgärten der damaligen Hauptstadt des SED-Staats, namentlich an den Ufern der Binnengewässer in Spreewald, Uckermark & Co. Eine Erinnerung an dieses Laissez-faire materialisiert sich zwischen den Betonkulissen des heutigen Berlins, wo in den Kachellandschaften der Bäderbetriebe der Oben-Ohne-Look bei Frauen längst stilprägend ist. 2023 ist dieses Erscheinungsbild im Rahmen der Hausordnung erlaubt worden.


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Ein Geheimtipp in Suburbia: Das Sommerbad Gropiusstadt im Süden des Bezirks Neuköllns ist besser als sein Ruf. Schon immer haben sich die Menschen aus Berlin im Wasser übrigens auf unbekümmerte Weise ausgetobt, wie sich auch anhand von historischen Bildmaterial zeigt. Fast vergessen dürfte dabei die Plansche im Schillerpark sein. Hier gehen wir am liebsten schwimmen: Das sind die schönsten Badeseen von Berlin. Immer einen Besuch wert: In diesen schönen Strandbädern in Berlin verbringen wir gern unseren Sommer. Wen ihr dort immer trefft: Diese Strandbad-Charaktere. Raus aus der Stadt: Wir empfehlen euch diese Seen in Brandenburg. Einfach im Sand liegen: Die besten Strände in Brandenburg und Berlin. Und wenn nach einem langen Tag an der Sonne der Hunger kommt: Diese Restaurants am Wasser in Berlin bieten euch gutes Essen und schöne Aussichten. Vielleicht reichen euch aber auch die Pommes in diesen schönen Freibädern in Berlin. Lieben wir: Diese schönen Orte am Wasser.

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